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Zu den Beiträgen in diesem Band
ОглавлениеDer vorliegende Band geht dem Status von Frieden in Europa nach. Er steht unter dem Vorzeichen der Anerkennung von Verwundbarkeit: Frieden gilt ja als hohes, wenn nicht sogar höchstes Gut. Gleichzeitig sind Krieg und Gewalt omnipräsent. Das ist der Ausgangspunkt des Beitrags von Ines-Jacqueline Werkner, der den ersten Teil dieses Bandes zum Begriff und zur Ethik des Friedens eröffnet. Angesichts der aktuellen Krisen und Konflikte wie in der Ukraine, dem Bürgerkrieg in Syrien oder dem Vormarsch des Islamischen Staates stellt sie sich die Frage: Wie kann man dem Krieg entgegentreten und für Gerechtigkeit sorgen? Ist Frieden überhaupt möglich oder bleibt er eine Utopie? Mit dem Konzept des gerechten Friedens versuchen christliche Kirchen verschiedener Konfessionen – auf internationaler Ebene insbesondere der Ökumenische Rat der Kirchen, aber auch andere „faith-based“ NGOs sowie der Vatikan —, darauf eine Antwort zu geben. Dabei steht der gerechte Frieden „für einen fundamentalen Wandel in der ethischen Praxis“. Es gilt nicht mehr das Prinzip des „Si vis pacem para bellum“. An seine Stelle tritt nun die Maxime „Si vis pacem para pacem“. So unterscheidet sich der gerechte Frieden auch grundlegend von der Lehre des gerechten Krieges. Das steht, wie oben angedeutet, in Einklang mit Kants Überlegungen zum Frieden. Das neue Konzept umfasst weitaus mehr als den Schutz vor ungerechtem Einsatz von Gewalt; es schließt soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Sicherheit für alle Menschen mit ein. Dennoch bleibt die Frage nach der Anwendung von Waffengewalt auch für den gerechten Frieden von zentraler Bedeutung. Das zeigen u.a. aktuelle friedensethische Kontroversen um die internationale Schutzverantwortung: Wie wird die responsibility to protect im Rahmen des neuen friedensethischen Leitbildes reflektiert? Kann sie als Anhaltspunkt für eine Ethik des gerechten Friedens dienen oder ist eher zu konstatieren: „Menschen geschützt – gerechten Frieden verloren“? Welche Rolle kann in diesem Kontext der ökumenische Vorschlag eines just policing spielen?
Jean-Christophe Merle widmet sich in seinem Beitrag dem Verhältnis von Frieden und Gerechtigkeit. Heutzutage wird oft die Ansicht vertreten, dass Friede und Gerechtigkeit einander unterstützen, und zwar so sehr, dass nur die Kombination beider die Errichtung eines Weltfriedens und einer globalen Gerechtigkeit ermöglichen könnte, die unter gewissen Umständen für die Erfüllung der Voraussetzungen ihrer eigenen dauerhaften Stabilität sorgen würden. Seit Kant werden der Friede sowie die Gerechtigkeit als zweistufig gedacht. Auf der ersten Stufe, die den traditionellen Lehren des gerechten Krieges entspricht, besteht der Friede in der momentanen Konfliktlosigkeit, und die Gerechtigkeit besteht in der Einhaltung bestimmter Regeln. Auf der zweiten Stufe bestehen Friede und Gerechtigkeit in einer stabilen bzw. gerechten institutionellen Ordnung. Die traditionellen Lehren des gerechten Krieges können sich keine zweite Stufe vorstellen, weil es unter Staaten keinen gemeinsamen, globalen Richter geben könnte, der Urteile treffen und vollstrecken würde. Die kantische Perspektive sieht die institutionelle Errichtung eines ewigen gerechten Friedens ohne Übergang über gerechte Kriege und gerechte Frieden erster Stufe, sondern durch eine interne Republikanisierung der Staaten vor. Im heutigen System der internationalen Beziehungen sowie in der öffentlichen Debatte findet man beide Modelle: die genannte Perspektive eines ewigen Friedens (1) durch internationale Institutionen über kontinuierliche Fortschritte (einzelne Abkommen, Entwicklung von fairen Verhandlungsverfahren; zunehmende Absicht der Kriegsparteien, einen gleichgewichteten Frieden zu erreichen; von außen erstrebte Demokratisierung usw.) und (2) gemäß den Regeln der traditionellen Lehren des gerechten Krieges – u.a. gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – zu erreichen. Die zentrale Aufgabe bleibt, den gerechten Frieden stets zu schützen, zu fördern und gegebenenfalls wiederzuerlangen sowie auf die Förderung der friedfertigen Motive zu achten und die kriegslustigen Motive zu bekämpfen.
