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2.Grundtatbestand des § 221 Abs. 1

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146a) § 221 Abs. 1 Nr. 1. Den Tatbestand verwirklicht, wer einen anderen Menschen in eine hilflose Lage versetzt und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt.

147aa) Der Täter muss das Opfer in eine hilflose Lage versetzen. Eine hilflose Lage ist nach h. M. gegeben, wenn das Opfer bei zunächst zumindest abstrakter Gefahr außerstande ist, sich aus eigener Kraft oder mit Hilfe Dritter vor drohenden Lebens- oder schweren Gesundheitsgefahren zu schützen302. Es sind also auch Fälle zu erfassen, in denen das Opfer zum Zeitpunkt der Handlung selbst schon hilflos ist, jedoch hilfsfähige und hilfswillige schutzbereite Dritte noch Beistand leisten303.

Bsp.: Der verletzte O wird vom Retter R betreut. T kommt hinzu und schlägt den R bewusstlos. Nur deshalb gerät O in konkrete Lebensgefahr. – T macht sich nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 strafbar.

148bb) Typische Fälle der Nr. 1 sehen – im Gegensatz zu Nr. 2 – meist so aus, dass der Täter die hilflose Lage erst durch die Tat, d. h. das Versetzen, herbeiführt. Erfasst werden darüber hinaus aber auch Sachverhalte, in denen das bereits hilflose Opfer in eine neue, andere hilflose Lage versetzt wird304. Dann muss bei der weiteren Prüfung allerdings beachtet werden, dass die konkrete Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung gerade auf dem Versetzen in die neue hilflose Lage beruht bzw. eine bereits bestehende Gefahr dadurch nicht nur unwesentlich gesteigert wird305.

Bsp.:306 T findet den schwer betrunkenen O in einer eiskalten Nacht auf der Straße. Um O eine Lektion zu erteilen, verbringt er ihn mit seinem Wagen in einen Wald und setzt ihn dort aus; nur durch Zufall wird er dort von einem Jäger gefunden und gerettet. – O befand sich auf Grund seiner Trunkenheit zwar bereits in einer hilflosen Lage. T führte jedoch eine neue, andere hilflose Lage herbei, wodurch O einer gesteigerten drohenden Lebens- bzw. schweren Gesundheitsgefahr ausgesetzt wurde. T hat sich daher gem. § 221 Abs. 1 Nr. 1 strafbar gemacht.

149cc) Das tatbestandsmäßige Versetzen wird häufig in einem räumlichen Verbringen des Opfers an einen anderen Aufenthaltsort bestehen. Nach h. M. ist jedoch eine Ortsveränderung nicht erforderlich307. Daher können auch alle anderen aktiven Einwirkungen auf das Opfer – wie Täuschung, Drohung oder Gewalt –, die eine hilflose Lage herbeiführen, tatbestandsmäßig sein.

Bspe: T schlägt O bewusstlos, fesselt ihn oder flößt ihm Alkohol ein.

150dd) Obwohl das Versetzen in eine hilflose Lage grundsätzlich durch aktive Handlungen geschieht, kann § 221 Abs. 1 Nr. 1 auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Dies ist der Fall, wenn ein Garant nicht verhindert, dass das Opfer in eine hilflose Lage gerät und dadurch der Gefahrerfolg eintritt308.

Bsp. (1): Der Vater verhindert nicht, dass ein Dritter sein Kind in eine hilflose Lage versetzt.

Bsp. (2): Der Garant verhindert nicht, dass das Opfer sich betrinkt oder – weil es verwirrt ist – sich an einen abgelegenen Ort begibt (sog. Selbstaussetzung309).

151b) § 221 Abs. 1 Nr. 2. Nach Ansicht des BGH ist Nr. 2 nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ein Unterlassungsdelikt, weil nicht das Entfernen usw. entscheidend ist, sondern das Unterlassen der Hilfe310. Im Gegensatz zu Nr. 1 handelt es sich um ein Sonderdelikt. Täter kann nur sein, wer eine Garantenstellung besitzt („in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist“), die allgemeine Hilfspflicht aus § 323c genügt nicht311.

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§ 221 Abs. 1 Nr. 2 ist im Zusammenhang mit Unterlassungsdelikten von großer Bedeutung. Soweit zuvor bei der Prüfung eines unechten Unterlassungsdelikts bereits eine Garantenstellung verneint wurde, kann § 221 Abs. 1 Nr. 2 durch Verweis auf diese Ausführungen „zügig“ abgelehnt werden. Im Übrigen ist folgende Prüfungsreihenfolge zu empfehlen: Zunächst sollte das unechte Unterlassungsdelikt, z. B. eine Strafbarkeit nach §§ 212, 13, geprüft werden. Danach ist dann auf die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 einzugehen, wobei auf etwaige Ausführungen zur Garantenstellung bei §§ 212, 13 verwiesen werden kann. Schließlich sollte in einem letzten Schritt das echte Unterlassungsdelikt des § 323c angesprochen werden.

152aa) Nr. 2 setzt anders als Nr. 1 bereits das Bestehen einer hilflosen Lage312 zum Zeitpunkt des Im-Stich-Lassens voraus. Ein Im-Stich-Lassen liegt unabhängig davon vor, ob sich der Garant räumlich entfernt313.

153Bsp. 1: T verlässt den Unfallort, nachdem er den O mit seinem PKW bei einem Unfall schwer verletzt hat (Garantenstellung aus Ingerenz).

Bsp. 2: Die über den Nachtdienst verärgerte Krankenschwester betrinkt sich oder schläft in ihrem Raum und vernachlässigt dadurch Patient O, wodurch dieser in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung gerät.

