Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 18
ENDE MAI 2012 Der Tag, an dem ich
Anna Dello Russo
in der Bronchoskopie traf
ОглавлениеZwei Wochen nach der Diagnose. Dank der Vermittlung unserer lieben Freundin Elke und ihres Mannes, Professor Bruno Reichart, haben wir inzwischen einen Arzt gefunden, der als Kapazität auf meinem Problemgebiet Lungenkrebs gilt: Professor Rudolf Hatz, Leiter der Thoraxchirurgie in der Asklepios Klinik in Gauting bei München, einer angesehenen Spezialklinik für Lungenkrankheiten. Wir haben heute die erste Besprechung mit Professor Hatz.
Die Klinik sieht aus wie ein Erholungsheim. Das Erste, was mir auffällt: Es riecht NICHT nach Krankenhaus. Man wird von jeder Schwester und jedem Arzt auf dem Gang mit einem freundlichen »Guten Tag« und einem Lächeln begrüßt.
Im Vorzimmer von Professor Hatz. Neben der Tür ein Umzugskarton voller Akten. Alte? Zum Abheften? Oder aktuelle? Haben die keine Computer hier? Die Sekretärin bringt uns ins Besprechungszimmer ihres Chefs. Sieht gar nicht aus wie bei einem Arzt. Runder Tisch mit fünf Stühlen, großer Schreibtisch mit Computer (also doch Computer – gut!), Regale voller Bücher (Fachliteratur) und eine kleine Ecke mit einem Waschbecken, die durch einen Vorhang abzutrennen ist.
Nach einem Vorgespräch über meine Müdigkeit, die Atemnot, den Gewichtsverlust et cetera sieht er sich den Befund der Biopsie an.
Professor Hatz: »Wir müssen erst einmal ein neues CT und eine Bronchoskopie machen. Damit wir wirklich genau wissen, was Sie haben, Frau Eyssen.«
Mein Herz sackt tief. Tiefer. Noch tiefer. Ins Bodenlose. Ich habe die große Zeichnung an der Tür im Gang der Klinik in Bogenhausen sofort vor Augen. Metallstange! Laaange Metallstange! Direkt durch den Mund in die Luftröhre bis in die Lunge! Atemnot! Neeeeeein!
Müsse aber sein. Sagt Professor Hatz. »Sie merken gar nichts. Wirklich. So eine Bronchoskopie – das ist nichts.« Seine Hände schwingen in die Luft, als wolle er links und rechts Luftballons auffangen, die von der Decke fallen.
»Nichts? Da bekommt man ein Metallrohr in den Hals bis hin zur Lunge geschoben! Und das nennen Sie ›nichts‹?«
»Glauben Sie mir. Das macht man sogar bei kleinen Kindern, und die gehen hinterher putzmunter zum Spielen. Das tut wirklich nicht weh. Ich verspreche es Ihnen.«
»Wenn Sie es versprechen ... Aber ich nehme Sie beim Wort.« Ich will jetzt keine Memme mehr sein. Sondern voll cool und tapfer.
Einen Tag später in der Bronchoskopie-Abteilung der Klinik. Ich muss warten und blättere in der »Bunten«. Eine Fotostrecke über die letzte Fashion Week in Paris. Sehnsucht und Wut blubbern in meinem Herzen. Ich konnte dieses Jahr ja nicht nach Paris! Scheißkrebs. Außerdem waren die Einladungen natürlich alle an die Redaktionsadresse geschickt worden. Da konnte meine Nachfolgerin sich aber freuen. Schlecht gelaunt, nein, eher traurig sitze ich in einem viel zu großen weißen Bademantel (Eigentum der Klinik) im Gang der Bronchoskopie und schaue mir die Fotos in der »Bunten« an. Anna Dello Russo, die Chefredakteurin der japanischen »Vogue«, die bei keiner Fashion Week fehlt, wieder einmal voll verkleidet. Zu jeder Show ein anderes Outfit. Und pro Tag werden in Paris fünf bis acht Shows gezeigt. Plus abendliche Fashion-Cocktails. Mir sind ihre Stylings zu overdone. Aber das gehört zu ihrem Image. Zu Gaultier trägt sie ein mini-mini-kurzes schwarzes Kleid mit Keulenärmeln und Tutu-Röckchen, das gerade den Popo bedeckt (nun ja, schöne Beine hat sie, da kann ich nicht meckern). In der Taille wird es von einem silberfarbenen Gürtel mit den Ausmaßen einer ausgewachsenen Python auf Figur gebracht. Das lange, überhängende Ende hat sie einmal um den Gürtel geschlungen und verknotet. Die Schnalle besteht aus zwei sich küssenden Fischköpfen. Später, bei Balmain, erscheint sie dann in einem Seidenkleid, das aussieht, als hätte man John Galliano gebeten, aus einem Weleda-Wischmop ein Runway-Modell zu designen. Bei Chanel erscheint sie mit einem Hut mit Micky-Maus-Ohren!
