Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 11
MEINE STIEFTOCHTER KATHARINA: »Ich hörte an der Stimme
meines Vaters, wie sehr
er verzweifelt war.«
ОглавлениеMein Papi und ich haben immer sehr viel Zeit miteinander verbracht. Schon als ich noch ganz klein war. Ich kenne ihn fast so gut wie mich selbst. Was wahrscheinlich daran liegt, dass wir uns so ähnlich sind. Wir lieben Filme und schluchzen schon, bevor die traurigen Szenen überhaupt beginnen. Wir sind beide etwas hypochondrisch und gehen beim kleinsten Zwicken panisch zum Arzt. Wir schauen zum Beispiel sechs Stunden auf den Bildschirm des Computers, sehen dann schwarze Punkte und befürchten sofort, blind zu werden. Wer so hypochondrisch ist wie wir, ist natürlich auch ein hundertprozentiger Kümmerer. Wir können nachfühlen, wie andere Menschen leiden, und wollen ihnen sofort helfen. Erst einmal Fieber messen. Dann ein Pfefferminztee? Ein kalter Wadenwickel? Vielleicht eine Schmerztablette? Oder eine Hühnerbrühe – die hilft immer. Mein Vater und ich genießen es, jemanden rund um die Uhr zu bemuttern. Danach verlangen wir aber auch umgekehrt – und sei es auch nur, weil wir winziges Magendrücken verspüren.
Es gibt aber Menschen, die sind einfach zu stolz, um zu krank zu sein, zu stolz, um zuzugeben, dass es ihnen nicht gut geht. Conny beispielsweise. Klassischer Fall. Eine richtige Grippe mit Husten, Fieber und Rückenschmerzen? Andere gehen zum Arzt und legen sich ins Bett. Vernünftig. Conny? Augen zu und durch. Geht auf High Heels mit stolz erhobenem Kopf und einer Großpackung Papiertaschentüchern sowie Hustensaft in die Redaktion. Nach einem Presse-Dinner hatte sie mal eine richtig schlimme Fischvergiftung. Hat fast die ganze Nacht im Badezimmer verbracht. Musste sich dauernd übergeben. Und morgens? Duschen, das blasse Gesicht schminken und so tun, als sei nichts passiert. Nach dem Motto: »Danke, es geht mir gut. Mich haut nichts um. Ich bin die starke Frau, die nichts erschüttern kann.«
Vor ein paar Wochen bin ich zu meinem Freund Robert nach Berlin gezogen und hatte meinen Vater schon seit Tagen anrufen wollen, weil es eine Neuigkeit gab. Meine Mutter wusste es schon. Und nun wollte ich auch meinen Papi überraschen.
Ich saß gerade in einem Café bei uns um die Ecke und hatte mir einen Latte macchiato bestellt, als das Handy klingelte. Temperatur: 29 Grad. Veilchenblauer Himmel. Die Blätter in den Bäumen glitzerten wie silberne Federn. Es war einer von diesen Tagen, an denen plötzlich alle Leute lächeln, als hätten sie sich gerade frisch verliebt. An denen einem nicht mal ein Brief vom Finanzamt die Laune verderben kann. Na ja, kommt drauf an ...
»Hallo, Papi!« Ich nahm die Sonnenbrille ab, ohne kann ich besser reden. Denn was ich meinem Vater schon seit Tagen erzählen wollte, war sehr wichtig für mich und für ihn und überhaupt. Es würde alles verändern. Und dann hörte ich ihn sagen: »Es ist etwas passiert ... Conny war beim Arzt. Sie hat Krebs. Lungenkrebs. Sie ist tapfer. Aber es ist alles nicht einfach ...«
Ich hörte an der Stimme meines Vaters, wie sehr er litt, wie sehr diese Situation ihn quälte. Wie verzweifelt er war, wie viel Angst er hatte. Und dass er stark sein wollte, weil seine Frau ihn brauchte.
Mir fehlten in diesem Moment die Worte. Das sagt man immer so. Aber wenn eine Situation wie diese eintritt, dann weiß man, dass das wirklich stimmt. Dass es das gibt. Der Kopf ist einfach leer und nirgendwo im Gehirn ist auch nur ein einziges Wort zu finden. Alle Wörter haben sich versteckt.
Krebs – davon hört man immer nur. Diese Krankheit haben stets nur andere. Und jetzt war der Krebs so nah in meinem Leben. Er bedrohte unsere Familie. Mir war plötzlich kalt. Mein Vater versuchte, die ganze Situation etwas zu entschärfen, er sprach von Ärzten und Operationen und von dem Mut, den Conny zeigte.
»Ihr Optimismus hilft mir. Du kennst sie ja ... Er gibt mir Kraft, die ich jetzt dringend brauche.«
Ich versprach ihm, Conny noch am selben Tag anzurufen. »Und wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann, Papi, egal, was, dann sag es mir. Ich helfe sofort. Jederzeit. Was auch immer es ist.«
»Das ist lieb von dir, danke. Ich muss jetzt auflegen.«
»Ciao, Papi. Ich hab dich lieb.« Ich drückte auf »Beenden«.
Mein Latte macchiato war kalt geworden. Tränen stiegen mir in die Augen. Eigentlich hatte ich meinem Papi schon seit Tagen sagen wollen, dass ich schwanger war. Ein Baby erwartete. Dass er Opa werden würde. In ein paar Monaten würde mein erstes Kind zur Welt kommen. Aber wie hätte ich meinem Vater das in dieser Situation sagen können?