Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 24
ANFANG JUNI 2012,
FÜNF TAGE NACH DER OPERATION Noch schlimmer
als Warmduscher
sind Sitzduscher.
ОглавлениеHeute werden die beiden Drainageschläuche gezogen, die rechts an der Seite unter dem Rippenbogen befestigt sind. Jeder Schlauch ist aus cremefarbenem Kunststoff, so dick wie mein kleiner Finger – wenn nicht dicker – und mit einem doppelten Spezialknoten in meiner Haut befestigt. Drinnen enden die Schläuche irgendwo an, über, unter oder seitlich von den OP-Wunden. Was weiß ich. Über diese Schläuche läuft rote Wundflüssigkeit in einen kleinen Kasten, der unten auf dem Boden neben meinem Bett steht.
Jedes Mal, wenn ich, nachdem der Blasenkatheter gezogen worden war, zur Toilette musste, habe ich die beiden Drainageschläuche ordnen, den Kasten in die Hand nehmen, an dem Ständer mit meinen Infusionen befestigen, dann die Infusionsschläuche entwirren und alles mit ins Bad schieben und schleppen müssen. Ich konnte mich nicht auf die rechte Seite legen, weil eben die Schläuche genau an dieser Seite aus meinem Bauch wuchsen. Ich konnte mich auch nicht auf die linke Seite legen, weil die Schläuche nicht lang genug waren, um vom Auffangkasten bis zu meinem Körper zu reichen.
Das Entfernen der Drainageschläuche ist eine unangenehme Angelegenheit. Sehr unangenehm. Der Arzt löst die Knoten, ich muss tief ein- und ausatmen und beim Ausatmen werden die Schläuche gezogen. Das tut echt weh, auch wenn man sich beim Ausatmen ja entspannt. Aber endlich bin ich die Dinger los. Die beiden Löcher werden mit den Fäden verknotet, die noch in der Haut hängen. »Die Fäden lassen Sie bitte in zehn Tagen von Ihrem Hausarzt ziehen«, sagt der Doc, bevor er mein Zimmer verlässt.
Ich fotografiere die Löcher in meinem Bauch mit dem Handy. Krankenhaus-Selfie mit löchrigem Bauch. :-)
Nachdem ich nicht mehr an den Drainageschläuchen und Infusionen hänge, darf ich das erste Mal nach der OP duschen. Endlich. Ich sehe schrecklich aus. Ich fühle mich schrecklich. Und rieche auch schrecklich. Die stets freundliche und hilfsbereite Schwester Kati – sie ist die stellvertretende Stationsleiterin und versetzt mit ihrer unwiderstehlichen Freundlichkeit selbst hundertprozentige Miesepeter-Patienten in gute Laune – nimmt sich nach ihrer Schicht, die mittags zu Ende ist, extra Zeit, damit sie mir beim Duschen helfen kann. Allein unter die Dusche, dazu bin ich noch viel zu schwach.
Der kurze Weg vom Bett zum Badezimmer ist anstrengend für mich. Dann das Ausziehen des Nachthemds. Das geht ziemlich easy, ist ja noch das Hinten-offen-Modell von der OP. Ich bleibe dabei aber am linken Ärmel hängen und Kati muss mir aus dem Hemd helfen. Unter der Dusche muss ich mich auf den weißen Plastikhocker setzen. Meine Knie zittern und ich kann mich nicht aufrecht halten.
Mein Gott, im Sitzen duschen. Und das mir, die ich bis vor Kurzem zehn Stunden und länger auf Zehn-Zentimeter-Absätzen durch die Redaktion, die Straßen, das Leben gegangen bin. Und jetzt: im Sitzen duschen. Das gibt es doch gar nicht. Ich bin doch keine alte Frau. Ich schäme mich, ich hasse mich, ich könnte heulen.
Schwester Kati hält den Brausekopf, gibt Duschgel auf den Waschlappen und reibt mich ganz vorsichtig, aber gekonnt ab. Jetzt noch die Haare shampoonieren, Conditioner rein, durchkämmen.