Der dritte Beitrag der ersten Sektion von Georg Cavaller greift ein Thema auf, das im Zeitalter der Aufklärung immerhin in Ansätzen bearbeitet wurde, mittlerweile aber kaum noch Beachtung findet: die Denkungsart. Cavaller geht der Rolle der Denkungsart bei manchen Philosophen des Zeitalters der Aufklärung nach, etwa bei Smith, Rousseau und vor allem bei Kant, der seiner Meinung nach dieses Themenfeld am klarsten formulierte und diskutierte. Er unterscheidet zwischen unreflektierter und reflektierter Aufklärung, die „Aufklärung über die Aufklärung“ betreibt, und zwischen einem systematischen Denken und dem herkömmlichen Systemdenken. Die verfolgte erweiterte Denkungsart des Friedens ist bei Kant der epistemologische oder kognitive Kosmopolitismus des sogenannten Weltbürgers, der versucht, den „Egoismus der Vernunft“ zu transzendieren und die Perspektive von anderen im Sinne von Adam Smiths „Impartial Spectator“ einzunehmen.
Die Beiträge der zweiten Sektion widmen sich dann Bemühungen um Frieden in der Europäischen Geschichte. Wie der Beitrag von Oliver Hidalgo zeigt, entwickelte sich die Idee eines friedlichen Europas historisch gesehen spiegelbildlich zum Thema des gerechten Krieges. Dessen paradoxes Ziel sollte eben die gewaltsame (Wieder-)Herstellung des Friedens sein. Die Ansätze, die Rousseau und Kant in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Frage nach Krieg und Frieden entwickelten, zeigen diesbezüglich, wie sich angesichts fortschreitender Demokratisierungsprozesse ein neues Denkparadigma der internationalen Beziehungen etablierte. Dieses vermochte für sich zu beanspruchen, die traditionelle Theorie des bellum iustum sowohl inhaltlich wie formal zu überwinden. Gleichzeitig entstanden dadurch allerdings neue Aporien wie das Verhältnis zwischen Frieden und Volkssouveränität, Recht und Moral, welche die Theoriebildung in der Friedens- und Konfliktforschung seitdem vor neue Herausforderungen stellen.
Ausgangspunkt des Beitrags von Christoph Kampmann ist der fundamentale Wandel des Begriffsverständnisses von Frieden im Verlauf der Frühen Neuzeit, also der Zeit zwischen dem ausgehenden 15. und dem frühen 19. Jahrhundert. Zum einen wurde die religiöse bzw. konfessionelle Eintracht nicht mehr als notwendiger Bestandteil des Friedens angesehen. Zum anderen wurde immer stärker zwischen dem inneren (bzw. innerstaatlichen) Frieden und dem äußeren Frieden unterschieden. Seit dem 18. Jahrhundert war eine deutliche Tendenz zu erkennen, den Begriff des Friedens für die inneren Verhältnisse eines Staates durch den Begriff der Sicherheit (securitas interna) zu ersetzen. Diese Veränderungen im Begriffsverständnis hängen eng mit der generellen Entwicklung der Friedensproblematik in der Frühen Neuzeit zusammen: Sie ist geprägt von einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen einer weiterhin anerkannten Friedensnorm, also der prinzipiellen, wenn auch nicht uneingeschränkt anerkannten Verpflichtung christlicher Herrschaftsträger zur Wahrung des Friedens untereinander, und einer von ständiger Präsenz des Krieges geprägten politischen Lebenswelt. Während das Problem des innerstaatlichen Friedens bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend gelöst wurde, misslangen alle Versuche zur Errichtung einer dauerhaften zwischenstaatlichen Friedensordnung, obwohl diese immer wieder in (politisch freilich zumeist wirkungslos gebliebenen) Friedensutopien beschworen wurde. Nachhaltiger war der Beitrag der Frühen Neuzeit zur Entwicklung diplomatischer Techniken zur Friedensstiftung, konkret also zur Einhegung und Begrenzung von kriegerischen Konflikten sowie zur Schaffung begrenzter Zonen von Sicherheit.
