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2. Der gerechte ewige Friede als Vervollkommnung der gewöhnlichen Frieden
ОглавлениеDer Friede ist der Gegensatz vom Krieg als einem Konflikt, in dem organisierte und bewaffnete physische Gewalt durch eine Entität eingesetzt wird, deren Existenzberechtigung (anders als z.B. bei einer Räuberbande) nicht im Gebrauch einer solchen Gewalt besteht. Seit Kants Friedensschrift wird der Friede als zweistufig gedacht. Auf der ersten Stufe steht die momentane Konfliktlosigkeit, die Kant für einen bloßen Waffenstillstand hält.3 Auf der zweiten Stufe steht eine stabile institutionelle Ordnung, die einen immerwährenden Frieden garantiert. Bei Kant ist das richtige Wort für den Frieden erster Stufe der Naturzustand, ein Begriff, den Kant von Hobbes übernimmt. Denn bereits Hobbes verstand unter diesem Begriff keinen wirklichen Konflikt, sondern einen Zustand, in dem jederzeit ein Konflikt ausbrechen kann. Das Gegenteil vom Naturzustand ist der Zivilzustand. Wenn die beiden genannten Stufen voneinander unterschieden werden, erweist sich, dass die These, nach der Friede und Gerechtigkeit einander stützen und gegenseitig für ihren Fortbestand sorgen, wenn sie die passende institutionelle Organisation erhalten, lediglich auf der zweiten Stufe vertreten wird, obwohl es auf der ersten Stufe durchaus einen gerechten Frieden geben kann.
Da sich der Friede zweiter Stufe durch eine institutionelle Ordnung auszeichnet, ist die Gerechtigkeit als gerechte institutionelle Ordnung von der Gerechtigkeit als Katalog von Regeln zu unterscheiden, die Konfliktparteien beachten sollen. Der Einfachheit halber bezeichne ich im Folgenden jene Art der Gerechtigkeit die Gerechtigkeit zweiter Stufe, diese Art aber die Gerechtigkeit erster Stufe. Die jeweilige erste Stufe des Friedens und der Gerechtigkeit entsprechen der Rawls’schen „nicht idealen“ Theorie in Rawls’ Das Recht der Völker. Die jeweilige zweite Stufe des Friedens und der Gerechtigkeit entsprechen der „idealen Theorie“ in Rawls’ Das Recht der Völker. Auf der ersten Stufe lässt sich Folgendes beobachten:
1. Gerechtigkeit bringt nicht notwendigerweise Frieden mit sich. Denn es kann beispielweise Uneinigkeit entweder über die Gerechtigkeitsprinzipien oder über deren Auslegung bestehen, und unter Umständen kann diese Uneinigkeit einen Kriegseintritt rechtfertigen.
2. Friede bringt nicht notwendigerweise Gerechtigkeit mit sich. Denn Friede mag auf einem ungerechten Gebrauch von Macht und Zwangsmitteln beruhen. Genauso kann das Ergebnis eines Krieges im Sieg einer Kriegspartei bestehen, deren Absicht es ist, die Herrschaft ihrer Willkür durch Anwendung von Gewalt und Zwang zu errichten.
3. Ungerechtigkeit bringt nicht notwendigerweise Krieg mit sich. Denn die vorhersehbaren Übel eines solchen Krieges (Opfer, Schäden, Hang zu besonders ungerechten Verhaltensmustern usw.) mögen das Übel übersteigen, das die genannte Ungerechtigkeit darstellt bzw. verursacht. Außerdem kann es sein, dass die Opfer der Ungerechtigkeit deswegen nicht zum Krieg greifen, weil sie grundsätzlich gegen den Krieg sind, weil sie Angst vor dessen Ergebnis haben oder auch weil sie über keine ausreichenden Mittel zur Kriegsführung verfügen.
4. Krieg bringt nicht notwendigerweise Ungerechtigkeit mit sich. Es kann sein, dass die vom Krieg verursachten Übel kleiner sind als das begangene Unrecht, und der Krieg kann zur Errichtung eines gerechten Zustandes führen.
Außerdem gibt es Umstände, unter denen die jeweilige erste Stufe des Friedens und der Gerechtigkeit gleichzeitig herrschen und entweder die Friedfertigkeit die Parteien zu einem gerechten Verhalten oder ein gerechtes Verhalten die Parteien zum Frieden motiviert. Dennoch können solche Umstände aus den im Punkt 1 erwähnten Gründen nicht ewig herrschen, so dass die erste Stufe der Gerechtigkeit und des Friedens grundsätzlich gefährdet ist und erst dann dauerhaft garantiert wird, wenn sowohl der Friede als auch die Gerechtigkeit die zweite Stufe erreichen. Darum ist die jeweils erste Stufe in der teleologischen Perspektive in die jeweils zweite Stufe zu integrieren. Denn nur die zweite Stufe bedeutet Stabilität, insoweit nur sie dauerhaft (ständig) für ihre eigene Unterstützung sorgt.