»Frau Eyssen, bitte?!«
Die Realität holt mich ein. Mein Herz setzt einen Schlag aus, schlägt dann umso heftiger weiter. Bis zum Hals. Jetzt geht es los. Die BRONCHOSKOPIE! Dabei hatte mich die Geschichte über die Fashion Week mit den Bildern von Anna Dello Russo so schön von meiner Angst abgelenkt, mich für kurze Zeit aus diesem Krankenhausgang ins schöne Paris und in meine geliebte Zeit in der Chefredaktion meiner Frauenmagazine entführt.
»Ja, ich komme schon.« Schnell noch einmal tief durchatmen.
Ich stehe vor einer Schwester, der ich die Zunge herausstrecke (auf ihre Aufforderung hin!) und die meine Zungenspitze mit zellstoffumwickelten Fingern festhält. Sie sprüht mir aus einer Flasche mit einem gebogenen langen, dünnen Rohr Betäubungsmittel tief in den Hals. Pffffffffh. Zunge wieder rein. Ich darf Luft holen. Zunge raus, sie wird festgehalten. Pfffffffffffffh. Zunge wieder rein. Atmen. Zunge raus. Und so weiter.
Mein Hals fühlt sich jetzt total taub an. Merkwürdig, dass ich noch atmen kann. Sehr merkwürdig. Nur schlucken kann ich nicht mehr. Alles ist betäubt. »So soll es sein«, freut sich die Schwester. Ich freue mich nicht, denn ich habe Angst, ich könne ersticken. Ein unangenehmes Gefühl. Sehr unangenehm.
Ich lege mich auf den Stuhl im Behandlungszimmer. Es ist ein bisschen wie bei der Kosmetikerin – da liegt man auch auf so einer gepolsterten Liege mit breiten Armstützen links und rechts. Der Arzt kommt. Stellt sich freundlich vor. »Guten Tag, Frau Eyssen, ich bin Professor Reichenberger.«
Oh! Jetzt geht es gleich los. Mein Herz zappelt vor Angst. Los, Conny, jetzt sei gefälligst mal cool. Stell dich nicht so an! Was soll ich denn nur sagen? Vorstellen muss ich mich nicht. Der Arzt weiß ja schließlich, wer ich bin. Das Einzige, was mir in diesem Moment einfällt: »Ich warne Sie, gehen Sie ja pfleglich mit mir um. Sonst hetze ich Ihnen meinen Mann auf den Hals.« Ich weiß, ziemlich bescheuert diese Äußerung. Alles andere als komisch. Lässt auf einen Intelligenzquotienten von gerade mal neunundzwanzig schließen. Ich sollte lieber meinen Mund halten. Sollte ...