Der Beitrag von Gerd Althoff problematisiert schließlich zunächst das verbreitete Bild vom Mittelalter als einer besonders unfriedlichen Epoche, wie es sich in der Neuzeit ausgebildet hat. Ursache dieser Wertung sind der vorstaatliche Charakter der Ordnung und das Fehlen eines Gewaltmonopols im Mittelalter. Dennoch gab es verschiedene Institutionen, durch die unterschiedliche Gruppen friedliches Verhalten und wechselseitige Unterstützung etablierten. Neben dem von Obrigkeiten ‚gebotenen‘ Frieden stand der ‚gemachte‘ oder ‚gelobte‘ Frieden. Frieden vereinbarte und hielt man in erster Linie mit seinesgleichen. Doch selbst in diesem eigentlich befriedeten Bereich der Gesellschaft blieb die Gewohnheit, sein Recht mit Gewalt durchzusetzen, wenn es verletzt wurde. Dies führte zu zahlreichen Konflikten (Fehden), in denen die Akteure regelmäßig die Unterstützung ihrer Umgebung erhielten.
Die Beiträge der dritten Sektion dieses Bandes sind um die Fragestellung einer Politik des Friedens gruppiert. Der Beitrag von Regina Heller fragt nach der Relevanz der politischen Norm Frieden in der russischen Außenpolitik, insbesondere angesichts der aktuellen Kontroversen zwischen Russland und dem Westen im Ukraine-Konflikt. Die EU ist im Wesentlichen einem liberalen Weltbild verhaftet, das davon ausgeht, dass Frieden das Ergebnis von demokratischer Herrschaftsordnung im Inneren und zunehmender Verflechtung zwischen gleichberechtigten Staaten nach außen ist. Russland lehnt eine solche liberale Friedensordnung ab, da sie den im Land historisch-kulturell gewachsenen Vorstellungen, aber auch den aktuellen Interessenlagen der politischen Elite in Moskau widerspricht. Die in Russland historisch gewachsene Vorstellung von Frieden hat keine liberale Unterfütterung und bleibt dadurch stark rückgekoppelt an die Produktion von Sicherheit. Indem die politischen Eliten an diesen antiliberalen Vorstellungen festhalten, legitimieren und konsolidieren sie ihre zunehmend instabile Herrschaft nach innen und ihren regionalen Führungsanspruch nach außen. Die Kategorie Sicherheit bleibt dabei friedensnormativ ambivalent: Bei der gegenwärtigen Außenpolitik Russlands im postsowjetischen Raum scheint sie eher einer Vorstellung zu folgen, die dem Hobbes’schen Naturzustand von Feindschaft und Konkurrenz verhaftet bleibt. Geht es um gesamteuropäische oder auch globale Sicherheitsfragen, ist Russland stets auch offen für kooperative Sicherheitsarrangements gewesen. Diese sind allerdings bis heute dem klassischen „westfälischen“ und damit am Nationalstaat ausgerichteten Ordnungsprinzip verhaftet geblieben. Dies bringt Russland verstärkt in Konflikt mit dem Westen, der insbesondere seit 1990 vermehrt postmoderne Vorstellung von Ordnung vorangetrieben bzw. entsprechende Politiken praktiziert hat.
