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Glaubwürdigkeit und Lerngeschichte
ОглавлениеEuropa hat in keinem Fall ein Privileg darauf, glaubwürdig von Frieden zu sprechen; gerade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine moralische Hypothek aufgebaut, die nicht abgetragen werden kann; nach Ansicht des amerikanischen Philosophen Robert Nozick kommt die Shoah einem zweiten Sündenfall gleich, der die Conditio Humana nachhaltig verändert hat; nun sei es – und das wurde von und in Europa verschuldet – keine Tragik mehr, wenn die Menschheit aufhören würde, zu existieren.2 Ein Blick auf diesen zweiten Sündenfall darf nicht erspart werden. Auschwitz schafft Irreversibilitäten, die zu Lasten werden, die kaum abgedient werden können, wie Primo Levi, der 1987 Suizid beging und bis zuletzt mit den Erfahrungen von Auschwitz gerungen hatte, festhält. Er beschreibt die Stunde der Befreiung aus dem KZ:
„So schlug auch die Stunde der Freiheit für uns ernst und lastend und erfüllte unsere Seelen mit Freude und zugleich mit einem schmerzlichen Schamgefühl, um dessentwillen wir gewünscht hätten, unser Bewußtsein und unser Gedächtnis von dem Greuel, das es beherbergte, reinzuwaschen: und mit Qual, weil wir spürten, daß es nicht möglich war, daß nie irgend etwas so Gutes und Reines kommen könnte, das unsere Vergangenheit auslöschen würde, und daß die Spuren der Versündigung für immer in uns bleiben würden, in der Erinnerung derer, die es miterlebt haben, an den Orten, wo es geschehen war, und in den Berichten, die wir darüber abgeben würden. Daher … hat niemals jemand besser als wir die unheilbare Natur der Versündigung begreifen können, die sich ausbreitet wie eine ansteckende Krankheit. Es ist unsinnig zu glauben, sie könne durch menschliche Gerechtigkeit getilgt werden. Sie ist eine unerschöpfliche Quelle des Bösen.“3
Diese „Quelle des Bösen“ bleibt erhalten; die in Europa entfachten Weltkriege haben ihre Spuren hinterlassen, wohl in jede Familiengeschichte hinein. Wir erahnen nur die Spitze des Eisbergs an Traumatisierungen und Verwundungen. Ein Beispiel: In ihrer bemerkenswerten Autobiographie schildert Ella E. Schneider Hilton ihren kriegsgeprägten Lebensweg, der sie von Kiew über Regensburg und Passau bis nach Mississippi führte; sie musste als Wolgadeutsche 1943 ihre Heimat verlassen, verlor dabei ihren Vater, kam in ein Lager nach Deutschland, wo sie zunächst in Quarantäne gehalten und erniedrigenden Untersuchungen unterworfen wurden; immer wieder wurden sie registriert, immer wieder mussten sie ihre konstruierte Geschichte, die keine jüdischen Familienmitglieder einschloss, erzählen.4 Aufgrund des Kriegs war die Familie – die Mutter schloss in Deutschland eine Vernunftehe mit einem Witwer, der ebenfalls Wolgadeutscher war – in Europa „out of place“, „displaced“, konnte weder Frieden noch Heimat finden. Diese Situation wurde nach Kriegsende in gewisser Hinsicht noch verschärft; wieder musste die Geschichte neu erzählt werden, der Status „Flüchtling“ war in Europa nicht abzuschütteln; erst 1952 konnte die Familie – der Preis war unter anderem eine Abtreibung, die die Mutter vornehmen ließ, da schwangeren Frauen die Überfahrt in die USA nicht gestattet war – in die USA auswandern. Ellas Eltern wurden in den Vereinigten Staaten nie heimisch, fassten weder sprachlich noch kulturell noch sozial wirklich Fuss, blieben also ihr Leben lang „out of place“. Das ist keine Erfahrung des Friedens, selbst bei schweigenden Waffen.
Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat Frieden als kostbares wie bedrohtes Gut gezeigt. Lebenssicherheit ist kostbar; sie war nach dem schlafwandelnd begonnenen Ersten Weltkrieg verloren, war auch in der Zwischenkriegszeit mit ihren Wirtschaftskrisen nicht gegeben, wurde in den 1940er Jahren einem radikal Bösen geopfert, um mit Avishai Margalit zu sprechen.5 Wenn wir von „Europa“ und „Frieden“ sprechen, darf die Erinnerungsarbeit nicht fehlen, muss der europäische Wert des Friedens als teurer und erlittener Wert gezeichnet werden. Primo Levi hat immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses Staunen, ja Entsetzen darüber, was möglich ist, nicht abstumpfen dürfe. Wir dürfen nicht vergessen, „was in Auschwitz Menschen aus Menschen zu machen gewagt haben.“6 Es geht um die Erhaltung eines moralischen Empfindungsgefühls, einer moralischen Sensibilität, es geht um die Scham, etwa „die Scham über Auschwitz, die Scham, die jeder Mensch darüber empfinden müßte, daß es Menschen waren, die Auschwitz erdacht und errichtet haben.“7 Wir dürfen nicht vergessen, dass es Menschen sind, die anderen Menschen die Hölle bereiten können: „Das ist die Hölle. Heute, in unserer Zeit, muß die Hölle so beschaffen sein, ein großer, leerer Raum, und müde stehen wir darin, und ein tropfender Wasserhahn ist da, und man kann das Wasser nicht trinken, und uns erwartet etwas gewiß Schreckliches, und es geschieht nichts und noch immer geschieht nichts. Wie soll man da Gedanken fassen? Man kann keine Gedanken mehr fassen; es ist, als seien wir bereits gestorben.“8 Die Abwesenheit von Frieden kann die Hölle auf Erden bringen. Hölle ist Auslöschung. Es ist dem Menschen möglich, anderen Menschen Identität abzusprechen, Identität auszulöschen, Namen zu tilgen, Existenzen zu vernichten, Leben zu zerstören, Lebenspläne zunichte zu machen. Frieden ist die Möglichkeit von Heimat, die Erfahrung von Lebenssicherheit.