Der Professor – eigentlich ist er viel zu jung für einen Professor, höchstens zweiundvierzig – schaut mich verwirrt, dann freundlich lächelnd an. Solche Patienten wie ich, die witzig sein wollen, es aber nicht sind, scheinen ihm öfter unterzukommen?! »Aber natürlich, Frau Eyssen. Natürlich bin ich vorsichtig und behandle Sie äußerst pfleglich, nicht wahr?«
»Könnten Sie bitte so lieb sein und mich schlafen legen? Ich möchte nichts, gar nichts von dieser Bronchoskopie mitbekommen.« Auffordernd halte ich ihm meinen rechten Arm mit dem Zugang in der Vene hin und lächle ihn an, soweit meine Angst es zulässt.
»Aber natürlich, Frau Eyssen. Gar kein Problem.«
»Danke«, antworte ich. Und während die Infusion in meine Vene fließt, sage ich: »Ich bin dann mal weg.« Auf der nach oben offenen internationalen Skala der witzigsten Bemerkungen: eine klare minus Siebenundfünfzig.
Nach der Bronchoskopie weiß ich’s genau: Ich habe ein Plattenephitelkarzinom. Typischer Raucherkrebs. Wie ich mich nach dieser Diagnose fühle? Nun ja, dass ich Krebs habe, wusste ich ja schon vorher. Jetzt hat er einen Namen. Ich habe keine große Überraschung erwartet. So nach dem Motto: »Ist doch kein Krebs, sondern nur entzündete Lymphknoten.« Wenn man weiß, was für ein Krebs es ist, den ich habe, dann weiß man auch genau, was man dagegen tun kann. Das beruhigt mich. Einen Brustkrebs behandelt man schließlich anders als einen Lungenkrebs?!
Die Frage »Warum gerade ich?« kommt mir nicht in den Sinn. Sie erübrigt sich auch, ich habe über zwanzig Jahre geraucht. Oft über zwanzig Zigaretten am Tag. Aber das ist schon lange her. Dem Krebs ist das natürlich egal.
Der rechte untere Lungenlappen ist vom Plattenephitelkarzinom betroffen. Der linke obere auch.
Ach ja: Die Bronchoskopie war ein Klacks. Na gut, ich war in Narkose. Aber es war nur eine ganz leichte! Ich habe den Eingriff einfach verschlafen. Und das werde ich auch in Zukunft tun, wenn ich so etwas noch öfter machen muss.*
Memo an mich: Professor Hatz sagen, dass er recht hatte!
Wir haben ein zweites Date bei Professor Hatz. Wir wollen besprechen, wie es weitergeht und was man machen kann. Mein Mann hat sich gestern eine Liste mit Fragen auf seinem iPad notiert, die wir gemeinsam zusammengestellt haben. Fragen, die uns beschäftigen: Wie lange dauert eine Operation? Wann wird sie gemacht werden? Wie gefährlich ist sie? Woran sieht man, ob der Krebs gestreut hat? Wie lange habe ich den Krebs schon? Hätte man ihn bei einer Vorsorge-untersuchung erkennen können? Wie wirkt sich dieser Krebs in meinem Körper aus? Frisst er an mir? Vergrößert er sich ständig?
Sind das dumme Fragen? Ich weiß es nicht. Ich hatte noch nie Krebs und weiß nicht, welche Fragen wichtig sind und welche nicht. Eigentlich will ich nichts anderes, als dass jetzt jemand mit den Fingern schnippt und ich alles hinter mir habe. S-O-F-O-R-T!
Auf der Fahrt nach Gauting zum Gespräch mit dem Professor bin ich aufgeregt und voller Angst, versuche aber (typisch ich!), so tapfer wie möglich zu wirken. Trotzdem, ich sitze so gut wie stumm im Auto und habe mich völlig in mich zurückgezogen. Ich kriege gerade mal ein »Ja«, »Hm ...« oder »Stimmt« heraus, wenn mein Mann etwas erzählt oder fragt.
Das ist meine Art, mit der Panik umzugehen, die in meinem Kopf tobt. Und es ist seine Art, mit der Situation umzugehen – er versucht, mich abzulenken, die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Vielleicht auch seine? Seine Angst? Kann ja sein.