Wie der Beitrag von Dagmar Richter im Anschluss zeigt, ist „Frieden“ aus rechtlicher Perspektive ein vielschichtiger Begriff. Ohne inneren Frieden, das Fundament jeder Rechtsordnung, wird der Staat zum „failed state“. Der historische Kampf um den „ewigen Landfrieden“ in Europa lässt sich heute noch im „Landfriedensbruch“ erahnen. Im modernen Verfassungsstaat liegt das „Gewaltmonopol“ beim Staat, der im Gegenzug den inneren Frieden garantiert und damit grundrechtlichen Schutzpflichten nachkommt. Den äußeren Frieden beschädigt jede Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots – die den Staaten eine „Rechtspflicht zum Frieden“ zwingend auferlegt. Das rechtliche Instrumentarium zum äußeren Frieden erstreckte sich historisch vom Recht des Souveräns zum Kriege (ius ad bellum) bis hin zum Gewaltverbot und der Anerkennung der „Aggression“ als völkerrechtliches Verbrechen. Heute ist das Verbot jeder Androhung oder Anwendung von Gewalt das Fundament der Vereinten Nationen. „Peacemaking“, „Peacekeeping“ und „Peacebuilding“ unterfüttern es. Diskutiert werden Ausnahmen wie die „präventive“ Selbstverteidigung oder humanitäre Intervention, aber auch der „bewaffnete Angriff“ als Voraussetzung gewaltsamer Selbstverteidigung. Je weiter „Bruch oder Bedrohung des Friedens“ nach der UN-Charta reichen, umso mehr kann der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen auch in atypischen Situationen (interne Konflikte, Piratenüberfälle, Terrorismus, Epidemien) treffen – wenn er politisch handlungsfähig ist. Die europäische Friedensordnung beruht auf einem komplexen Zusammenspiel von EU, OSZE, NATO und UNO. Obwohl die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik außerhalb des integrierten Bereichs der EU liegt, sieht der EU-Vertrag zahlreiche Handlungsformen bis hin zu Kampfeinsätzen vor. Dabei dehnt sich der Friedensbegriff wie im Rahmen der UNO aus. Die Vetomacht einzelner Mitgliedstaaten hindert Europa sowohl daran, „Friedensmacht“ zu sein, aber auch daran, Militärmacht zu werden. Auf der staatlichen Ebene hat das Grundgesetz Kampfeinsätzen der Bundeswehr Grenzen gesetzt, mehr aber noch das Bundesverfassungsgericht. De facto hat Deutschland heute kein „Parlamentsheer“, sondern ein „Gerichtsheer“. Die Antwort auf Fragen wie die nach der Zulässigkeit von „national verantworteten“ Außeneinsätzen außerhalb kollektiver Sicherheitssysteme wird darüber entscheiden, inwieweit Deutschland auch selbstständig als Militärmacht agieren könnte. Obwohl der Frieden heute nicht mehr scharf vom „Krieg“ getrennt werden kann, hängt die Anwendbarkeit humanitären Völkerrechts von Beginn und Dauer der Feindseligkeiten ab. Insgesamt bleibt das Recht unverzichtbar für den Frieden, bewirkt ihn aber nicht selbst. „Frieden durch Recht“ hat Grenzen. Abwegig erscheint die These vom „Lawfare“, welche das Recht als potentielles Kampfmittel betrachtet. Dagegen muss die Frage nach der Legalität des Friedens gestellt werden. Zu einem „Recht auf Frieden“ wird die Völkerrechtsordnung erst gelangen, wenn sie sich konsequent an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.
