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1.6 Exkurs: Rolle der Selbstvertreterinnen*
ОглавлениеDabei sollte ein wesentliches Prinzip in der Erarbeitung rechtlicher Grundlagen und politischer Entscheidungen im Sinne der Selbstbetroffenheit und -bestimmung und politischer Partizipation der Einbezug von Selbstvertreterinnen* sein. Dies ist jedoch längst nicht gängige Praxis, und die Zusammenarbeit gestaltet sich teilweise noch schwierig. Diese Schwierigkeiten können auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden, wie einstellungsbezogene Vorbehalte oder die Barrieren in der Darstellung bestimmter politischer Sachverhalte, die es Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung erschweren, sich politisch zu positionieren. So sei beispielsweise die Mitwirkung von Interessensverteterinnen* im Rahmen der Verhandlungen um den Rahmenvertrag des BTHG in Schleswig-Holstein »[…] für alle Beteiligten neu und damit ungewohnt« (Hase in Miles-Paul 2019, o. S.). Zudem sei »das Thema kompliziert. Menschen mit Behinderung müssen lernen, sich dazu politisch zu positionieren« (ebd.). Und »die Vertragspartner respektieren Menschen mit Behinderung noch nicht als Experten in eigener Sache und beziehen sie aktiv in Entscheidungsprozesse ein« (ebd.). Diese Herausforderungen und Barrieren für die politische Partizipation von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung bzw. ihrer Selbstvertretungsorganisationen führen dazu, dass wesentliche Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen werden. Und kommt es doch zur partizipativen Einbindung, so besteht zumindest die Gefahr, dass der Beteiligung von Selbstvertreterinnen* in einigen Fällen eine bloße Alibifunktion innewohnt und die Wirksamkeit der Entscheidungsmacht auf der Strecke bleibt. Es ist zu beachten, dass auch Selbstvertretungsgruppen keinesfalls die Positionen aller Menschen mit Behinderung wiederspiegeln, und Homann & Bruhn (2020) weisen darauf in, dass auch diese Organisationen dazu beitragen können, Stereotype zu festigen und diese so unter Umständen in wesentliche rechtliche und politisch relevante Entscheidungsprozesse einfließen bzw. deren Legitimationsgrundlage bilden37. Nichts desto trotz sollte Partizipation ein Grundprinzip politischer Arbeit sein, zumal vor allem Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im deutschsprachigen Raum bisher selten in beruflichen Feldern als politische Akteurinnen* und Entscheidungsträgerinnen* arbeiten. Das führt dazu, dass das Leben und die Perspektiven von Menschen mit Behinderungserfahrungen in der politischen Arbeit nach wie vor wenig selbstverständlich sind. Die Konsequenzen dieser andauernden Unsichtbarkeit werden auch in der Zeit der Corona-Pandemie deutlich, in der »Menschen mit Behinderung vergessen [werden, d.A.]« (EU-Schwerbehinderung 2020). Darauf deutet auch ein Beispiel aus Sachsen hin: Im Zuge der Corona-Krise und der damit verbundenen Maßnahmen der Schließungen von Schulen, Kindertageseinrichtungen und vielen Arbeitsstätten titelt die Leipziger Volkszeitung: »Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, wurden Kitas und Schulen geschlossen. Doch 1500 Menschen mit Behinderungen, die in geschützten Werkstätten in Leipzig arbeiten und als besonders gefährdet gelten, sind bislang durchs Raster gefallen. Sie arbeiten weiter, als gäbe es Corona nicht« (Leipziger Volkszeitung am 18.03.2020). Im Artikel wird darauf verwiesen, dass durch die Bedingungen in den Werkstätten bis hin zu den täglichen Anfahrten in den Kleinbussen der Fahrdienste adäquate Schutzmaßnahmen kaum möglich sind, die Arbeiterinnen* jedoch zum großen Teil einer sogenannten Risikogruppe angehören. Die vergleichsweise lange und riskante Aufrechterhaltung des Werkstattbetriebes kann ein Zeichen dafür sein, dass »sowohl die Menschen mit Behinderungen als auch die Betriebe sträflich im Stich gelassen werden« (Pellmann in: MDR-Sachsen am 20.03.2020). Sie kann aber auch zumindest teilweise eine Reaktion auf die drohenden Belastungssituationen in den Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung sein, in denen viele der Werkstattangestellten* wohnen. Die Belastung liegt dabei sowohl auf Seiten der Mitarbeiterinnen* als auch auf Seiten der Bewohnerinnen*, die nun mit einer verschärften Exklusion konfrontiert sind. Vielerorts dürfen sie aufgrund ihres (vermeintlichen) Risikostatus die Einrichtungen nicht verlassen.