Professor Hatz, mein Mann und ich sitzen in seinem Büro um den Tisch herum, als würden wir uns hier zu einem ungezwungenen Informationsaustausch treffen. Der Professor ist locker, freundlich, hat eine verschmitzte Art zu lächeln und seinen Kopf dabei etwas schräg zu halten. Er gibt uns das Gefühl, alles sei gar nicht so schlimm und bald werde wieder alles gut sein. Meine Spannung lässt ein wenig nach. Dann kommen wir zur Sache. Professor Hatz erklärt auf meine Nachfrage, dass ich den Krebs wohl seit etwa zwei bis drei Jahren habe. »Jeder Tumor – der in Ihrem unteren rechten Lungenlappen und der im oberen linken Lungenlappen – ist etwa so groß wie ein Babykopf.« Er zeigt mit seinen beiden Händen, deren Fingerspitzen er zu einem Kreis zusammenlegt, die ungefähre Größe an.
Ich starre auf seine Hände, bin stumm. Was soll ich dazu auch sagen? Eine Frage stellen wie: »Meinen Sie den von einem großen oder einem kleinen Baby?« ist ja wohl nicht angebracht. Obwohl diese Bemerkung genau meiner Art entspräche, dramatischen Momenten die Dramatik zu entziehen. Die Situation zu entschärfen. Aber eigentlich kann ich im Moment überhaupt nichts sagen. Das Programm ist unterbrochen.
»Deshalb bekommen Sie so schlecht Luft«, erklärt Professor Hatz. »Wir müssen schnell handeln. Die Erkrankung ist schon ziemlich weit fortgeschritten.«
»Wie weit ...?«
»Nun, wenn wir nichts unternehmen, haben Sie etwa noch knapp sechs Monate zu leben.«
In meinem Gehirn starten die Synapsen zu einer Achterbahnfahrt. Sechs Monate? Und dann werde ich sterben? Zwei Tumore? Jeder so groß wie ein Babykopf? Aber so große Tumore haben doch gar keinen Platz in meinem Oberkörper. Ich bin doch so schmal, so zierlich. Gerade mal knapp fünfzig Kilogramm Gewicht bei einer Größe von 1,67 Metern. Und wieso tun diese Tumore nicht weh? Warum konnte man die nicht vorher entdecken? Und wieso habe ich nur noch sechs Monate? Woher will er das wissen? Und was heißt »schnell handeln«? Wie soll dieses »Handeln« aussehen?
Am liebsten würde ich aufstehen und weglaufen, mich verstecken. Das geht ja leider nicht. Und hilft mir nicht. Ich weiß, ich weiß. Trotzdem. Ich schlucke mühsam den Kloß in meinem Hals herunter, zwinkere mehrmals, um die Tränen zurück in ihren Kanal zu zwingen. Ich will hier nicht wie eine Heulsuse sitzen und Kleenextücher vom Schreibtisch des Professors gereicht bekommen.
In dem Gespräch geht es dann weiter um die bevorstehende Operation und die Chemotherapie sowie um die Überlebenschancen, die ich nach dem Eingriff und der Therapie habe. Mein Mann hat danach gefragt. Professor Hatz sagt etwas von knapp achtundachtzig und von zwölf Prozent. Und fünf Jahren.
Ich rechne im Kopf nach und verkünde selbstbewusst: »Dann möchte ich zu den achtundachtzig Prozent gehören!«
Mein Mann ist verwirrt. Sagt dann: »Das willst du nicht. Und wirst du nicht. Achtundachtzig Prozent der Patienten überleben die ersten fünf Jahre NICHT.«
Oh ... Ich habe mich verrechnet. Schuld ist garantiert die Achterbahnfahrt in meinem Kopf. Allerdings: Mathematik ist schon seit der Kindheit meine extrem schwache Seite. Also: Nur knapp zwölf Prozent der Patienten mit meiner Krankheit überleben überhaupt die ersten fünf Jahre. Nur zwölf Prozent ... Aber ich wollte doch immer mindestens neunzig werden. Lass mich doch wenigstens meinen siebzigsten Geburtstag feiern, bitte ich stumm. Wen? Weiß nicht. Wahrscheinlich am ehesten den lieben Gott. Wenn in so einer Situation jemand helfen kann, dann ER. Oder?