Bernhard Rinke diskutiert in seinem Beitrag, der diese Sektion beschließt, die Europäische Union als Friedensprojekt. Insbesondere in der Selbstwahrnehmung der Europäischen Union und ihrer offiziellen Rhetorik ist der Frieden dem „Friedensprojekt Europa“ als Meistererzählung gleichsam eingeschrieben. In diesem Sinne bildet der Frieden gleichsam das Genom des Integrationsprozesses. Die Pazifierung der zwischenstaatlichen Beziehungen im Integrationsraum kann mithin als realhistorische Manifestation von Immanuel Kants Traum vom „Ewigen Frieden“ verstanden werden, in welchem sich der Frieden durch Demokratie, der Frieden durch Institutionen und der Frieden durch Freihandel wechselseitig bedingen und verstärken. Und tatsächlich ist der Frieden in der EU noch immer von erstaunlicher Stabilität. Europa ist im weltweiten Maßstab auch weiterhin die friedlichste Region. Vor dem Hintergrund der multiplen Krisen, mit denen sich die EU derzeit konfrontiert sieht, verliert das Narrativ von der Friedensgemeinschaft Europa und die damit verbundene Vorstellung, dass die europäische Geschichte mit der teleologischen Realisierung von Kants Traum gleichsam an ihr Ende gekommen sei, indes mehr und mehr an Überzeugungskraft. Mehr und mehr verbreitet sich die Auffassung, dass die EU nicht mehr Teil der rettenden Antworten auf die Krisen der Gegenwart sei, sondern vielmehr Teil der Probleme, wenn nicht sogar deren eigentliche Ursache. Ein geschichtsnotwendiger Determinismus hin zum „Ewigen Frieden“ in der EU besteht demnach keineswegs. Als unvollendetes Projekt der europäischen Moderne bleibt der Frieden in der EU vielmehr auf der Agenda, bleibt die kantianische Agenda auch weiterhin fordernder Anspruch: Der Frieden in der EU bleibt der EU aufgegeben.
Die abschließende Sektion dieses Bandes versammelt schließlich Beiträge, die sich mit dem Verhältnis von Frieden und Religion beschäftigen. Rüdiger Lohlker fragt, inwieweit es möglich ist, Frieden in islamischer Perspektive zu denken, begründet in den grundlegenden Texten, z.B. eben im Koran. In Form eines Gedankenexperiments wird versucht, diese Frage zu beantworten. Dieses Gedankenexperiment erfolgt in mehreren Durchgängen. Anhand des Korankommentars eines der führenden Gelehrten des 13./14. Jahrhunderts im Iran, Nizām al-dīn al-Nīsābūrī, wird gezeigt, dass selbst der sonst gängigerweise als „Kampf“ übersetzte arabische Begriff klar als innerer Kampf ausgelegt werden kann. Al-Nīsābūrī steht aber nicht allein. Am Beispiel des Korankommentars des bedeutenden islamischen Philosophen Mullā Sadrā (16./17. Jahrhundert) lässt sich ebenfalls eine Interpretation des Kampfes als spiritueller Kampf konstatieren. Als ein Beispiel aus dem zwanzigsten Jahrhundert wird der syrische Theoretiker der Gewaltfreiheit Jawdat Sa‘īd, der die Ablehnung der Gewalt koranisch insbesondere am Beispiel von „Adams ersten Sohn“ entwickelt, diskutiert. Als zweites Beispiel aus dem zwanzigsten Jahrhundert dient Abdul Ghaffar Khan (gest. 1988), ein Protagonist des gewaltfreien paschtunischen Kampfes gegen den britischen Kolonialismus. Die so umrissene Perspektive lässt erkennen, dass Friede und sogar Gewaltfreiheit denkbar sind. Ein Bestreiten der Existenz dieser Perspektive zeugt von einem zutiefst fundamentalistischen Verständnis des Islams auf all jenen Seiten, die dies vertreten.
