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IV. Europäische Grundrechte

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Fälle 9, 10, 17 und 20; Streinz Rn. 748 ff.

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Das zweite wichtige Themenfeld für Pflichtfachstudierende bilden die Grundrechte des europäischen Unionsrechts. Sie wurden ursprünglich entwickelt, um im Kompetenzstreit des Europäischen Gerichtshofs mit einigen Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten eine Lösung zu finden. Es ging darum, Grundrechtsverbürgungen zu schaffen, an die auch die Unionsorgane gebunden sind. Mittlerweile werden die Grundrechte auch in anderen Konstellationen relevant, etwa wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht vollziehen, oder als Korrektiv bzw. Schranke bei der Anwendung der Grundfreiheiten.

Beispiele:

Grundrechtswidrigkeit von Verordnungen, Autobahn-Blockade (dazu Fall 9), Bananenmarktordnung (dazu Fall 10).

Durch den Vertrag von Lissabon wurden die Unionsgrundrechte auf eine neue Grundlage gestellt[14]. Gemäß Art. 6 I EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Grundrechte-Charta der Union (GRC)[15] an. Diese Charta und die Verträge (EUV und AEUV, s. Art. 1 III EUV) sind nunmehr rechtlich gleichrangig (vgl. Art. 6 I Hs. 2 EUV). Außerdem ordnet Art. 6 II 1 EUV den Beitritt der EU zur EMRK an[16]. Und nach Art. 6 III EUV sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, Teil des Unionsrechts.

Die EMRK aus dem Jahr 1950 ist die wichtigste Konvention im Rahmen des 1949 gegründeten Europarats, dem derzeit 47 Mitglieder angehören, darunter alle Mitgliedstaaten der EU. In Deutschland ist sie am 3.9.1953 in Kraft getreten und hat dort den Rang eines (einfachen) Gesetzes[17]. Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Art. 19 ff. EMRK) mit Sitz in Straßburg verfügt sie über ein eigenes Gericht. Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und der Verbindlichkeit der GRC hat der EuGH die EMRK schon seit den 1970er Jahren als wichtige Rechtserkenntnisquelle für den Grundrechtsschutz im damaligen Gemeinschaftsrecht herangezogen, da ab 1974 alle EG- bzw. EU-Mitgliedstaaten zugleich auch Mitglieder der EMRK waren (siehe dazu sogleich unten)[18]. Wichtige Impulse der EMRK für das deutsche Rechte gaben z.B. die nach Caroline von Monaco benannte sog. „Caroline-Rspr.“ zum Recht am eigenen Bild bzw. zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) und die Entscheidungen zur strafrechtlichen (nachträglichen) Sicherungsverwahrung (Art. 5 und 7 EMRK)[19]. Zudem ist das Streikverbot für deutsche Beamte vor dem Hintergrund des Art. 11 EMRK in Frage gestellt, vom BVerfG aber bestätigt worden[20].

Wie die verschiedenen Verbürgungen aus Art. 6 EUV zueinander stehen, ist noch nicht abschließend geklärt (siehe aber Art. 52 GRC)[21]. Bei der Anwendung der Grundrechte aus der GRC, EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen kann als Faustformel gelten, dass Schutzbereich, Eingriffe und Rechtfertigung nach ähnlichen Maßstäben gehandhabt werden wie im nationalen Recht[22]. Es bestehen indes auch Unterschiede, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden können.

Bis zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages ergab sich hinsichtlich der europäischen Grundrechte noch ein ganz anderes Bild, das für das Verständnis älterer Entscheidungen wenigstens grob skizziert werden soll. Zwar hatte der EuGH schon früh die Notwendigkeit eines europäischen Grundrechtsschutzes erkannt. So stellte er bereits 1970 in der Rechtssache „Internationale Handelsgesellschaft“ fest[23]: „Die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Die Gewährleistung dieser Rechte muss zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muss sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen.“. Die Grundrechte des Unionsrechts waren allerdings nicht kodifiziert, die GRC war nicht verbindlich. Der EMRK durfte die EU nicht beitreten, da dies vor der Einfügung des heutigen Art. 59 II EMRK durch das am 1.6.2010 in Kraft getretene Protokoll Nr. 14 zur EMRK nur Mitgliedern des Europarats, also Staaten, vorbehalten war[24]. Somit bestand das Problem, den Inhalt und die Schranken der europäischen Grundrechte zu ermitteln. Um der Bindung der EG an den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit Genüge zu tun, sah sich der EuGH gehalten, Gemeinschaftsgrundrechte im Wege der Rechtsfortbildung als allgemeine Rechtsgrundsätze des Primärrechts zu entwickeln[25]. Im Laufe der Zeit hat er für nahezu alle Lebensbereiche Grundrechtsverbürgungen statuiert, die denen des Grundgesetzes vergleichbar sind[26]. Auf der Grundlage dieser Rspr. ordnete der Vertrag von Maastricht über die Europäische Union vom 7.2.1992 in Art. 6 II an, dass die Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK herzuleiten sind. Im Ergebnis entstand auf diese Weise ein Grundrechtskanon, der dem des Grundgesetzes ähnlich ist[27].

Die Verbindlichkeit der GRC führt dazu, dass sie seit 2009 auch in der Rspr. des EuGH eine zunehmende Rolle spielt. Dies gilt z.B. für den Datenschutz nach Art. 7 und 8 GRC[28], aber auch für den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 47 GRC[29] oder die Frage der Drittwirkung von Art. 27 GRC im Arbeitsrecht[30]. Zudem wirft die Anwendung der GRC insbes. hinsichtlich der Reichweite der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach Art. 51 I GRC neue Fragen auf[31]. Hier könnten zukünftig wieder verstärkt Konflikte zwischen dem EuGH und dem BVerfG hinsichtlich der Grundrechtskontrolle von nationalen Maßnahmen auftreten, die durch die Solange-Rspr. zumindest für die Praxis geklärt schienen.

Unklar ist gegenwärtig auch, ob und zu welchen Bedingungen die EU der EMRK beitritt bzw. überhaupt beitreten kann. Mit seinem gem. Art. 218 XI AEUV erstatteten Gutachten kam der EuGH zu dem Schluss, dass das geplante Beitrittsabkommen[32] nicht mit Art. 6 II EUV und dem Protokoll (Nr. 8) zu Art. 6 II EUV vereinbar ist[33].

Auf absehbare Zeit ist der Beitritt der EU zur EMRK und damit die Erfüllung der Verpflichtung aus Art. 6 II EUV blockiert[34].

Bei der Anwendung der europäischen Grundrechte kann als Beobachtung festgehalten werden, dass der EuGH dazu neigt, Maßnahmen der Unionsorgane an milderen Maßstäben zu messen als mitgliedstaatliche Maßnahmen. Das ist zwar vor dem Hintergrund der integrationspolitischen Zielsetzung verständlich, mit Blick auf die dogmatische Konsistenz und Akzeptanz des Unionsrechts langfristig aber nicht hinnehmbar[35].

Eine mit den europäischen Grundrechten zusammenhängende Frage betrifft die Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes auf Fälle mit Unionsrechtsbezug. Diese Frage ist seit Jahrzehnten stark umstritten und wird sogleich unter V. 3./Rn. 15 behandelt.

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