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Die Fragilität des Friedens
ОглавлениеWerte sind schließlich keine Ruhekissen, sondern Stacheln im Fleisch; so verhält es sich auch mit Frieden, der in Europa nicht vom erlittenen Frieden zum wohlgenährten Wohlstandsfrieden auf Kosten anderer werden darf. Gerade beim Frieden zeigt sich eine Grundherausforderung der Landschaft europäischer Werte, die Werte „ad intra“ und die Werte „ad exta“. Wie kann der Friede innerhalb Europas glaubwürdig sein, wenn er an den Grenzen gefährdet oder gar gebrochen ist? Wie kann die Rede vom friedlichen Nachkriegseuropa plausible sein, wenn sich Srebrenica mitten in Europa im Jahr 1995 ereignet hat? Damals wurden mehr als 8000 bosnische Muslime von christlichen Serben ermordet, ein Gewaltexzess mitten in Europa, die niederländische UN-Schutztruppe verhinderte das Massaker nicht.20 Das hatte massive Auswirkungen auf die Rolle der Staatengemeinschaft,21 zeigt aber auch, dass Friede ohne Religionsfrieden nicht nachhaltig sein kann. Ivo Andrićs geographisch relevanter Roman Die Brücke über die Drina mag als Illustration dieses Punktes dienen. Und das ist nur ein – allerdings tief erschütternder – Aspekt.
In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2009 sagte Claudio Magris mit Blick auf die Herausforderung der Migration: „Es ist leicht und auch angebracht, die Unmenschlichkeit derjenigen zu kritisieren, welche die Einwanderer zurückweisen. Aber es könnte der Moment kommen, in dem die Anzahl unserer Mitmenschen auf der Welt, die mit Recht ihren unerträglichen Lebensumständen entfliehen wollen, derart zunimmt, dass sie buchstäblich keinen Platz mehr finden und damit untragbare Konflikte auslösen, in unvorhersehbaren Formen, die ebenfalls ganz anders sind als das, was wir traditionsgemäß Krieg nennen.“22
Ist es tatsächlich so, dass Kultur, nach einem Wort Nietzsches, „nur ein dünnes Apfelhäutchen über dem glühenden Chaos“ ist? Frieden braucht Ordnung und Form, um eine Lebensform werden zu können, die so etwas wie „Geborgenheit“ und „Sicherheit“ erfahren lässt. Frieden kann in diesem Sinne als Rahmen gesehen werden, Welt so anzueignen, dass sie zu Heimat werden kann. Friede ist dann Erfahrung wie Gesinnung, Rahmenordnung wie Lebensform. Ohne Friede kann man kein gutes Leben führen; Edward und Robert Skidelsky haben „Sicherheit“ als ein Basisgut definiert, als eine elementare Zutat für ein gutes Leben, als einen unverzichtbaren, in sich guten und universalen Baustein. Dabei haben sie „Sicherheit“ charakterisiert als die Perspektive, weitgehend ungestört leben zu können, ohne Angst vor Gewalt oder plötzlichen massiven Änderungen wie hoher Inflation oder Deflation.23 Friede ist Quelle für das Basisgut der Sicherheit, das wiederum entscheidend für das Gemeinwohl ist, es geht alle an – diese Erinnerung findet sich bei Papst Johannes XXIII, wenn er in seiner Enzyklika Pacem in Terris von 1963 die Bedeutung des Friedens für alle unterstreicht und an eine leider verhallte Mahnung von 1939 erinnert: „Endlich ist der Friede von höchstem Wert für alle: für die einzelnen Menschen, für den häuslichen Herd, für die Völker und schließlich für die gesamte Menschheitsfamilie. Diesbezüglich hallt in Unseren Ohren noch die mahnende Stimme Unseres Vorgängers Pius XII. nach: „Nichts ist mit dem Frieden verloren. Aber alles kann mit dem Krieg verloren sein“ (Pius XII., Rundfunkbotschaft vom 24.8.1939).“24
Alles kann mit dem Krieg verloren sein; Friede ist in diesem Sinne nicht ein Wert unter anderen, sondern ein Ermöglichungswert, sozusagen ein transzendentales Gut. Dieses Gut, das andere Güter erst möglich macht, ist Teil einer Lebensform. Friede kann nicht nur durch Verträge gesichert werden, wie auch immer wichtig Verträge sind. Verträge sind auf Vertrauen angewiesen, um überhaupt als Verträge anerkannt zu werden. Ähnlich wie Vertrauen in eine „Praxis des Vertrauens“ eingebettet ist25, so ist Frieden einzubetten in eine Kultur der Friedfertigkeit – Friedfertigkeit wiederum kann verstanden werden als eine Einstellung, als eine Ressource zweiter Ordnung, mit Verwundbarkeit in sozialen Situationen umgehen zu können. Diese Charakterisierung von Friedfertigkeit ist Lennard Nordenfelts Definition von Gesundheit als „as second order-capability“ nachempfunden.26 Friedfertigkeit ist eine Ressource zweiter Ordnung, die Ressourcen erster Ordnung koordiniert und gewichtet, also Ressourcen wie Erinnerungen, Emotionen, Erfahrungen, Überzeugungen. Friedfertigkeit ist eine Einstellung, die Wahrnehmung und Erfahrung prägt; damit wird Friede zu einer Lebensform, zu einer Art zu leben. Diese Art zu leben setzt die Anerkennung von Verwundbarkeit voraus.
Wir brauchen Arbeit am Frieden, weil Menschen verwundbar sind. Die Geschichte Europas, vor allem aber auch das 20. Jahrhundert, hat an diese Verwundbarkeit erinnert, die auch eine moralische Verwundbarkeit ist. Friede als europäischer Wert ist Auftrag zur Arbeit, Grund zur Demut ob des Geschehenen und Begründung von Dankbarkeit für die Erfahrung von Frieden in der Nachkriegszeit.