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5. Die Stärken der heutzutage vorherrschenden Auffassung

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Die heutzutage vorherrschende Auffassung zeigt manche Stärken im Vergleich mit den beiden o.g. Alternativen, die diese Auffassung kombinieren.

Die kantische Auffassung hat u.a. die Schwäche, dass sie den gerechten Krieg, den ungerechten Krieg, den gerechten Frieden erster Stufe und den ungerechten Frieden erster Stufe als moralisch gleichwertig betrachtet. Allen vier Zuständen setzt Kant gleichermaßen den ewigen gerechten Frieden zweiter Stufe entgegen. Entgegen der heutzutage vorherrschenden Position stellt bei Kant der ewige Friede nicht die Vollendung der einzelnen Frieden erster Stufe dar, sondern der ewige Friede ersetzt die einzelnen Frieden, indem er sie ablehnt, weil diese einzelnen Frieden den Keim künftiger Kriege in sich tragen.9 Diese kantische Perspektive wirft einen einseitigen Blick auf diese einzelnen Frieden erster Stufe: Auch in den gerechten einzelnen Frieden erster Stufe sieht sie lediglich das Potential für Streitigkeiten, die zu einem neuen Krieg führen könnten, obwohl die einzelnen Bestimmungen dieser (einzelnen) Friedensverträge nicht etwa auf dem Diktat des Siegers beruhen. Die kantische Perspektive ignoriert Teilabkommen bezüglich bestimmter Streitigkeiten, die heutige Entwicklung von fairen Verhandlungsverfahren sowie die immer verbreitetere Absicht der Kriegsparteien, einen gleichgewichteten Frieden zu erreichen usw. Nun ruft all dies doch allmählich vorhersehbare Beziehungen zwischen den Feinden hervor, die sich manchmal zu Vertrauensverhältnissen zwischen alten Feinden entwickeln. Kants Friedensschrift begreift den Frieden zweiter Stufe ausschließlich als eine radikale Novität, die in keiner Weise einer vorherigen lehrreichen Erfahrung mit Frieden erster Stufe zu verdanken ist. Nun zeugen aber zahlreiche Beispiele und Forschungsergebnisse von der Bedeutung einer solchen Erfahrung.

Der einseitige Blick der kantischen Perspektive darf uns angesichts der genauen Bestimmungen der Institutionen im (kantischen) ewigen gerechten Frieden (zweiter Stufe) erstaunen. Es handelt sich nämlich nicht um einen Weltstaat, sondern um einen Völkerbund.10 In Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre wird dieser Völkerbund genauer definiert als in Zum ewigen Frieden: Der Völkerbund verfügt weder über irgendeine legislative Zuständigkeit noch über irgendeine exekutive Zuständigkeit noch über eine wirkliche richterliche Zuständigkeit. Vielmehr besteht der Völkerbund aus einer Versammlung von Einzelstaaten, die einstimmig, ohne Vorgaben und ohne Verpflichtung urteilen, ohne eine eigene Rechtsprechung zu entwickeln. Der Völkerbund stellt daher einen sehr minimalen institutionellen Rahmen dar,11 was die Möglichkeit einer allmählichen Errichtung dieses Rahmens aus der geteilten Erfahrung eines Friedens erster Stufe plausibilisieren dürfte.

Auch die traditionellen Lehren des gerechten Krieges haben ihren Schwachpunkt, indem sie nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, die Stabilität und die Gerechtigkeit des gerechten Friedens erster Stufe durch die institutionelle Lösung der kantischen Perspektive zu ergänzen. Dabei können heutige internationale Institutionen wie die UN als Schritte auf dem Weg zur Verwirklichung der kantischen institutionellen Lösung betrachtet werden. Die Pläne für einen ewigen Frieden, die vor Kants Zum ewigen Frieden während der ganzen Neuzeit entworfen worden sind – z.B. von Erasmus12, Emeric Crucé13 und Abbé de Saint-Pierre14 –, und die Hauptwerke der Lehren des gerechten Krieges – z.B. die Werke von Francisco de Vitoria15, Alberico Gentili16, Hugo Grotius17 und Emer de Vattel18 – bilden zwei verschiedene Traditionen, die sich parallel statt zusammen entwickelt haben. Die erste Tradition wendet sich an alle Fürsten bzw. Souveräne sowie an die gesamte Menschheit in der politischen und moralischen Absicht, den Frieden zweiter Stufe zu errichten. Die zweite richtet an jeden einzelnen Fürsten eine juristische Empfehlung über das gerechte Verhalten bezüglich jedes einzelnen Aspekts des Krieges von dem Zeitpunkt, zu dem der Fürst den Kriegseintritt in Erwägung zieht, bis zur Vereinbarung der einzelnen Bestimmungen des Friedensvertrags. Der Gegenstand der traditionellen Lehren des gerechten Krieges ist kein Entwurf für die Zukunft der Menschheit, sondern das gerechte Verhalten des einzelnen Fürsten in allen Angelegenheiten des Krieges. Außerdem sehen die genannten Lehren in den Entwürfen für die Zukunft der Menschheit zwei Risiken, vor denen aus ihrem Gesichtspunkt auch Kants Entwurf eines Völkerbundes – im Gegensatz zu einem Weltstaat – sicherlich nicht wirklich schützen würde. 1. Für solche Entwürfe ist eine Weltregierung erforderlich. Dabei halten diese Lehren eine globale Rechts- und Staatsordnung wegen der riesigen Ausdehnung der Erde, der großen Entfernungen und der erheblichen Vielfalt der Völker für nicht durchsetzbar. 2. Eine Weltregierung könnte nur durch einen Imperialismus durchgesetzt werden, d.h. durch eine Weltdespotie, wie sie Kaiser Karl V. ausübte.

