Читать книгу Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung - Anne Goldbach - Страница 37
Bewusstsein als personales Kriterium und der Zuspruch von Menschenrechten und Menschenwürde
ОглавлениеWeshalb widmet sich dieser Abschnitt dem Verständnis des Personseins besonders vor dem Hintergrund des Bewusstseins?
Ein grundlegender Diskurs, auf den eine Reihe von bioethischen Auseinandersetzungen fußt, ist der über die Lebensrechte des beginnenden menschlichen Lebens. Ab welchem Zeitpunkt und unter welchen Voraussetzungen werden dem menschlichen Leben Schutz- und Abwehrrechte im Sinne der Menschenrechte und Menschenwürde zugestanden?
Der Personenbegriff ist deshalb so entscheidend, weil nur Personen Rechte und Pflichten im rechtlichen Sinne zugeordnet werden (vgl. Thieme 2003) und somit auch nur Personen Menschenrechte in Anspruch nehmen können.
Aufgrund dessen ist zu beleuchten, inwiefern das Bewusstsein ein tragbares Kriterium für Personalität im Sinne inklusiver Gesellschaftsstrukturen darstellen kann.
Die Diskussion um das Bewusstsein als personales Kriterium hat durch die Schriften und Vorträge Peter Singers einen enormen Aufschwung erfahren, wenngleich auch eine Vielzahl an anderen Autorinnen* Personsein an Bewusstsein knüpfen (vgl. Goldbach 2014; Dederich 2000).
Tab. 1: Zentrale Standpunkte zu Kernthemen der Biomedizin und Bioethik - Argumente von Vertreterinnen* der Bioethik, der Behindertenpädagogik und von Menschen mit zugeschriebener Behinderung
Ein kurzer Exkurs soll die Diskussion, die im Zusammenhang mit Peter Singers Buch »Praktische Ethik« entstand, erläutern: Peter Singer ist ein Vertreter des Präferenz-Utilitarismus, wonach alles Handeln nach seinen Konsequenzen zu beurteilen ist und eine Handlung dann als »gut« zu bewerten ist, wenn es einen Nutzen für die größtmögliche Gruppe hat (Präferenzkalkül). Dabei setzt Singer die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung aller Lebewesen voraus, weil er die Grenzziehung zwischen menschlichem und tierischem Leben als willkürlich erachtet (Speziezismuskritik) (vgl. Burns 2016; Dederich 2000).
Singer bezieht sich in seinen Ausführungen zur Person auf John Lockes Personenbegriff, der Personsein an Intelligenz, Vernunft und Reflexion über sich selbst gebunden sieht (vgl. Singer 2015). So kann Singer zufolge auch nichtmenschlichen Lebewesen das Personsein zugesprochen werden, wenn diese die Kriterien für Personalität erfüllen49. Im Umkehrschluss ist zu folgern, dass nicht alle Menschen zu allen Zeitpunkten ihres Lebens den moralischen Status einer Person haben50. Dies ist insofern von Bedeutung, weil auch für Singer der Personenstatus die Grundlage für die Zuerkennung von Schutzrechten ist und nichtpersonales Leben aus diesem Schutzstatus und aus dem Geltungsbereich seiner Ethik herausfallen (vgl. Quante & Schweikard 2011). Daraus schlussfolgert Singer auch, dass die Tötung von menschlichem, nichtpersonalem Leben in seiner Schwere nicht gleichzusetzen sei mit der Tötung selbstbewusster Lebewesen (vgl. Dederich 2000). Singer selbst sagt: »If it is in our power to prevent something very bad from happening, without thereby sacrificing anything else morally significant, we ought, morally to do it« (Singer 1972, 229). Für die moralische Bewertung von biomedizinischen Eingriffen zur Verhinderung von Leiden in Folge von Behinderung muss aus Singers Argumentation geschlussfolgert werden, dass auch die Tötung eines Fötus – welcher als schwerstbehindert bezeichnet wird – also eines nicht personalen Menschen im Sinne Singers – zu befürworten ist, wenn infolgedessen Leid verhindert werden kann.
Diese sehr drastischen Schlussfolgerungen aus den soweit schlüssigen ethischen Überlegungen Singers verdeutlichen, dass eine Kopplung des Personenbegriffs an Bedingungen wie Selbstbewusstsein, Vernunfts- und Entscheidungsfähigkeit sowie Sinn für Vergangenheit und Zukunft etc. vor dem Hintergrund einer inklusiven Gesellschaftsentwicklung höchst problematisch und nicht zielführend ist.
Spaemann möchte in Folge der ethischen Auseinandersetzungen Singers die Selbstverständlichkeit, dass alle Menschen gleichermaßen moralisch zu berücksichtigen sind (vgl. Jantschek 1998), am Personenbegriff neu diskutieren. Für ihn steht fest, dass allein das Kriterium der biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch als Kriterium für Personalität ausreicht (vgl. Spaemann 2006). Damit wendet sich Spaemann von einem empirischen, an messbaren Eigenschaften festgelegten, Personenbegriff ab. Er macht deutlich, dass die Anerkennung des Menschen als Person nur dann wirklich dem Menschen selbst und seinem menschlichen Kern gilt, wenn sie unabhängig von seinen Eigenschaften erteilt wird, da sich die Anerkennung andernfalls nur auf ihn mit seinen Eigenschaften bezieht, welche er unter Umständen eben auch verliert und somit nicht mehr anerkannt würde (vgl. Spaemann 1998, 2006).
Dederich, der auch Bezug auf Spaemann nimmt, hält fest, dass Personalität Wurzeln in der Leiblichkeit hat (vgl. Dederich 2000). Damit schließt er sich einem leibphänomenologischen Zugang zum Personenbegriff an (vgl. Dederich 2000). Als Gegenargument zum empirischen Personenverständnis argumentiert er, dass die gesamte Entwicklung des Menschen kontinuierlich verläuft und es keine Zäsuren gibt, die rechtfertigen würden, zu verschiedenen Zeitpunkten der Entwicklung verschiedene moralische Maßstäbe anzusetzen.
Bewusstsein bedeutet für Dederich, wie für andere Autoren (z. B. Salzberger 2008; Merleau-Ponty 1966), leiblich in der Welt zu sein, diese Welt mit dem Leib wahrzunehmen und sich bewusst zu machen. Neben der leibphänomenologischen Perspektive auf das Personsein verweist Dederich darauf, dass Personalität sich immer in Relationalität äußert (vgl. Dederich 2000). Der Mensch ist immer in Beziehung, von Anfang an sozial eingebunden und auf seine Umwelt bezogen.
»Ein solch relationaler Personenbegriff ist der Einsicht verpflichtet, daß der Mensch immer schon auf Andere bezogen ist. Personalität ist von hier aus gesehen eine basale Eigenschaft des Menschseins […] und wird nicht an bestimmte vorausgesetzte Eigenschaften […] geknüpft« (ebd., 151).
Der Mensch ist demnach immer ein Jemand, der mir und seiner Umwelt in menschlicher Gestalt begegnet, ein Jemand und kein Etwas und damit ein Jemand, über den nicht wie eine Sache verfügt werden kann.