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Kontroversen um die internationale Schutzverantwortung
ОглавлениеDas Spannungsverhältnis von Frieden und Gerechtigkeit zeigt sich insbesondere im Kontext der internationalen Schutzverantwortung. Einerseits verfolgt die Responsibility to Protect mit ihrer Trias der Verantwortung zur Prävention (Responsibility to Prevent), zur Reaktion (Responsibility to React) und zum Wiederaufbau (Responsibility to Rebuild)36 einen weiten Ansatz der internationalen Krisen- und Konfliktbearbeitung. Auch wenn öffentliche Debatten nur selten darauf rekurrieren, liegt der Schwerpunkt dieses Konzeptes eindeutig in der Gewaltprävention. Das eröffnet die Chance, die Zahl der Fälle zu minimieren, in denen sich die Frage nach legitimer Gewaltanwendung stellt. Dennoch bleiben – andererseits – Zielkonflikte zwischen der angestrebten Gewaltfreiheit und dem notwendigen Schutz bedrohter Menschen möglich, insbesondere wenn die internationale Gemeinschaft in der Verantwortung steht, Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ethnische Säuberungen zu verhindern und militärische Interventionen das letzte Mittel zu sein scheinen. Und genau hier scheiden sich die Positionen: Während die einen in der R2P einen Weg sehen, bedrohte Menschen zu schützen, befürchten andere eine Aushöhlung des Gewaltverbots. Und wieder andere kritisieren, dass selbst im Falle eines Konsenses die Frage nach der Umsetzung weiterhin offen bleibe.37
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch die Kirchen und der ÖRK in dieser Frage gespalten sind. Im unmittelbaren Nachgang der Annahme der Responsibility to Protect auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen 200538 befasste sich auch der Ökumenische Rat der Kirchen explizit mit der internationalen Schutzverantwortung. Auf der 9. Vollversammlung 2006 in Porto Alegre/Brasilien verabschiedete er die Erklärung „Gefährdete Bevölkerungsgruppen: Erklärung zur Schutzpflicht“. In dieser unterstützen die Mitgliedskirchen die in der Entstehung begriffene internationale Norm der Schutzpflicht und befürworten den Perspektivenwechsel, der „die Bedürfnisse und Rechte der Zivilbevölkerung und die Pflichten des Souveränitätsträgers in den Mittelpunkt [stellt], nicht nur dessen Rechte“39. Sie unterstreichen die Prävention als zentrales Instrument und Anliegen der Kirchen. Die ethische Frage der Anwendung militärischer Gewalt zu humanitären Zwecken bleibt allerdings weiterhin offen. Denn wenn auch die Erklärung zur Schutzpflicht von der ÖRK-Vollversammlung im Konsens gebilligt wurde, stehen dort gegensätzliche Positionen unvermittelt nebeneinander:
Kirchen mögen einräumen, dass Gewaltanwendung zum Schutz der Bevölkerung unter bestimmten Umständen eine Option darstellt, die den Erfolg nicht garantieren kann, die aber genutzt werden muss, da die Welt bisher weder in der Lage war, noch ist, irgendein anderes Instrument zu finden, um Menschen in aussichtslosen Situationen zu Hilfe zu kommen. Es ist allerdings festzuhalten, dass innerhalb der Kirchen auch Gruppierungen bestehen, die Gewalt kategorisch ablehnen. Sie vertreten eine Pflichterfüllung durch konsequente Prävention und – wie hoch der Preis auch sein mag – als letztes Mittel das Risiko gewaltloser Intervention bei gewalttätigen Auseinandersetzungen einzugehen. Beide Ansätze können erfolglos bleiben, sind aber in gleicher Weise als Ausdruck christlicher Pflichterfüllung zu respektieren.40
Während für die einen die primäre Option für Gewaltfreiheit die Anwendung von Gewalt als Ultima Ratio nicht ausschließt (bzw. sogar explizit mit einschließt), stellt sich für andere die Frage, ob die Mitgliedskirchen damit noch der Zielsetzung ihrer Dekade, Geist, Logik und Ausübung von Gewalt zu überwinden, entsprechen oder letztlich nicht doch der Logik des gerechten Krieges verhaftet bleiben.41
Diese Spannung wird auch im ökumenischen Aufruf zum gerechten Frieden nicht aufgelöst. Die Anwendung von Waffengewalt stellt auch hier eine der zentralen Herausforderungen und ethischen Dilemmata auf dem Weg zu einem gerechten Frieden dar: So könne es Extremsituationen geben, „in denen der rechtmäßige Einsatz von Waffengewalt als letzter Ausweg und kleineres Übel notwendig werden kann, um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen, die unmittelbaren tödlichen Gefahren ausgesetzt sind“. Zugleich sei dies aber ein „Zeichen schwerwiegenden Versagens“ und „zusätzliches Hindernis auf dem Weg zu einem gerechten Frieden“.42 Die abschließende Botschaft der Friedenskonvokation in Kingston ruft dann zu weiterer Diskussion, Urteilsfindung und Ausarbeitung auf:
Wir ringen weiter um die Frage, wie unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können. In diesem Zusammenhang stellen wir uns tiefgreifende Fragen zum Konzept der „Schutzverantwortung“ und zu dessen möglichem Missbrauch. Wir rufen den ÖRK und seine Partnerorganisationen dringend auf, ihre Haltung in dieser Frage weiter zu klären.43
Dem schließt sich auch die 10. ÖRK-Vollversammlung in Busan an:
Gemeinsam empfehlen wir dem Ökumenischen Rat der Kirchen, in Zusammenarbeit mit Mitgliedskirchen und kirchlichen Diensten und Werken eine kritische Analyse der „Verantwortung zur Prävention, zur Reaktion und zum Wiederaufbau“ sowie deren Bezug zum gerechten Frieden und deren missbräuchliche Nutzung zur Rechtfertigung von bewaffneten Interventionen durchzuführen.44
Die fortdauernden Kontroversen um die militärische Gewaltanwendung im Ringen um einen gerechten Frieden erklären sich aus den unterschiedlichen Kontexten und geschichtlichen Prägungen der verschiedenen Mitgliedskirchen, die zugleich sehr unterschiedliche Sichtweisen im Blick auf den Weg zum Frieden einbringen.45 In der ökumenischen Debatte lassen sich drei zentrale Positionen ausmachen:
1. Die christlich-pazifistische Position, die bezüglich der Responsibility to React ausschließlich zivile, nichtmilitärische Interventionen unterstützt: Dazu gehören vor allem die historischen Friedenskirchen mit ihrem klaren Bekenntnis zur Gewaltfreiheit. Dieses Bekenntnis stehe weniger für eine Gesinnungslogik (im Sinne der „Wahrung der Reinheit der eigenen Gesinnung“46), eher für einen Verantwortungspazifismus. Zum einen argumentieren die Friedenskirchen politisch: „Der Gebrauch von Gewalt als ‚letztem Mittel‘, um Gerechtigkeit zu erzielen, schafft Bedingungen, die die Herstellung von Gerechtigkeit verhindern.“47 So bestehe die Gefahr, dass militärische Gewalt auch als Ultima Ratio der Gewaltlogik verhaftet bleibe (einschließlich ihrer Folgen wie der Legitimierung von Waffenproduktion und Rüstungsexporten oder der Entwicklung neuer Technologien). Gefragt seien stattdessen alternative zivile und gewaltfreie Handlungsmöglichkeiten. Aus theologisch-ethischer Perspektive sei Gewaltfreiheit nicht schlicht eine Handlungsoption, sondern gelte vielmehr „als eine einzuübende Haltung im gesamten Leben, weil sie den Kern des christlichen Bekenntnisses erst glaubwürdig macht“.48
2. Die Position des unbedingten Schutzes der Menschenrechte: Dabei sei militärische Gewalt als letztes Mittel zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen nicht kategorisch auszuschließen. Zu dieser Gruppe gehört u.a. die Evangelische Kirche in Deutschland. In ihrer Friedensdenkschrift argumentiert sie mit dem inneren Zusammenhang von Frieden, Recht und Gerechtigkeit. So liege dem gerechten Frieden perspektivisch eine „kooperativ verfasste Ordnung ohne Weltregierung“49 mit einem System kollektiver Sicherheit zugrunde. Zu seiner Verwirklichung sei der gerechte Frieden auf das Recht angewiesen,50 das wiederum „auf Durchsetzbarkeit angelegt“51 sei. Damit stellt sich dann auch die Frage nach den ethischen Kriterien des Gewaltgebrauchs. Diesbezüglich steht der Terminus der „rechtserhaltenden Gewalt“ im Fokus der Friedensdenkschrift, verbunden mit der Absage an die Lehre vom gerechten Krieg. So heißt es explizit in der Friedensdenkschrift: „Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom bellum iustum keinen Platz mehr.“52, 53
3. Die Position der Lehre vom gerechten Krieg: Diese Perspektive ist nach wie vor im angloamerikanischen Raum vorherrschend, u.a. in der anglikanischen Kirche Englands. Dabei werde der gerechte Frieden mit seinem Vorrang gewaltfreier Lösungen durchaus bejaht. Wenn allerdings Politiker signalisieren, „dass sie die Anwendung militärischer Gewalt in Erwägung ziehen“, dann sei es „die Aufgabe der Kirchen, sie zu fragen, ob sie denn wirklich alle Bedingungen für einen gerechten Krieg geprüft haben“.54 Auch gehöre über die Extremfälle der R2P hinaus „die Gewaltanwendung zum Schutz einer Gemeinschaft“ (z.B. die Freiheit Berlins im Kalten Krieg) zum möglichen Szenario eines gerechten Krieges.55 Im Rahmen der Entfaltung und Anwendung der bellum iustum-Lehre im Horizont gegenwärtiger Herausforderungen werde der gerechte Frieden dann auch eher als Teilaspekt des gerechten Krieges (im Sinne eines ius post bellum) begriffen: „Any discussion of just war is precisely to protect just peace.“56 So entbrannte in Kingston auch eine heftige Diskussion um die Formulierung im Aufruf zum gerechten Frieden, wonach „die Berufung auf das Konzept eines gerechten Krieges‘ und dessen übliche Anwendung als obsolet zu erachten“57 sei. Die abschließende Botschaft der Friedenskonvokation formulierte dann als Kompromissformel, im Bekennen zum gerechten Frieden „über die Lehre vom gerechten Krieg hinaus[zugehen]“.58