Ohne die vor allem im Blick auf die archaischen Religionen klar erkennbare Nähe von Gewalt und Religion zu negieren, zielt der Beitrag von Wolfgang Palaver auf das Friedenspotential der Hochreligionen, wie er im heute notwendig gewordenen Aufruf zu einer universalen Geschwisterlichkeit besonders deutlich sichtbar wird. Die Geschwisterlichkeit selbst ist allerdings ähnlich ambivalent wie alle Religionen, denn sie ist vom Schatten der Geschwisterrivalität begleitet, wie schon die Erzählung vom Urbrudermord Kains an Abel zeigt. In dieser Geschichte lässt sich mittels jüdischer, christlicher und islamischer Interpretationen typologisch der zur Gewalt verdammte Besitzmensch Kain von Abel unterscheiden, der durch seine Ausrichtung auf Gott hin den irdischen Sackgassen der Gewalt entkommen kann. Abels hingebende Gottesliebe als Voraussetzung seiner Liebe zu den Nächsten berührt sich mit Einsichten Gandhis, der in der Hingabe an Gott einen wichtigen Weg zum Frieden entdeckte, weil er mit Überwindung des Neids einhergeht. Abels Gottesliebe lässt sich auch als eine Form von kenotischer Geschwisterlichkeit verstehen, wie sie sich mittels der französischen Mystikerin und Philosophin Simone Weil aus der Absage an das besitzergreifende egoistische Ich ergibt und wie sie in den großen mystischen Traditionen vielfach auffindbar ist. Als Beispiel für eine solche kenotische Geschwisterlichkeit kann auf Franz von Assisi verwiesen werden, der gerade deshalb mitten in der Zeit der Kreuzzüge in Dialog mit dem muslimischen Sultan al-Kamil treten konnte. Vorbildhaft lebte er uns eine Form von „geschwisterlicher Unterordnung“ vor, die für den heute so notwendig gewordenen Dialog der Religionen und Kulturen wegweisend ist.
Der Beitrag von Thomas Nauerth, der diesen Band beschließt, geht von zwei Beobachtungen aus. Seit gut 100 Jahren entstehen in den Kirchen Basisbewegungen, die christliche Themen und Aufgaben neu entdecken, entwickeln und für die verfassten Kirchen insgesamt vordenken. Ebenfalls seit gut 100 Jahren wird – vor allem von diesen Basisbewegungen – die Idee des Friedens als ein wesentliches christliches Thema erkannt, benannt und in den unterschiedlichen Zeitläufen kontextualisiert. Unter Berücksichtigung sowohl der protestantischen als auch der katholischen Kirchen, aber mit deutlicher Beschränkung auf die Entwicklungen in Deutschland unternimmt es der Artikel, die Geschichte und die Geschichten dieses neuen Themenfeldes in den christlichen Kirchen in den letzten 100 Jahren zu skizzieren. Dadurch ergeben sich nicht zuletzt auch neue Möglichkeiten, den aktuellen Stand des friedensethischen Diskurses in den Kirchen kritisch zu beleuchten und einige Defizite zu benennen. Der Artikel kann insgesamt aufzeigen, wie sehr christliche Kirchen in den letzten 100 Jahren in Europa zu einem wichtigen gesellschaftlichen und politischen Faktor für das zentrale Politikfeld „Frieden“ geworden sind. Am gesellschaftlichen Konsens, dass die Länder Europas in Frieden miteinander koexistieren sollen und dass auch über Europa hinaus der Friede als Ziel für eine bessere Welt verwirklicht werden sollte, haben kirchliche Bewegungen entscheidend mitgewirkt.
So zeigt sich auch in diesen Beiträgen die Bedeutung materieller wie immaterieller Ressourcen zum Frieden, die Relevanz des Politischen wie des Spirituellen. Ein Wert ist in diesem Sinne wenn schon nicht Bürger zweier Welten, so doch Wirkmacht in zwei Welten und muss von beiden Welten genährt werden, weil er auch beide Welten prägt.
1 David Grossman, Dankrede 2010: http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.
2 Robert Nozick, The Examined Life. New York: Schuster 2006, 236–242.
3 Primo Levi, Die Atempause. München 41999, 9.
4 Ella E. Schneider Hilton, assisted by Angela K. Hilton, Displaced Person. A Girl’s Life in Russia, Germany, and America. Baton Rouge, Louisiana 2004.
