Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 22
ANFANG JUNI 2012,
DER MORGEN NACH DER OPERATION Von einem Tag
zum anderen bin ich
zu einem Junkie geworden.
ОглавлениеHeute darf ich die Intensivstation verlassen und zurück in mein Zimmer. Schmerzen? Nein. Nichts. Gar nichts. Aber ich werde auch mit Tabletten gefüttert – morgens sechs, mittags vier, abends sechs und vor dem Einschlafen noch einmal eine. Schwester Daniela hat meine Tablettenbox, die jeden Morgen frisch gefüllt auf den Nachttisch gelegt wird, mit einer lachenden Sonne, Blumen und meinem Namen verziert. Das gefällt mir, das zaubert jeden Morgen ein Lächeln auf mein Gesicht.
Ich werde außerdem mit einem Schmerzmittel versorgt, das in einem durchsichtigen Beutel an einem Infusionsständer hängt. Welches Mittel? Ist mir ganz egal. Es wirkt. Das zählt. An so einem kleinen Gerät an dem Infusionsständer können die Schwestern einstellen, mit welcher Geschwindigkeit die Anti-Schmerz-Flüssigkeit über den PDK in mich hineintropft. Das Beste: Da gibt es einen Knopf an einer langen Schnur – den sogenannten Bolus-Knopf –, den der Patient in die Hand nehmen kann, wo er einfach draufdrückt und sich so mit einer Extraportion Schmerzmittel versorgen kann.
Ich mutiere zum beduselten Junkie. Noch mal drücken. Ach, noch mal drücken. Kann ja nicht schaden. Und vielleicht noch ein gaaanz kleiner Bolus zum Schluss?
Irgendwie habe ich schon ein schlechtes Gewissen. Ich bin doch sonst immer die starke, stolze Frau, die nicht jammert oder sich den Bauch hält, auch wenn sie noch so starke Magenschmerzen hat. Und nun? »Du bist ein Weichei, Conny«, schimpfe ich mit mir. Aber im Moment kann ich damit leben.
Am nächsten Morgen kommt Professor Hatz zur außerordentlichen Visite zu mir. »Außerordentlich«, das heißt, er kommt allein, ohne die übliche Entourage der anderen Ärzte, Assistenten, Schwestern und Medizinstudenten. »Tja, also, der Tumor rechts ist raus, Frau Eyssen. Die OP ist sehr gut gelaufen.«
Ich lächle ihn an. Ich bin so beseelt, dass der erste Tumor raus aus meinem Körper ist.
Der Ton von Professor Hatz wird eine Spur ernster: »Ob der Tumor links oben in Ihrer Lunge eine Metastase ist oder eine zweite Krebsgeschwulst, das können wir nicht mit Sicherheit sagen. So ein Synchrontumor, der unabhängig voneinander an zwei verschiedenen Stellen im Körper wächst, ist sehr selten, aber ich tippe eher darauf als auf eine Metastase.«
»Macht das irgendeinen Unterschied für mich?«
»Ja, bei einer Metastase muss man davon ausgehen, dass der Primärtumor nicht nur die eine, sondern auch noch andere gebildet hat.«
»Dann nehme ich den Synchronkrebs.«
Professor Hatz schaut mich etwas irritiert an. Ich begreife: Meine Art von Humor kommt nicht bei jedem gut an. Er will dann noch wissen, ob ich Schmerzen habe. Ich schüttele den Kopf. Das beruhigt ihn: »Gut, gut. Denn dann werden Sie auch schneller gesund.«
Schneller gesund werden – das gefällt mir. Ich bin zwar von den ganzen Medikamenten etwas wirr im Kopf, aber heftig glücklich. Der Tumor ist raus! Der Tumor ist raus! Einen bin ich schon los! Ja, ja, ja! Da drücke ich doch gleich noch einmal auf den kleinen, hübschen Bolus-Knopf. Könnte ja sein, dass ich Schmerzen bekomme. Könnte es auch sein, dass ich von den Schmerzmitteln verblödet bin?!
In der nächsten Stunde heule ich vor Kummer. Ein total nichtiger, ein blöder Anlass. Mein Mann hat angerufen, er geht abends mit Freunden zum Essen. Einfach mal raus, mal ausspannen, nicht über Tod und Krankheiten, Operationen und Schmerzen reden. Ich verstehe ihn so gut. Aber ich bin gleichzeitig unendlich traurig. Wieso geht das Leben draußen weiter, wenn ich hier in der Klinik liege und keine Freunde treffen, nicht essen gehen, nicht lachen, nicht einfach ein normaler, gesunder Mensch sein kann? Wie können sich mein Mann und unsere Freunde amüsieren, obwohl ich krank bin? Denken sie denn gar nicht daran, wie ich mich fühle? Denken sie nicht daran, ob ich Schmerzen haben könnte? Ich weiß, es ist ein absolut kindisches Verhalten. Aber ich kann es nicht abstellen. Und ich weiß natürlich, dass meine Gedanken ungerecht und böse sind. Dass ich neidisch bin, dass es anderen gut geht und mir nicht. Obwohl ich ja dankbar sein müsste für all die Liebe und Fürsorge meines Mannes, der Familie und unserer Freunde. Ich schäme mich schrecklich. Und weine mich in den Schlaf. Was so eine Krankheit doch aus einem macht…
Ach ja: Meine Make-up-Armee inklusive Vergrößerungsspiegel auf dem Schreibtisch im Erker steht seit der Operation arbeitslos da. Ich bin zu schwach und zu fertig, um mich zu schminken. Es ist mir im Moment auch egal, ob ich hübsch aussehe oder nicht.