Was ist aber der Weg zur zweiten Stufe? In der heutzutage vorherrschenden Auffassung ist der direkte Übergang von der ersten zur zweiten Stufe nicht möglich. Zwar scheint ein erheblicher Teil der Tradition der Gesellschaftsvertragstheorien dieser Auffassung zu widersprechen. Solche Vertragstheorien wie die Locke’sche verstehen den Naturzustand nicht als einen Zustand des Krieges aller gegen alle. In Lockes Ausgangssituation gibt es vielmehr vor dem Vertrag eine Gesellschaft, die die bürgervertraglichen Institutionen lediglich vor Verletzungen der Naturrechte schützt.4 In einer anderen Art von Gesellschaftsvertragstheorie, zu der Hobbes’ Leviathan und Rousseaus Vom Gesellschaftsvertrag gehören, geht aber der Mensch vom Naturzustand als Zustand des Krieges aller gegen alle und des Unrechts zu einem auf gemeinsamen und stabilen Institutionen gegründeten Frieden über. Ein solcher direkter Übergang von einem Zustand, in dem Friede und Gerechtigkeit völlig fehlen, zu einem gerechten und stabilen Friedenszustand kann jedoch nur im Rahmen einer bestimmten Art von Gedankenexperiment stattfinden. Solche Gedankenexperimente sind nicht dazu bestimmt, die Entstehung rechtsstaatlicher Institutionen zu erklären, sondern deren Existenz zu rechtfertigen: Es geht darum, das Bestehen des (Rechts-)Staates zu legitimieren und die Bedingungen seiner Legitimität darzustellen.
Auf den Abbildungen 1 bis 3 versuche ich, die Art und Weise darzustellen, wie der Übergang vom Hobbes’schen Naturzustand zum kantischen Frieden zweiter Stufe heutzutage meistens konzipiert wird. Diese Konzeption beschränkt sich nicht auf eine der beiden Dimensionen des Krieges, nämlich entweder auf die innerstaatliche oder auf die internationale Dimension. Darum enthalten meine Abbildungen beide Dimensionen, denen ich noch die innere Dimension der moralischen Konflikte in jedem einzelnen Individuum – dasjenige, was in Kants Religionsschrift der Kampf zwischen dem Prinzip des Guten und dem Prinzip des Bösen genannt wird – hinzufüge. Um jegliches Missverständnis auszuräumen, ist schon jetzt hinzuzufügen, dass meine Abbildungen in Bezug auf den internationalen Krieg und den internationalen Frieden nicht die kantische Konzeption des Übergangs vom Natur- zum Rechtszustand vorstellen, wie ich später erklären werde. In diesen Abbildungen beziehen sich also die Pfeile nicht auf Kant, sondern auf die Theorien des gerechten Krieges, die vor Kants Zum ewigen Frieden formuliert wurden und seitdem neben der kantischen Tradition fortbestehen. Die traditionellen Theorien des gerechten Krieges, die ich später erörtern werde, enthalten weder einen Frieden zweiter Stufe noch eine Gerechtigkeit zweiter Stufe. Darum wird in der Abbildung 1 versucht, das heutzutage vorherrschende Modell zu rekonstruieren, das auf der Kombination der beiden anderen genannten Modelle beruht. Den Abbildungen 1 bis 3 liegen zwei Annahmen zugrunde: 1. Der Friede erster Stufe bzw. das Fehlen eines solchen Friedens, 2. die Gerechtigkeit erster Stufe bzw. das Fehlen einer solchen Gerechtigkeit. Da – anders als die Gerechtigkeit zweiter Stufe – die Gerechtigkeit erster Stufe nicht auf Institutionen, sondern auf dem Verhalten der Akteure beruht, stehen auf den Abbildungen keine gerechten Institutionen, sondern die Zwecke gerechter Akteure. Selbstverständlich können die Akteure auch Institutionen sein – z.B. können sie im internationalen Kontext Staaten sein –, aber diese institutionellen Akteure fungieren dann nicht als allen Akteuren gemeinsame Institutionen, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren regeln, sondern als Akteure unter anderen Akteuren.
Der Friede und die Gerechtigkeit zweiter Stufe entstanden 1795 mit Kants Zum ewigen Frieden. Auf der Abbildung 1 stehen sie nur als Telos gerechter Akteure bei einem Frieden erster Stufe (siehe das obere linke Feld auf den drei Abbildungen). Die Pfeile stellen den möglichen Weg solcher friedens- und gerechtigkeitssuchenden Akteure zum Frieden zweiter Stufe und zur Gerechtigkeit zweiter Stufe dar. Diese Abbildungen übernehmen die wichtigsten Thesen und die Termini der einschlägigen Theorien des gerechten Krieges, der Vertragstheorien und der Moraltheorien.
