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Zwischen „Volksfrömmigkeit“ und „Heiligem-Mann-Kult“
ОглавлениеIm „arabischen Milieu“ wie im allgemeinen damaligen Lebensgefühl hatte ein magisches Denken einen starken Einfluss. Viele Menschen waren unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit davon geprägt. Dieser Einfluss war nicht durch die Lehre, sondern durch ihre Frömmigkeitspraxis spürbar. Denn obwohl Judentum wie Christentum (und später der Islam) ein magisches Glaubensverständnis ablehnten und bekämpften, wirkten bestimmte Denk- und Verhaltensweisen im konkreten Leben nach (im Folgenden wird dieses Phänomen „Volksfrömmigkeit“ genannt). Zu dieser „Volksfrömmigkeit“ gehörte die Überzeugung, dass das Leben entscheidend nicht durch die sichtbaren, sondern durch die unsichtbaren Dinge bestimmt werde, und zwar durch gute oder böse Geister bzw. den guten bzw. bösen Geist. Den guten Geist galt es, auf seiner Seite zu haben, den bösen Geist dagegen zu bändigen. Besondere Verehrung wurde daher sogenannten „Heiligen Männern“ zuteil, in deren „Geistes-Gegenwart“ man sich Bewahrung, Heilung und Schutz versprach. Das Pilgerwesen hatte dementsprechend eine große Bedeutung. Man pilgerte zu aktuellen Heiligen ebenso wie zu schon verstorbenen Heiligen, an deren Gräbern man Heiligtümer errichtete. Wollte ein Herrscher seine Herrschaft als rechtmäßig legitimieren, musste er sich als ein „Schutzgewährer“ mindestens eines dieser bedeutenden Heiligtümer erweisen95.
Bis zum 3./4. Jahrhundert waren aller Wahrscheinlichkeit nach die meisten Einwohner der arabischen Halbinsel Polytheisten96. In einem polytheistischen Milieu repräsentierten die Götter bzw. die Götternamen die Mächte, die für das Leben wichtig waren: Regen, Fruchtbarkeit, Gesundheit, Liebe, Tod etc. Um diese Gottheiten wohlzustimmen, brachte man gewöhnlich ein Geschenk zu einem der Heiligtümer. Diese verschiedenen Aspekte des Lebens verbunden mit einer übernatürlichen Macht zeigen, wie sich in der Gestaltung der menschlichen Gemeinschaft der spirituelle Hintergrund spiegelt.
Für die „Volksfrömmigkeit“ und deren Frömmigkeitspraxis kommt im Rahmen einer historisch-kritischen Annäherung an die Zeit des 4.–9. Jahrhunderts dem spirituellen Verständnis des Geistes (Gottes) eine besondere Bedeutung zu. Die Rolle des Geistes (Gottes) und geistbegabter Männer im Großraum Syrien gehörte zum religiös-kulturellen Erbe der Region. Die damit verbundenen Glaubensvorstellungen haben daher Bedeutung für die Entwicklung des Christentums. Im weiteren Verlauf wird deutlich werden, dass ein sich veränderndes Geistverständnis auch zu einer bedeutsamen Veränderung des religiösen Selbstverständnisses führen wird. Und: Eine andere Auswahl aus den Möglichkeiten religiöser Ausdrucksformen wird dabei zur Entwicklung einer „neuen arabischen Religion“ führen, die wir bis heute als Islam kennen.
Um zu verstehen, was geistbegabte Männer in jener Zeit waren, ist ein Blick auf die Wurzeln des nach Trimingham sogenannten „Heiligen-Mann-Kultes“ 97 im spätantiken religiösen Denken wichtig. Aufgrund wechselnder politischer Herrschaften ist es nachvollziehbar, dass viele arabische Stämme versuchten, ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Als (Halb-) Nomaden waren sie dafür mobil genug. Sie waren im gewissen Sinne neutral und hatten ihre eigenen Interessen im Blick98. Loyalität zur eigenen Sippe hatte im Stammesdenken99 eine hohe Bedeutung. In einer Stammesgesellschaft war nun der Geist, der als Macht wahrgenommen wurde, der Garant dieser Gemeinschaft. Er war der Träger der heiligen Ordnung des jeweiligen Stammes und wurde durch einen „Heiligen Mann“ repräsentiert. Ihm wurde geglaubt, dass er mit der überweltlichen Macht in Verbindung stand. Diese Rolle hatte der „Heilige Mann“ unabhängig des Ortes, an dem er lebte. Zwei Elemente waren von wesentlicher Bedeutung: seine Ungebundenheit und Freiheit und sein asketisches Leben. Der „Heilige Mann“ wurde als geistbegabter Repräsentant der göttlichen Macht gesehen, der die Nöte der Gesellschaft in Verbindung mit den religiösen Mythen stellte und so den Weg aufzeigte für ein soziales und religiöses Handeln in der Gesellschaft100.
Daran konnte das Judentum wie das Christentum ohne weiteres anknüpfen. Schon im Alten Testament ist der Geist (hebr. „ruach“) welt- und geschichtsbezogen101 und wird grundsätzlich irdisch-konkret verstanden. Dieser Geist gilt als eine effektive Wirkmacht des Himmels bzw. Gottes auf der Erde. Erkennbar ist diese Wirkmacht durch mit dem Geist begabte bzw. ausgestattete Menschen. Dazu zählen die Propheten, Männer wie Gideon oder Frauen wie Hanna. Auf diesem Hintergrund konnte Jesus selbst als solch ein mit dem Geist Gottes ausgestatteter „Heiliger Mann“ verstanden werden. Im christlichen Kontext konnten in der weiteren Abfolge die besonderen Nachfolger Jesu mit ihrer asketischen Lebensweise als „Heilige Männer“ gesehen und ohne weiteres als Repräsentanten Christi auf Erden gedeutet werden („ganz vom Geist Gottes bekleidet“).