Offenbar aber schlechte Aussichten schon für meinen siebzigsten Geburtstag ... :-(
Auf dem Weg nach Hause im Auto schweigen mein Mann und ich uns an. Es gibt im Moment einfach nichts zu sagen. In vier Tagen werde ich ins Krankenhaus gehen, zur ersten Operation.
Wieder zu Hause. Ich sitze vor dem Computer. Ich kann mich aufs Lesen eines Buches nicht konzentrieren. Soll ich mir nicht was Schönes kaufen? Tut das nicht der Seele gut? Sagt man doch immer.
Ich schaue in meine Lieblings-Onlineshops. High Heels in Himmelblau. Ein waldgrüner Trenchcoat. Ein Cashmerepulli in Schwarz. Viele Sachen gefallen mir. Ich lege schließlich die High Heels und den Pulli mit einem Klick in den Warenkorb. Beim Bezahlvorgang breche ich ab. Wenn ich bald sterbe, dann brauche ich die Sachen doch eh nicht mehr. Wer weiß denn, ob es sich noch lohnt, Schuhe oder einen Cashmerepulli zu kaufen – vielleicht bin ich im Herbst schon tot. Ich logge mich aus. Nichts gekauft.
Ich gebe bei Google »Plattenephitelkarzinom« und »Überlebenschance« ein. Es werden 21 900 Ergebnisse angezeigt. Auf einer Seite heißt es, nur fünf Prozent der Patienten überleben bis zu fünf Jahre. Fünf Prozent ... aber Professor Hatz hatte doch etwas von zwölf Prozent gesagt? Schnell klicke ich die Website weg und lande in Foren, in denen sich Betroffene und Angehörige austauschen, ihr Leid klagen. »... unfassbare Schmerzen ...« – »... die Ärzte haben absolut nichts getan ...« – »... sie haben ihn einfach sterben lassen ...« – »... er hat keine Schmerzmittel bekommen ...« Schnell auf »Beenden« klicken.
Ich habe meinem Mann versprochen, den Ärzten zu vertrauen und mich nicht von den Horrormeldungen in den Krebsforen verrückt machen zu lassen. »Denk daran, dort liest du nur die schrecklichen Geschichten, aber nichts von all den Fällen, die gut ausgegangen sind«, hat er gesagt. Er hat ja recht.
In meinem Mail-Account finde ich eine Mail von unserem langjährigen Freund Wilfried. Er ist Heilpraktiker und ein kompetenter und ewig hilfsbereiter Berater bei allen Zipperlein, Schmerzen, Erkältungen, eingeklemmten Nerven und sowieso allen Krankheitsfragen. Wilfried ist nicht einer von dieser aufgeregten Sorte, die einen nur kirre machen mit all ihren Vermutungen über Krankheitsverläufe und angebliche Symptome und Schwarzmalereien, sondern einer, der stets sachlich reagiert und meist mit sehr praktischen und wirkungsvollen Tipps daherkommt.
Als ich noch geraucht habe, hatte ich oft entsetzliche Ischiasschmerzen. So schlimm, dass ich kaum aus dem Bett kam. Sein Rat: Nerv entlasten, entspannen. Auf den Boden legen und die Füße und Unterschenkel im Neunzig-Grad-Winkel auf einem Stuhl oder Wäschekorb lagern. Hat mir immer geholfen.
Als ich Wilfrieds Mail lese, bin ich für einen Moment sprachlos:
»Liebe Conny, jetzt steht ja die Operation bevor. Hast du dir eigentlich mal Gedanken über eine Organspende gemacht? Ich meine, es hilft ja nichts, in so einer Situation um den heißen Brei herumzureden. Alles Liebe, Wilfried.«
ORGANSPENDE? Offensichtlich geht Wilfried davon aus, dass ich die OP nicht überleben werde.