Die Versuche, einen Entwurf für den Weltfrieden tatsächlich umzusetzen, gehen auf dessen unmittelbare Befürworter – u.a. den US-Präsidenten Wilson oder den Friedensnobelpreisträger Léon Bourgeois19, Autor von Pour la Société des nations, 1909 – zurück und beschränken sich auf die Etablierung des „Völkerbundes“ nach dem Ersten Weltkrieg und somit auf die Gründung der UN nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun haben diese Versuche wichtige Folgen für die Legitimität der Kriege gehabt. Dazu gehört das Verbot für die einzelnen Staaten, aus alleiniger eigener Entscheidung in einen Angriffskrieg einzutreten, so dass jeder einzelne Staat nur noch Verteidigungskriege beschließen kann. Aus den Kriegsministerien wurden dementsprechend Verteidigungsministerien. Nur der UN-Sicherheitsrat darf militärische Interventionen beschließen bzw. genehmigen. In Wirklichkeit aber kombinieren das heutige System der internationalen Beziehungen sowie die öffentliche Debatte zwei Modelle miteinander: die genannte Perspektive eines ewigen Friedens durch internationale Institutionen und die Regeln der traditionellen Lehren des gerechten Krieges. Dieses Mischmodell habe ich oben versucht als heutzutage vorherrschendes Modell zu formulieren. Warum setzen sich das Modell des ewigen Friedens und das UN-Modell jeweils nicht allein durch? Der Grund dafür liegt weder vor allem darin, dass die UN über keine eigenen militärischen Mittel verfügt und bei jeder militärischen Intervention auf den (nie ausreichenden) guten Willen der Mitgliedstaaten angewiesen ist, noch vor allem in der Zusammensetzung des Sicherheitsrats und im Vetorecht seiner fünf ständigen Mitglieder, sondern vor allem darin, dass sowohl die einzelnen Regierungen als auch die Öffentlichkeit in den einzelnen Ländern jede Art von Weltregierung – auch nur ansatzweise – ablehnen. Dies lässt sich auf ähnliche Gründe zurückführen wie die o.g. Ablehnung des gerechten Krieges durch die frühneuzeitlichen Lehren.

Weder die frühneuzeitlichen Entwürfe eines ewigen Friedens noch Kants Zum ewigen Frieden scheinen mir aber eine wirkliche Weltregierung im heutigen Sinne zu benötigen. Vielmehr hatten sie auf unterschiedliche Weise an eine Art von ständiger, beschließender, jedoch nicht legislativer Versammlung der Souveräne gedacht, in deren Rahmen die Gespräche, die Vermittlung und die Beratung es ermöglichen sollen, die Streitfälle auf einvernehmliche bzw. konsensuelle Weise zu lösen. Zwar schiene es heutzutage wenig plausibel, dass eine solche Versammlung konsensuelle Entscheidungen trifft. Der Grund dafür liegt in der Voraussetzung für eine solche Vorstellung, nämlich dass die Mitglieder dieser Versammlung, d.h. die Souveräne, eine besondere Qualität haben.

