Читать книгу Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung - Anne Goldbach - Страница 39

Menschenwürde und Gerechtigkeit

Оглавление

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt« (Art. 1 Abs. 1 GG).

Der Begriff der Menschenwürde ist ein sowohl rechtlich als auch ethisch höchst relevanter Begriff, welcher jedoch in seiner Konkretheit häufig unscharf bleibt. So hat er in seiner Entwicklung unterschiedliche Bedeutungen eingenommen (vgl. Huber 2000; Goldbach 2014; Schaber 2011). Die ursprüngliche Kopplung von Würde an Ämter und Herkunft wurde später kritisiert und mit Blick auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen dem menschlichen Sein insgesamt zugesprochen (vgl. Schardien 2004). Erst der moderne Menschenwürdebegriff versteht sich als ein zu erhebender Anspruch auf die Achtung dieser Würde, die nicht verletzt werden darf. Damit erfolgt die Definition von Menschenwürde zumeist aus der Perspektive ihrer möglichen Verletzung. Unter anderem Dederich fasst eine Vielzahl an Würdeverletzungspotentialen insofern zusammen, als dass er sagt, dass Menschen oder Gruppen in Folge von Gewalterfahrungen unterschiedlichster Art auf ethisch nicht hinnehmbare Weise Schaden nehmen können (vgl. Klauß 2019; Dederich 2019). Im Kontext bioethischer Auseinandersetzungen wird auf die Verletzung der Würde durch eine Verzwecklichung des Menschen hingewiesen, womit auf eine Formulierung aus Kants Ethik zurückgegriffen wird (vgl. Martini 2006). Im Grundgesetz gilt die Menschenwürde als Fundament aller weiteren Grundrechte. Jedoch bleibt sowohl eine inhärente Definition des Menschenwürdebegriffes als auch die Frage danach, wem Würde zuzusprechen ist, vage und wird vor dem Hintergrund verschiedener Grundannahmen unterschiedlich diskutiert (vgl. Schaber 2011; Dreier 2005). Während manche Autorinnen* Menschenwürde allen allein deshalb zuschreiben, weil sie Menschen sind (vgl. Dederich 2019; Schaber 2011), knüpfen andere das Zusprechen von Menschenwürde an die Voraussetzung der Erfüllung unterschiedlicher personaler Kriterien (siehe vorangegangener Abschnitt).

Inwiefern jedoch das Konstrukt der Menschenwürde in Verbindung mit Gerechtigkeit zu verstehen ist, kann anhand des Menschenwürdebegriff Dreiers verdeutlicht werden: Dreier konstatiert für den heutigen Menschenwürdebegriff, dass dieser »[…] im Kern den gleichen Freiheits- und Rechtestatus aller Menschen und deren unveräußerlichen Achtungsanspruch gegenüber der staatlichen Gewalt verbürgt« (Dreier 2005, 168). Mit dieser Definition Dreiers kann an den Gerechtigkeitsbegriff Rawls angeschlossen werden, der in seinen Schriften zu Gerechtigkeit und Fairness ein Verständnis von Gerechtigkeit entwirft, welches in seinen Prinzipien darauf fußt, dass jedem Menschen die umfangreichsten gleichen Freiheitsrechte zukommen, die möglich sind, ohne den anderen einzuschränken. Ungleichheiten sind für Rawls prinzipiell willkürlich und nur dann zulässig, wenn sie jenen den meisten Vorteil verschaffen, die am wenigsten begünstigt sind (vgl. Rawls 1958). Es ist die Aufgabe des Staates, der Gesetzgebung sowie der Institutionen, gerecht zu sein. Dabei ist die Fokussierung von Gerechtigkeit auf ein mögliches Einklagen individueller Rechte erst in jüngerer Zeit entstanden (vgl. Sturma 2015). Gerechtigkeit wird demnach in diesem Sinne als ein faires Realisieren der Rechtsansprüche einer jeden Person verstanden. »Gerechtigkeit bezeichnet somit in der aktuellen Debatte die korrekte Anerkennung, den adäquaten Schutz und die stimmige Abwägung von individuellen Rechten durch gemeinschaftliche Institutionen« (Sturma 2015, 44). Und damit kann Gerechtigkeit in diesem Sinne als die rechtlich abgesicherte Gewährleistung von Menschenwürde verstanden werden.

Dennoch bleibt der Begriff der Gerechtigkeit in seiner Konkretheit ebenso unscharf wie der der Menschenwürde, und auch in Bezug auf seine tatsächliche Realisierbarkeit muss die Umsetzung kritisch hinterfragt werden, besonders vor dem Hintergrund der Lebenswirklichkeit von Menschen mit zugeschriebener Behinderung. Um im Kontext von Partizipations- und Anspruchsrechten für Menschen mit Behinderung einen gerechten Umgang zu ermöglichen, bedürfe es einer Gesellschaft, die nicht stigmatisiert und die Entwicklung nicht behindert, sondern im Gegenteil einer Gesellschaft, die diese Nachteile vollständig ausgleicht (vgl. Nussbaum 2010).

Nussbaum geht in dem von ihr weiterentwickelten Capability Approach von Amartya Sen davon aus, dass es eine Liste grundlegender Werte, bzw. Ansprüche aller gibt, die erfüllt sein müssen, um ein erfülltes Leben zu führen.

Tab. 2: Liste der Grundfähigkeiten nach Martha Nussbaum (vgl. Nussbaum 2007, 2015)



GrundbefähigungErklärung

Diesen Grundbefähigungen liegt die Idee der Menschenwürde zugrunde. Eine gerechte Gesellschaft müsste die Realisierung dieser Werte für alle Menschen ermöglichen (vgl. Nussbaum 2010). Dabei ist für Nussbaum offensichtlich, dass es für Menschen mit Behinderung einer besonderen Fürsorge anderer Menschen bedarf, um ein würdevolles Leben führen zu können (vgl. Nussbaum 2010).

Conradi hingegen will einen Care-Ansatz entwickeln, der genau nicht auf den gesellschaftlich fundierten Gerechtigkeitsprinzipien fußt (vgl. Conradi 2001, o. S.). Sie kritisiert den permanenten Bezug auf die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls und Kant, der die Aspekte der Autonomie, Reziprozität und Gleichheit für zentral bedeutsam erachtet und damit als Vater des Gerechtigkeitsprinzips gilt. Conradi kritisiert die Prinzipien Autonomie und Reziprozität (vgl. Conradi 2001, o. S.) und stellt diesen die Care-Praxis als eine Praxis der Achtsamkeit entgegen (vgl. Conradi 2001, o.S.), die im Folgenden genauer beschrieben wird.

Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung

Подняться наверх