154bb) Einbezogen sind letztlich auch Fälle, in denen das Im-Stich-Lassen noch nicht im räumlichen Entfernen vom Opfer gesehen werden kann, sondern der Täter seiner Beistandspflicht erst dadurch nicht nachkommt, dass er nicht mehr zum Opfer zurückkehrt314.

Bsp.: Die Eltern verlassen das Kleinkind O, um ins Kino zu gehen. Nach Ende der Vorstellung fassen sie spontan den Entschluss, nicht zurückzukehren, sondern über das Wochenende wegzufahren.

155c) Eintritt einer konkreten Gefahr. Gemeinsame tatbestandliche Voraussetzung für § 221 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ist ferner, dass der Täter die hilflose Person durch die Tathandlung einer konkreten Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt.

156aa) Eine konkrete Gefahr ist gegeben, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Situation für das geschützte Rechtsgut führt. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung muss – was auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person so stark beeinträchtigt werden, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob das Rechtsgut verletzt wird oder nicht315. Tritt eine konkrete Gefahr nicht ein, weil das Opfer anderweitig gerettet wird, dann bleibt der Täter nach Absatz 1 straffrei, weil es sich bei der Aussetzung um ein Vergehen handelt und die Strafbarkeit des Versuchs nicht ausdrücklich angeordnet ist.

Hinweis

Der Begriff der konkreten Gefahr wird in vielen zentralen Tatbeständen – §§ 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 225 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2, 239 Abs. 3 Nr. 2, 250 Abs. 1 Nr. 1c, Abs. 2 Nr. 3b, 306a Abs. 2, 306b Abs. 2 Nr. 1, 315 Abs. 1, 315a Abs. 1, 315b Abs. 1, 315c Abs. 1 – verwendet. Die hier genannte Definition gilt jeweils entsprechend.

157bb) Problematisch ist, was unter dem Begriff der schweren Gesundheitsschädigung zu verstehen ist. Unbestritten ist zunächst, dass höhere Anforderungen als bei einer (einfachen) Gesundheitsschädigung i. S. d. § 223 Abs. 1 Var. 2 zu stellen sind. In jedem Falle kann man darunter solche gesundheitlichen Folgen subsumieren, die entweder in § 226 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ausdrücklich genannt sind oder jedenfalls mit den dort genannten Gesundheitsschäden einen vergleichbaren Schweregehalt aufweisen. Aber auch die konkrete Gefahr einer Gesundheitsschädigung, die unterhalb der Schwelle des § 226 liegt, wird richtigerweise erfasst. Eine schwere Gesundheitsschädigung liegt daher auch dann vor, wenn das Opfer in eine ernste, langwierige Krankheit verfällt, eine dauernde oder langwierige schwerwiegende Beeinträchtigung der Gesundheit316, der Arbeitskraft oder anderer körperlicher Fähigkeiten oder eine nachhaltige Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Stabilität317 gegeben ist. Dabei ist auch die individuelle gesundheitliche Konstitution des Opfers zu berücksichtigen318. Dasselbe gilt für die persönlichen Verhältnisse des Opfers, die – wie etwa der Beruf – für das Vorliegen einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Arbeitskraft maßgeblich sein können319.

158cc) Erforderlich ist ferner ein spezifischer Gefahrzusammenhang zwischen Tathandlung und Gefahrerfolg, d. h. der Eintritt der konkreten Gefahr muss gerade auf der der Tathandlung eigentümlichen Gefährlichkeit beruhen.

Bsp.:320 T nimmt dem betrunkenen O in einer eiskalten Winternacht seine Daunenjacke weg und setzt diesen am Straßenrand ab. Nur durch Zufall wird O von einem Passanten aufgefunden und vor dem Kältetod gerettet. – T macht sich nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 strafbar, da die Gefahr des Kältetodes die typische Gefahr der Tathandlung ist. Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn die Todesgefahr darauf beruht, dass O von Räuber R überfallen wird und durch Messerstiche schwer verletzt wird. Denn hier hat sich nicht die typische Gefahr der Aussetzung, sondern die allgemeine Gefahr, Opfer eines Raubüberfalls zu werden, verwirklicht.

159dd) Wichtig ist im Übrigen, dass man zwischen der hilflosen Lage einerseits und der konkreten Gefahr andererseits unterscheidet. Dies hat vor allem Bedeutung für Fälle der Nr. 2. Besteht auf Grund der hilflosen Lage, in der der Täter das Opfer im Stich lässt, bereits eine konkrete Gefahr, so kann Nr. 2 nur noch dann erfüllt sein, wenn entweder diese konkrete Gefahr gesteigert wird oder durch das Im-Stich-Lassen eine andere konkrete Gefahr eintritt321. Denn Voraussetzung für die Anwendung des Tatbestandes ist, dass sich die konkrete Gefahr gerade aus der hilflosen Lage entwickelt.

Bsp.: Der kranke O befindet sich in der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung. Krankenschwester T lässt ihn im Stich, wodurch sich der Zustand deutlich verschlechtert und er in die Gefahr des Todes gerät. Da sich die bereits bestehende Gefahr durch das Im-Stich-Lassen weiter steigert, ist der Tatbestand des § 221 Abs. 1 Nr. 2 verwirklicht.

160d) Subjektiver Tatbestand. Dieser setzt voraus, dass der Täter vorsätzlich, d. h. zumindest mit dolus eventualis handelt. Der Vorsatz muss sich dabei nicht nur auf die hilflose Lage und die Tathandlung („Versetzen“ oder „Im-Stich-Lassen“) beziehen, sondern sich auch auf den Eintritt des konkreten Gefahrerfolges erstrecken. Im Falle der Nr. 2 müssen auch diejenigen Tatumstände, die die Garantenstellung begründen, vom Vorsatz erfasst sein.

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