Abbildung 1: Internationaler Friede und internationale Gerechtigkeit 5
Abbildung 2: Friede und Gerechtigkeit innerhalb der einzelnen Gesellschaften 6
Anhand der Abbildung 1 lässt sich beobachten:
1. dass kein Pfeil zum rechten oberen Feld führt (d.h. zu einem Frieden erster Stufe zwischen ungerechten Akteuren);
2. dass kein Pfeil vom rechten oberen Feld zum linken oberen Feld führt, d.h. vom Frieden erster Stufe mit ungerechten Akteuren – und daher vom ungerechten Frieden – zum gerechten Frieden zweiter Stufe.
Abbildung 3: Innerer Friede und innere Gerechtigkeit des Einzelmenschen
Mit anderen Worten:
1. Ein besonders ungerechter Friede erster Stufe ist nie einem gerechten Krieg vorzuziehen.
2. Es ist kein direkter Übergang von einem besonders ungerechten Frieden zu einem Frieden erster Stufe möglich, in dem gerechte Akteure einen Frieden zweiter Stufe anstreben. Der Übergang ist nur über einen gerechten Krieg möglich, der dann mit einem gerechten Frieden beendet wird.
Man könnte einwenden, dass diese Bemerkung auf der Gleichwertigkeit eines besonders ungerechten Friedens erster Stufe und der nötigen Inanspruchnahme eines gerechten Krieges beruht. Dies ist zwar der Fall, aber es kommt auch darauf an, zu untersuchen, worin ein Friede erster Stufe besteht, der zwar ungerecht, jedoch nicht besonders ungerecht ist, d.h. dessen Ungerechtigkeit kein besonders schweres Unrecht darstellt.
Es gilt zwei Quellen des Unrechts voneinander zu unterscheiden. Entweder stammt das Unrecht nicht aus einer ungerechten Absicht, sondern es erfolgt bona fide, nach bestem Wissen und Gewissen, und stammt aus einer Uneinigkeit über Gerechtigkeitsprinzipien bzw. über deren Auslegung in Streitfällen, so dass beide Parteien bona fide ihre Handlungen gegenseitig für ungerecht halten können. In diesem Fall handelt es sich um eine strukturelle Quelle des Unrechts. Oder das Unrecht stammt aus der Absicht von mindestens einer Partei, ungerecht zu handeln. In diesem Fall erfolgt das Unrecht mala fide, d.h. absichtlich und nicht strukturell.
Sowohl wenn die Quelle des Unrechts absichtlich ist als auch wenn sie strukturell ist, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip das Kriterium dafür, ob der Übergang vom ungerechten Frieden zum gerechten Krieg gerecht ist.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip fordert, 1. (im ius ad bellum) dass die Übel eines erwogenen gerechten Krieges (die Opfer, die Schäden usw.) deutlich geringer bleiben als die Übel des ungerechten Friedens sowie als die Übel aller möglichen Alternativen zur Kriegserklärung (Verhandlungen, Einberufung eines Schiedsgerichts usw.) und 2. (im ius in bello) dass, wenn der Krieg stattfindet, die von ihm verursachten Übel möglichst begrenzt bleiben. Von einem ungerechten Feind ist dauerhaftes Unrecht und Übel zu erwarten. Deshalb ist in diesem Fall das Kriterium des Verhältnismäßigkeitsprinzips oft erfüllt. In der heutzutage vorherrschenden Auffassung gibt es sogar bestimmte Feinde, die ein beinahe absolutes Übel darstellen, so dass der Krieg gegen sie um jeden Preis – d.h. auch um den Preis von Verletzungen der Regel des gerechten Krieges – gewonnen sein soll (supreme emergency exemption). Darum werden auf der Abbildung 1 aus dem rechten oberen Feld zwei Pfeile gezogen: der eine zum rechten unteren Feld (Fall des gerechten Krieges gegen einen Gegner, der mala fide handelt) und der andere zum linken unteren Feld (Fall des gerechten Krieges gegen einen Gegner, der bona fide handelt). Also lässt sich Folgendes beobachten. Im Fall eines Konflikts, in dem beide Parteien bona fide handeln, bedeutet der Kriegseintritt den Wechsel von der rechten Spalte (dem ungerechten Verhalten anderer Staaten gegenüberstehen) zur linken Spalte (dem gerechten Verhalten anderer Staaten gegenüberstehen). In den traditionellen Lehren des gerechten Krieges wird die Frage aufgeworfen, ob der Krieg beiderseits gerecht geführt werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist zweiteilig. Einerseits können, was den Inhalt des Streitfalls betrifft, nicht beide Parteien gleichzeitig Recht haben. Andererseits aber können sie durchaus beide gleichermaßen bona fide ihre Ansicht über den Streitfall verfolgen und die Regeln des gerechten Krieges beachten.