Bei Erasmus, Crucé, Saint-Pierre u.a. handelt es sich ausdrücklich um christliche Fürsten mit der Ausnahme des osmanischen Reichs. Diese Ausnahme bleibt aber unproblematisch. Denn der Christianismus, der vorausgesetzt wird, beschränkt sich weder auf den römischen Katholizismus noch auf den Anglikanismus noch auf ein protestantisches Bekenntnis noch auf die Orthodoxie, sondern er umfasst sie alle und entspricht eher einer Zivilreligion wie sie Rousseau in seinem Bürgergesellschaftsvertrag formuliert hat, d.h. einem gerechten bürgerlichen Frieden zweiter Stufe in der Abbildung 2. Im Gesellschaftsvertrag definiert Rousseau die „bürgerliche Religion“ wie folgt: „Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne Erklärungen und Erläuterungen. Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze – das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz; sie gehört jenen Kulten an, die wir ausgeschlossen haben.“20 Diese Zivilreligion enthält eine religiöse Sanktion, die den Gehorsam – und ggf. die Aufopferung – der einzelnen Bürger dem Gesetz gegenüber garantiert. Diese Sanktion ist die göttliche Strafe, die – wegen der Allwissenheit, der Allmacht und der vollkommenen Güte Gottes – sicherer ist und mehr gefürchtet wird als jede rechtliche oder physische Sanktion, weil sie auf die Ewigkeit gestellt wird. Die Kriterien für Rousseaus Zivilreligion werden von allen christlichen Konfessionen sowie auch vom Islam der Osmanen, vom Deismus und von weiteren Konfessionen erfüllt, vorausgesetzt, dass sie sich tolerant verhalten. Sie schließen aber den Atheismus aus. Bei den Autoren von Entwürfen eines ewigen Weltfriedens – zu denen Rousseau nicht gehört – befindet sich auf internationaler Ebene eine religiöse Sanktion, die der genannten gemeinsamen Zugehörigkeit zum Christianismus ähnlich ist. Heutzutage könnte kein Entwurf für den Weltfrieden auf der Prämisse einer gemeinsamen und durch eine religiöse Sanktion – sei es nur rousseauistischer Art – garantierten Moralität beruhen.

Kants Zum ewigen Frieden beruht auf einer völlig anderen Prämisse: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“21 Kant begründet dies, wie folgt: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle, oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Da hingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt […].“22 Heutzutage könnte aber kein Entwurf für den Weltfrieden auf der Prämisse vom Republikanismus der Einzelstaaten beruhen, zumal der kantische Republikanismus noch weitere Aspekte umfasst als die in der zitierten Textstelle, nämlich die „Publizität“ – Öffentlichkeit – der politischen Entscheidungen und die Meinungsfreiheit, d.h. den Pluralismus. Wer sich – wie Michael Doyle23 – auf die Staaten beschränkt, die diese Kriterien erfüllen, der kann allenfalls eine Erklärung dafür bieten, warum die seines Erachtens demokratischen und im kantischen Sinne republikanischen Staaten keinen Krieg gegeneinander führen. Dabei darf man aber bezweifeln, dass Republiken im kantischen Sinne tatsächlich den heutigen pluralistischen Republiken entsprechen.24 Außerdem kommen weder die einen noch die anderen den Regierungsformen aller aktuellen Staaten gleich. Es wäre zwar denkbar, das Völkerrecht, das den ewigen Frieden garantieren soll, auf liberale (liberal peoples) oder achtbare (decent peoples) Staaten bzw. Völker im Rawls’schen Sinne zu beschränken. Denn im Gegensatz zu den rechtslosen Staaten (outlaw states) sowie zu den gescheiterten bzw. schwachen Staaten unter widrigen Umständen (burdened states) und im Gegensatz zum wohlwollenden Absolutismus (benevolent absolutism) erfüllen die genannten Staaten eine ähnliche Funktion wie die republikanischen Staaten bei Kant. Aus einer solchen Einschränkung des Friedensentwurfs auf liberale Staaten ergäbe sich im heutigen Weltzustand kein Weltfriede, sondern allenfalls eine Kerngruppe von Staaten, die sich allmählich um die von ihr besiegten Länder erweitern könnte, deren Verfassung diese Kerngruppe republikanisieren könnte.25

Eine solche allmähliche Erweiterung des Völkerrechts liberaler bzw. republikanischer Staaten wäre aber von der heutigen Auffassung des Weges zum ewigen Frieden grundverschieden. Denn die UN nimmt systematisch möglichst viele Mitglieder auf (äußerst wenige Länder gehören nicht zur UN), ohne die Art ihrer (jeweiligen) Verfassung zu berücksichtigen; außerdem mischt sich die UN nur dann in die interne Organisation der Mitgliedsstaaten ein, wenn es um nation building nach einem internationalen oder bürgerlichen Krieg geht, dessen Ergebnis das Verschwinden der Staats- und Verwaltungsordnung der jeweiligen Länder ist. Im heutigen internationalen Recht versucht man die internationalen Konflikte zu lösen, ohne eine bestimmte Art innerstaatlicher Verfassung vorauszusetzen. Die Beziehung zwischen dem internationalen Frieden und der pluralistischen demokratischen Verfassung ist also vielmehr eine umgekehrte: Der internationale Friede soll die allmähliche Demokratisierung der Staaten fördern.

Im Vergleich mit dem kantischen bzw. dem Rawls’schen Modell des ewigen Friedens hat die heutzutage vorherrschende Auffassung den Vorteil, dass sie von vornherein alle Staaten umfasst. Ihr Nachteil ist allerdings, dass sie weniger anspruchsvoll bzw. ambitioniert ist, d.h., dass die Beziehungen zwischen Staaten in der heutigen Auffassung des Weges zum Weltfrieden eine niedrigere Qualität ausweisen.

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