Es gehört zu Strukturen der Unmenschlichkeit, einem Menschen all das zu nehmen, was ihm Heimat sein kann. Primo Levi hat diese Erfahrung in Auschwitz gemacht: „Ich fragte ihn (mit einer Naivität, die mir einige Tage später schon sagenhaft vorkommen wird), ob wir denn wenigstens unsere Zahnbürsten zurückerhalten werden. Darüber lacht er nicht, sondern macht ein verächtliches Gesicht und wirft mir die Worte hin: ‚Vous n’êtes pas à la maison.‘ Das aber ist der Kehrreim, den wir uns von allen immer und immer wieder sagen lassen müssen.“9 In einem Kontext beheimatet zu sein, heißt: auf Vertrautes zurückgreifen zu können; Vertrauen in die Strukturen des betreffenden Kontextes zu haben; diesen Kontext identifizieren und sich selbst anhand dieses Kontexts bestimmen zu können. Entscheidende Faktoren für diese Vertrautheit sind Namen, Benennen, Benennungen.10 Namen schaffen Vertrautheit; Vertrautheit schafft Lebenssicherheit.
Frieden bedeutet, einen Lebensplatz zu haben. Ein Lebensplatz ist eine soziale Verankerung des eigenen Daseins mit der Erfahrung von Anerkennung, die sich in Beziehungen und Strukturen manifestiert. Wenn Menschen den Lebensplatz als bedroht empfinden, kann kein Friede herrschen.11 Primo Levi spricht vom „Urchaos“ und der rastlosen „Suche nach dem eigenen Platz, der eigenen Sphäre“,12 erzählt von seiner neunmonatigen Odysee, bis er endlich nach Turin zurückkehren kann, stets auf der Suche nach und in der Hoffnung auf einen stabilen Lebensplatz in einer stabilen Welt: „Wir hatten eine kurze, sichere Reise erhofft, ein Lager, das darauf vorbereitet war, uns aufzunehmen, einen erträglichen Ersatz für Zuhause; und diese Hoffnung war Teil einer weitaus größeren Hoffnung, jener auf eine wohlgeordnete und gerechte Welt, wie durch ein Wunder wieder in ihre Fundamente gefügt nach einer Ewigkeit von Umwälzungen, Verirrungen und Gemetzeln, nach langem Ausharren.“13
Friede ist nicht Indifferenz, ist nicht Abstumpfung. Berichte aus den Konzentrationslagern halten fest, dass das Ende der menschlichen Existenz dann erreicht ist, wenn ein Zustand der Indifferenz eingesetzt hat: „Hätten wir mit diesen allmorgendlichen Verrichtungen aufgehört, diesen völlig gedankenlosen Gesten, so wäre dies der Anfang vom Ende gewesen, der Beginn der Selbstaufgabe, das erste Anzeichen einer angekündigten Niederlage. Wenn man merkte, daß ein Kumpel es unterließ, seine morgendliche Toilette zu machen und daß überdies sein Blick erlosch, mußte man sofort eingreifen. Mit ihm sprechen, ihn zum Sprechen bringen, dafür sorgen, daß er sich von neuem für die Welt, für sich selbst interessierte.“14 Der Boden der menschlichen Existenz ist erreicht, wenn der Lauf der Welt keinen Unterschied mehr macht: „Alles ist ihm so gleichgültig, daß er sich gar nicht mehr darum kümmert, Mühen und Schläge zu vermeiden oder Nahrung zu suchen. Er führt jeden Befehl aus, den er bekommt, und wenn sie ihn in den Tod schicken werden, so wird er wahrscheinlich mit derselben völligen Gleichgültigkeit hingehen.“15
Friede ist nicht Gleichgültigkeit; Frieden ist nicht Abstumpfung; so kann von Frieden nicht gesprochen werden, wenn Menschen indifferent sind gegenüber dem Leiden anderer. Es ist ironisch, dass der mit dem Karlspreis 2016 ausgezeichnete Papst Franziskus sich wiederholt gezwungen sah, Europa zur Überwindung der Gleichgültigkeit gegenüber Flüchtlingen aufzurufen, so etwa in Lampedusa am 8. Juli 2013.16 In seiner Ansprache bei der San Egidio Gemeinschaft am 15. Juni 2014 in Rom sprach Papst Franziskus das müde gewordene Europa an. Müdigkeit kann in die Gleichgültigkeit führen oder auch Ausdruck der Gleichgültigkeit sein. Friede in Europa verlangt jedoch harte Arbeit. Und diese Arbeit wurde in der Nachkriegszeit auch geleistet.