Читать книгу Religion fällt nicht vom Himmel - Andreas Goetze - Страница 59
Spirituelle Dichtkunst
ОглавлениеBesonderes Ansehen genossen auch die arabischen Dichter jener Zeit109. Ihren hohen sozialen Status hatten sie aufgrund der Hochschätzung der Dichtkunst überhaupt. Die Kunst des Erzählens, die Dichterwettstreite, die Themen, die sie aufnahmen: Ihre Dichtkunst konnte schon mit dem Göttlichen in Verbindung gesehen werden110. Sie versuchten, das Unaussagbare in ihrer speziellen Form der poetischen Sprache auszusagen111 und verstanden die Poesie als „verborgene Stimme des Ungesehenen“. Insofern galten auch die Dichter als geistbegabte Menschen. „Im alten Arabien (und zu ergänzen ist: im Großraum Syrien) war die Vorstellung weit verbreitet, das gebundene Sprechen des Dichters erfolge unter dem Zwang, den eine fremde Gewalt ihm antue“112, sie seien beseelt von einer höheren Macht.
Die Anschauung war weit verbreitet, dass das Leben stets als ein „Geschenk der Götter“ zu verstehen sei und dass die Seele durch einen Geist gut oder dämonisch bestimmt werde113. Der Dichter galt als jemand, der dafür ein Ohr hatte, die Dinge beim Namen nennen zu können; ein Offenbarer von dem, was gehört, aber nicht gesehen werden konnte114. Er half, das Leben richtig einzuordnen. Ihre Bedeutung unterstreicht die große Bedeutung der „gehörten Überlieferung“ im arabischen Raum! Diese arabische Dichtkunst hatte im Rahmen der arabischen Stammestradition ihre Blüte, waren doch die Dichter eng mit dem sozialen Leben sowie den Kultpraktiken ihres jeweiligen Stammes verbunden115. Je stärker der Stamm war, desto bedeutungsvoller war auch der Poet mit seiner Dichtkunst116.
Dabei war der Kontakt mit dem „Überirdischen“ bzw. „Göttlichen“ alles andere als leicht zu nehmen. Die Dichter galten vielfach als „Besessene“, die sich einem Dämon fügen mussten117. Diese Deutung zeigt die Ambivalenz der Erfahrung mit dem Leben und mit den Dichtern. Welche Mächte sind bestimmend? Welcher Geist wirkt in den als geistbegabt angesehenen Menschen? Man erinnere sich an die Frage der jüdischen Schriftgelehrten an Jesus, mit welchem Geist, mit welcher Vollmacht Jesus handeln würde (Mt. 21,23). Die Ambivalenz der Mächte und das Ringen um gelingendes Leben spiegelte sich im Schicksal des Dichters und der „Heiligen Männer“ wider und damit verbunden die Zukunft des ganzen Stammes.
Diese frühe arabische Dichtkunst dürfte Teil eines die Grenzen überschreitenden, vielfach ausdifferenzierten religiösen und sozio-kulturellen Systems gewesen sein118. Ihre Verbreitung in all den verschiedenen arabischen Dialekten und ihr Einfluss in der Zeit des 4.–7. Jahrhunderts wird unterschiedlich bewertet, in der Regel jedoch unterschätzt119. Es lässt sich ein langer Prozess der Überlieferung in mündlicher Tradition („gehörte Überlieferung“) annehmen120. Aus diesem Grund spricht nach dem heutigen Forschungsstand einiges dafür, dass die arabische Dichtkunst ein wichtiges Medium öffentlicher Rede im 6./7. Jahrhundert gewesen ist.
Leider gibt es keine zeitgenössischen Aufzeichnungen oder Funde von „Erinnerungstexten“ (einer schriftlichen Form in Defektivschrift, die zur Unterstützung der Rezitation benutzt wurde) aus dem 6./7. Jahrhundert, die noch weitere Rückschlüsse erlauben121. Auch wenn die überlieferten Texte aus Sammlungen aus dem 9./10. Jahrhundert stammen, lassen sich darin nach Hoyland, Dmitriev und anderen Forschern kulturelle, politische und religiöse Ideen aus der vorislamischen Zeit erkennen122. Die Dichter verbanden dichterische Poesie oft auch mit eigenen ironischen Überlegungen gegenüber den Missständen in ihrer Region durch Herrscher oder durch gesellschaftliche Entwicklungen. Ihre Dichtkunst kann – bei allen historischen Vorbehalten – als ein Zeugnis des kulturellen Milieus ihrer Zeit angesehen werden123.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die „Heiligen Männer“ sowie die Dichter waren die geistbegabten Mittler in einem komplexen Lebensmilieu und sicherten je auf ihre Weise die Kontinuität und Stabilität der Gesellschaft. Wenn sie sich nicht als Asketen außerhalb der Städte zurückzogen, waren sie an und um die Heiligtümer zu finden. In diese vorhandenen „Gefäße“ konnte der jüdische wie christliche Inhalt ohne weiteres eingefüllt werden124.