So zeigen sich zusammenfassend sowohl die Missstände des Systems als auch die aktuelle rechtliche und politische Entwicklung im Inklusionsdiskurs und die Haltbarkeit und Relevanz rechtlicher Rahmenbedingungen vor allem in dieser durch den Corona-Virus ausgelösten Krisenzeit. Unter anderem im Diskurs um das Triage-System ( Kap. I, 2.2) deutet sich an, wie bedeutsam wesentliche rechtliche Grundsteine, flankiert durch die Verfassung und die Menschenrechte, wortwörtlich für das Leben von Menschen mit Behinderungen sind und ob und wenn ja welche Priorität den wegweisenden Inhalten der UN-BRK zugestanden wird (vgl. BODYS 2020).
Fazit: Der skizzierte fragmentarische Streifzug durch die verschiedenen historischen Epochen bis hin zu Entwicklungen der Gegenwart hat zum Ziel, eine »Orientierung des menschlichen Handelns (und Leidens) in der Zeit« (Baumgärtner 2015, 37; Hervorhebung i. O.) zu verdeutlichen und eine »Sinnbestimmung über Zeiterfahrung« (ebd.) sowie eine »kritische Sinnbildung« (ebd., 39) über die Zeiteinordnung zu ermöglichen.
Neben historischen, sind auch ethische Fragen und Diskurse leitend für das Selbstverständnis einer Pädagogik der Verbesonderung. Daher möchten wir im Folgenden in ausgewählte ethische Diskussionen eintauchen und der Frage nachgehen, welche Relevanzsetzungen hieraus jeweils für den Personenkreis von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung und das Verständnis pädagogischen Handeln erwachsen.
31 Der Arzt P. Nitsche (1876–1948) hatte bereits Anfang 1940 das sog. Luminalschema entwickelt, das er in Leipzig-Dösen erprobte. Er behandelte unterernährte Patienten mit leichten, systematisch zu gebenden Luminaldosen (ebd., 395).
32 Später und heute: Verband Sonderpädagogik (VDS)
33 In den ersten Selbstvertretungsbewegungen und -organisationen blieben Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung nahezu unberücksichtigt. Erst in den 1990er Jahren gründete sich in Anlehnung an die Entwicklungen in den USA auch in Deutschland die erste People-First Gruppe und wurde zum Teil eines Selbstvertretungsnetzwerks von und für den Personenkreis (vgl. Hauser 2020).
34 Einen Überblick über den Stand der Entwicklungen schulischer Inklusion in den einzelnen Bundesländern gibt Lange, V. (2017): Inklusive Bildung in Deutschland. Ländervergleich. Online verfügbar unter: https://www.fes.de/gute-gesellschaft-soziale-demokratie-2017plus/gute-arbeit-und-sozialer-fortschritt/projekte/inklusive-bildung-im-laendervergleich/ (25.03.2020).
35 Länder-Bund-Arbeitsgruppe
36 Deutscher Behindertenrat
37 So wird bspw. die Kampagne »behindern.verhindern« des sächsischen Sozialministeriums, die u. a. in Zusammenarbeit mit dem Sächsischen Landesbeirat für die Belange von Menschen mit Behinderung (SLB) entstanden ist, vielfach von Menschen mit Behinderungserfahrungen kritisiert und als stigmatisierend und stereotypisierend abgelehnt.