Ich hole meinen Mann und zeige ihm die Mail. »Ach, nimm das nicht so ernst. Wilfried meint es doch nur gut«, beruhigt er mich.
Ja, ich weiß. Aber in meiner Situation kommt das gerade nicht so bei mir an.
Eine Stunde später habe ich mich wieder entspannt. Und beantworte die Mail von Wilfried:
»Mein Lieber, wenn sie irgendwas von mir gebrauchen können, sollen sie es gerne nehmen. Meine Lunge werden sie sicher nicht wollen. Meine blauen Augen? Mein Herz? Meine Milz? Alles ein bisschen zu alt, fürchte ich. Liebste Grüße, Conny PS: Ich habe schon seit fünfzehn Jahren einen Organspendeausweis.«
Vernunft statt Emotionen kann einem helfen, mit beängstigenden Situationen besser umzugehen. Ich beschließe also: Falls ich vor, während oder nach der Operation sterbe, muss ich rechtzeitig vorsorgen, damit mein Mann nicht in Unmengen von Ordnern die wichtigen Unterlagen für das Bestattungsinstitut, die Bank und die Versicherungen zusammensuchen muss. Also sammle ich alle notwendigen Papiere zusammen und hefte sie übersichtlich sortiert – ganz Sternzeichen Jungfrau! – in einem Ordner ab. Jeweils mit einem Hinweiszettel vor jedem Kapitel: »Sparbuch«, »Konto«, »Rente«, »Lebensversicherung«, »Urkunden«, »Haftpflicht«, »Hausratversicherung«. Ganz vorne hefte ich meine Patientenverfügung ein. Die habe ich seit dem Tod meiner Mutter vor ein paar Jahren. Hätte sie eine Patientenverfügung gehabt, wäre vieles leichter gewesen ... Ich will nicht über Wochen oder noch länger von Maschinen am Leben gehalten werden.
Vorne drauf auf den Ordner klebe ich ein Foto: Remy und ich lehnen an der niedrigen Mauer einer alten Steinbrücke in Collobrières in Südfrankreich, die Sonne scheint, über uns die langen, filigranen Zweige einer mindestens hundert Jahre alten Hängeweide. Wir stehen ganz eng nebeneinander, Seite an Seite, halten uns an den Händen und sehen so glücklich und unverletzlich aus.
Wir haben in den vergangenen zwanzig Jahren viele Urlaube in Südfrankreich verbracht. Und jedesmal sind wir nach Collobrières gefahren und haben das Foto auf der Brücke mit Selbstauslöser gemacht. Wenn wir im April oder Mai in dem kleinen Städtchen waren – nicht einmal zweitausend Menschen leben dort – ließ der Baum lauter gelbe Weidenkätzchen auf uns regnen. Die winzig kleinen Blüten fanden wir noch Stunden später in unseren Haaren, auf dem T-Shirt und den Jeans. Nach dem obligatorischen Foto sind wir auf den Place de la Libération gegangen, um einen Kaffee zu trinken und den Frauen zuzuschauen, die zum Einkaufen gehen, den Radfahrern, die am Brunnen ihre Trinkflaschen auffüllen, und den Kindern, die aus der Schule stürmen.
Klar, auf den Bildern von früher sehen mein Mann und ich natürlich jünger aus als heute und wirken unbeschwerter. Aber wir schauen uns auf jedem Foto lächelnd an und halten uns an den Händen.
Wir sind ein glückliches Paar. Noch heute.
Unter das Foto klebe ich einen gelben Post-it-Zettel: »Von Conny für Remy«. Das emotionale Detail der sachlichen Aktion.
Als der Ordner komplett ist, bin ich erleichtert. Das ist wie mit dem Regenschirm. Hat man ihn dabei, regnet es nicht. Und der Ordner – nein, mein Mann wird ihn nicht brauchen. Jedenfalls nicht die nächsten zehn Jahre. Hoffe ich. Bin mir aber nicht sicher ...
* Bis heute habe ich etwa achtmal eine Bronchoskopie machen lassen müssen. Ist wirklich ein Klacks!