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3. Das Modell der traditionellen Lehren des gerechten Krieges
ОглавлениеDer Hauptunterschied zwischen der oben dargestellten, heutzutage vorherrschenden Auffassung und dem Modell der traditionellen Lehren des gerechten Krieges besteht darin, dass in den traditionellen Lehren des gerechten Krieges die Errichtung eines Friedens zweiter Stufe und einer Gerechtigkeit zweiter Stufe nicht verfolgt wird, wenn der Friede erster Stufe und die Gerechtigkeit erster Stufe wieder einmal erreicht werden. Die Abwesenheit der jeweiligen zweiten Stufe in den traditionellen Theorien des gerechten Krieges ist kein Versehen. Vielmehr resultiert sie aus der Tatsache, dass es keinen Richter gibt, der über Streitfälle zwischen den Fürsten entscheidet, sowie aus der Überzeugung, dass es keinen solchen Richter je geben könnte. Damit fehlen nicht nur die Rechtskraft und die Vollstreckbarkeit des gerechten und unparteiischen Urteils über einen Streitfall samt Zwangsbefugnis, sondern es fehlt bereits die Möglichkeit, ein gerechtes und unparteiisches Urteil zu treffen. Nach der Perspektive der Entwürfe eines ewigen Friedens sowie nach der heuzutage vorherrschenden Auffassung über den Krieg fehlt ein Richter für die Streitfälle zwischen Fürsten bzw. Staaten aus historischen Gründen. Dagegen sind in der heutzutage vorherrschenden Auffassung globale Institutionen denkbar, die die Rolle des fehlenden Richters übernehmen würden.
Nach Beendigung eines gerechten Krieges zwischen Parteien, die den Krieg bona fide geführt haben, bleibt nach den traditionellen Lehren des gerechten Krieges also die strukturelle Quelle des Unrechts erhalten. Wenn ein neues strukturelles Unrecht vorkommt und die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfüllt sind, findet daher ein neuer gerechter Krieg statt. Außerdem kann weiterhin ein mala fide handelnder Akteur vorkommen, der absichtlich ein Unrecht begeht, was zu einem gerechten Krieg führen kann, vorausgesetzt dass die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfüllt sind. Auf diese Weise wiederholen sich die gerechten Kriege. Darum habe ich auf der Abbildung 4, die die traditionellen Lehren des gerechten Krieges darstellt, einen doppelten Pfeil gezogen, weil in beiden Richtungen eine Entwicklung vorzuziehen sein mag.
Die Folge dieses Pfeils in beiden Richtungen besteht darin, dass das linke obere Feld (der ungerechte Friedenszustand) kein Feld mehr ist, zu dem kein Pfeil führen würde, d.h. das keinem einzigen anderen Feld vorgezogen werden könnte. In der Tat ist der ungerechte Friede, solange er nicht so ungerecht ist, dass die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfüllt wären, einem Krieg um Gerechtigkeit vorzuziehen, der das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletzen würde, weil der Krieg aufhören würde, die anfänglich erfüllten Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu erfüllen (z.B. weil die Anzahl der Opfer und der Umfang der Schäden in einem Ausmaß zunehmen, der bei der Kriegserklärung unvorhersehbar war). Außerdem ist das rechte obere Feld auch kein Feld, das nicht direkt zum oberen linken Feld führen würde. Im Gegenteil sind die beiden oberen Felder gleichwertig. Im Grunde genommen handelt es sich um einen Äquivalenzpfeil. Denn der Zweck/Sinn des oberen linken Feldes besteht nicht mehr darin, zu einer zweiten Stufe des Friedens und der Gerechtigkeit zu gelangen, sondern die erste Stufe zu bewahren, indem jeder Krieg abgelehnt wird, der die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht erfüllt. Die Pfeile bilden einen Kreis, welcher – sowohl nach Kant als auch nach der heutzutage vorherschenden Auffassung – ein Teufelskreis ist, weil auf einen gerechten Frieden schließlich immer wieder ein gerechter Krieg folgt. Mit Kant wurde dieser Teufelskreis durch das Telos des ewigen gerechten Friedens ersetzt.
Abbildung 4: Internationaler Friede und internationale Gerechtigkeit in den traditionellen, vorkantianischen Theorien des gerechten Krieges