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6. Der ewige Friede ist keine Utopie
ОглавлениеAllerdings darf man die Qualität der internationalen Beziehungen zwischen republikanischen bzw. liberalen Staaten im kantischen bzw. im Rawls’schen Modell des ewigen Friedens nicht überschätzen. Zugegeben, Kant und Rawls begehen selber eine solche Überschätzung. Kant spricht nicht von einem immerwährenden Frieden – wie die englischen und die französichen Übersetzungen meinen: perpetual bzw. perpétuelle –, sondern von einem ewigen Frieden. Rawls spricht von einer „realistischen Utopie“.26 Oft wurde Kants Friedensschrift für eine utopische Vision bzw. schlechthin für eine Utopie gehalten. Nun kann weder das kantische noch das Rawls’sche Modell einen ewigen oder auch nur einen immerwährenden Frieden garantieren; und keines der beiden stellt eine Utopie dar.
Utopien sind wesentlich anders als die genannten Weltfriedensentwürfe. Zwar ist die utopische Ordnung innerlich dauerhaft friedlich, obwohl sie – wie schon bei Thomas Mores Utopie – durchaus Kriege nach außen führen kann, aber bei der Utopie steht – anders als bei den Weltfriedensentwürfen und in den Gesellschaftstheorien – nicht die Gerechtigkeit im Vordergrund, sondern das größte Glück ihrer Einwohner. Das größte Glück als summum bonum steht sowohl Hobbes’ Leviathan entgegen, dessen Aufgabe sich darauf beschränkt, das summum malum des Naturzustandes als Krieg aller gegen alle zu verlassen, als auch den Lehren des gerechten Krieges, die lediglich auf eine Begrenzung der Schäden und der Zahl der Kriegsopfer sowie auf die Einhaltung von gerechten Regeln abzielen. Die Utopien verlangen von ihren Einwohnern keine bloßen Bürgertugenden im vertragstheoretischen Sinne des Gehorsams gegenüber den Gesetzen, sondern die Befolgung umfassender strenger sozialer Normen. Utopien sehen nur minimale Zwangsmittel vor und verlassen sich vielmehr auf die Motivation zur Tugend durch das dadurch erreichbare größte Glück aller Einwohner. Zugegeben, Rawls, der sich ausdrücklich auf Kants Friedensschrift beruft, nennt seine Theorie eine „realistische Utopie“, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist sie insoweit realistisch, als sie – wie Rousseaus Vertragstheorie – die Menschen so annimmt, wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie in einer wohlgeordneten Gesellschaft sein sollten. Zweitens ist sie utopisch, weil sie Ideale sowie staatsphilosophische Begriffe und Prinzipien verwendet, um Grundsätze für eine vernünftige und gerechte Gesellschaft zu bestimmen. Nun nehmen die Utopien die Menschen nicht so an, wie sie sind, sondern wie sie in der utopischen Ordnung sein könnten. Außerdem ist die Verwendung von Idealen sowie von staatsphilosophischen Begriffen und Prinzipien, um Grundsätze für eine vernünftige und gerechte Gesellschaft zu bestimmen, nicht für die Utopie spezifisch, sondern bei allen normativen Theorien vorhanden. Wie wir gesehen haben, hat die Utopie viel spezifischere Merkmale.
Die Stabilität der Utopien – vorausgesetzt dass sich Utopien je verwirklichen lassen – kann nur größer sein als diejenige in Kants Friedensmodell sowie diejenige der Vertragstheorien. Die Utopie verspricht ihren Einwohnern mehr als letztere: nicht nur den Frieden und die Gerechtigkeit, sondern auch das vollkommene Glück. Dieser distributive Vorteil darf als stärkere Motivation als das bloße Streben nach einem gerechten Frieden gelten. Dennoch können sich weder die Utopien noch die Entwürfe eines ewigen Friedens noch Vertragstheorien vor der folgenden Gefahr vollkommen schützen. Selbst derjenige Mensch, der das Glück bzw. die distributiven Vorteile der Gerechtigkeit genießt, kann Begierden entwickeln, deren gleichzeitige Erfüllung bei allen Menschen bzw. bei allen Völkern unmöglich ist. Neid, „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht“27 können auch Menschen oder Völker motivieren, die die distributiven Vorteile eines gerechten Zustandes genießen und sich daher für glücklich – wenn auch nicht für vollkommen glücklich – halten sollten. Solche Motive führen zur Begehung von Unrecht und zur Schadenzufügung. Lesen wir nochmals Kants Erklärung für den Zusammenhang zwischen dem ewigen Frieden und der republikanischen Regierung: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle, oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten […], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen […].“28 Kants Schlussfolgerung ist aber ein Fehlschluss. Neid, Ehrsucht, Herrsucht und Habsucht können durchaus sowohl einzelne Bürger als auch einzelne Völker dazu bewegen, das Abenteuer eines Krieges einzugehen und Schäden und Opfer in Kauf zu nehmen, solange sie die Hoffnung zum Sieg bewegt. Keine innere Verfassung und keine internationale Institution könnte je gänzlich gegen solche Motive immunisieren, obgleich manche Arten von Verfassungen bzw. von internationalen Institutionen weniger anfällig als andere sind. Darum lässt sich der Teufelskreis der Abbildung 1 nicht völlig durchbrechen, so durchdacht die Institutionen auch immer gestaltet werden mögen. Der Unterschied zwischen einem gerechten Frieden erster Stufe und einem gerechten Frieden zweiter Stufe ist nicht radikal, sondern nur relativ, obwohl er durchaus beträchtlich ist.
Kants Zum ewigen Frieden ist nicht das einzige Werk, das diesen Unterschied überschätzt. Das 8. Kapitel von Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit vertritt die Ansicht, dass gerechte Institutionen, die jedem Mitglied einen distributiven Vorteil gewähren, bei jedem Mitglied einen „Sinn für Gerechtigkeit“ hervorrufen. Dieser Sinn für Gerechtigkeit motiviere nach Rawls die Bürger wiederum zum Gehorsam sowie zur Förderung und Verbesserung der genannten gerechten Institutionen. Auf diese Weise – so Rawls – wird dem Neid sein Nährboden entzogen. Dieselbe Rolle spielt bei Rousseau die „bürgerliche Religion“. Auf diese Weise rufen gerechte Institutionen per se die Bedingungen ihrer Stabilität hervor, so dass ein Tugendkreis besteht. Wegen der o.g. asozialen Motivationen steht dieser Tugendkreis m.E. ständig in Gefahr, durch einen Teufelskreis verdrängt zu werden. Der ewige gerechte Friede scheint mir daher eine Illusion zu sein, obgleich er im Grunde genommen nicht utopisch ist.