5 Avishai Margalit, Ethik der Erinnerung. Frankfurt/Main 2000.
6 Primo Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt/Main: Neuausgabe 1979, 57.
7 Ebd., 183.
8 Ebd., 21.
9 Ebd., 28.
10 Primo Levi beschreibt einen Kameraden, mit dem er eines Tages arbeitet: „Es ist Null Achtzehn. Nur so heißt er: Null Achtzehn, die letzten drei Ziffern seiner Nummer; als sei sich ein jeder bewußt geworden, daß nur ein Mensch es verdient, einen Namen zu haben und daß Null Achtzehn kein Mensch mehr ist. Ich glaube, er selber hat seinen Namen vergessen, denn so benimmt er sich. Seine Sprache und sein Blick erwecken den Eindruck, als sei sein Inneres leer, als bestehe er nur noch aus der Hülle, wie die Reste mancher Insekten, die man, mit einem Faden an einem Stein hängend, an den Ufern der Teiche findet, und der Wind hat sein Spiel mit ihnen“ (ebd., 43).
11 Siehe Ben Rawlences Buch über das größte Flüchtlingslager der Welt in Nordkenya mit seinen permanenten Spannungen, Konflikten und Provisorien – Ben Rawlence, City of Thorns. Nine lives in the World’s Largest Refugee Camp. New York 2016.
12 Levi, Atempause, 33.
13 Ebd., 37.
14 Jorge Semprun, Der Tote mit meinem Namen. Frankfurt/Main 2002, 149.
15 Levi, Ist das ein Mensch, 44.
16 Vgl. Andreas Batlogg, Globalisierung der Gleichgültigkeit. Stimmen der Zeit 232 (2014) 1–2 – siehe auch Evangelii Gaudium, 54.
17 Vgl. Jay Winter, Antoine Prost, René Cassin and Human Rights. From the Great War to the Universal Declaration. Cambridge 2013.
18 John Mearsheimer vertritt die These, dass der Friede in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem mit dem Verhältnis zu den USA zusammenhängt, die einerseits Truppen in Europa stationiert hatten, andererseits die europäischen Staaten in globale Verantwortungen hineinnahmen (John Mearsheimer, why is europe peaceful today? European Political Science 9 (2010) 387–397.
19 Derek Centola, The Emblematic Statement of the Nobel Peace Prize. Miami-Florida European Union Center of Excellence. Jean Monnet/Robert Schuman Paper Series 13,1 (2013).
20 Vgl. Joyce van de Bildt, Srebrenica: A Dutch national trauma. Journal of Peace, Conflict & Development 21 (2015) 115–145.
21 Vgl. Cedric Ryngaert, Nico Schrijver, Lessons Learned from the Srebrenica Massacre: From UN Peacekeeping Reform to Legal Responsibility. Neth Int Law Rev 62 (2015) 219–227.
22 Claudio Magris, Dankrede 2009: http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.
23 „By security we mean an individual’s justified expectation that his life will continue more or less in its accustomed course, undisturbed by war, crime, revolution or major social and economic upheavals“ (Robert Skidelsky, Edward Skidelsky, How Much Is Enough. Money and the Good Life. London: Allen Lane 2012, 156) – hier wird unterstellt, das seine Umgebung mit selbstverständlichen Objekten („taken-for-granted objects“), Strukturen und Abläufen unverzichtbarer Bestandteil eines guten Lebens sind.
24 Pacem in Terris, 62.
25 Vgl. Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens. Frankfurt/Main 2011.
26 „A is completely helathy, if and only if A is in a bodily or mental state which is such that A has the second order ability to realize all his or her vital goals given standard or reasonable circumstances“ (L. Nordenfelt, Standard Circumstances and Vital Goals. Bioethics 27,5 [2013] 280–284).