Ich bin innerlich so genervt, dass ich platzen könnte. Ich hasse es, auf andere Menschen und deren Hilfe angewiesen zu sein, das macht mich nervös und wütend und ungerecht. Ich kann nichts dafür. So bin ich nun mal. Eine Charaktereigenschaft, die mein Mann am liebsten löschen würde wie einen Text auf dem Computer. Aber jetzt muss ich meine Gefühle unter Kontrolle halten, denn schließlich ist das hier ihre Freizeit, die Schwester Kati mit mir im Bad verbringt.
Nach dem Abtrocknen stehe ich nackt vor dem Spiegel. Über der linken Schulter hängt der dünne Schlauch des PDK mit den Zugängen für Infusionen. Unter meinem rechten Busen klebt ein etwa zehn Zentimeter breites Pflaster. Es reicht hinten vom rechten Schulterblatt bis nach vorne zum Brustbein – vom Schulterblatt unter der Achsel entlang, dann geht es in einer Kurve nach unten, läuft weiter unter dem Busen entlang und endet etwa zwölf Zentimeter vor dem Brustbein, dort überlappt es sich mit einem zweiten, ebenso breiten Pflaster, das vom Brustbein schräg nach unten verläuft. Unter den beiden Pflastern verbirgt sich meine Narbe. Ganz schön lang ...
Schwester Kati zupft vorsichtig die Pflaster ab. Tut gar nicht weh. Aber sie sind ja auch nass und der Klebstoff ist schon aufgeweicht. Im Spiegel sehe ich jetzt das erste Mal die Wunde. Ein dunkelrotes, wulstiges Tau. Mit dunkelbraunen Fäden. Ich mag die Narbe nicht berühren. Sie kommt mir wie ein Fremdkörper vor. Mein Busen ist seltsam gefühllos. Und sitzt total schief, ganz nach oben geschoben. Das sieht irgendwie gruselig aus. Da haben sie also meinen Oberkörper aufgemacht ... In mir herumgeschnitten ... Nicht dran denken!!!
Das soll ich sein? Ich fotografiere mein Spiegelbild mit dem Handy. Als makabre Erinnerung? Beweisbild für Ungläubige?
Als ich wohlriechend und mit frisch geföhnten Haaren – danke, Kati! – wieder im Bett liege, grüble ich über die Narbe nach. Wieso ist sie da, wo sie ist? So weit oben? Der Tumor war doch im UNTEREN rechten Lungenlappen? Und wieso ist mein Busen so schief und gefühllos? Wenn das so bleibt – na, danke schön. Ob es für solche Fälle spezielle Büstenhalter gibt? Oder muss ich die anfertigen lassen? Das alles muss ich den Professor fragen.
Der schaut sich am nächsten Morgen bei der täglichen Visite die Narbe an und erklärt: »Das sieht bestens aus, Frau Eyssen. Die Wunde verheilt gut und wird bald kaum noch zu sehen sein.« Die anderen Ärzte und Studenten im Schlepptau der Visite nicken zustimmend-ernsthaft, sehen aber nicht so aus, als ob sie das überhaupt beurteilen könnten. Abgesehen davon, dass sie die Wunde ja nur aus knapp zwei Meter Entfernung und manche eh nur um die Ecke des Zimmers inspizieren können.
»Und mein schiefer Busen?«, frage ich.
»Der wird sich wieder in seine normale Position senken, keine Angst, Frau Eyssen. Und das mit der Gefühllosigkeit, das ist klar – nach so einer großen OP. Wir haben bei Ihnen ganz schön rumschneiden müssen.«*
(Normalerweise hätte dieser letzte Satz vom Professor hinten drei Punkte gebraucht. Weil das nachdenklich stimmen und die Dramatik erhöhen würde. Aber Mediziner sprechen ganz sachlich über Operationen, Schmerzen und Blut. Das ist ihr Job. Deshalb nur der eine Punkt am Satzende.)
»Und wieso ist die Narbe so weit oben? Der untere Lungenlappen sitzt doch weiter unten«, frage ich.
Die Antwort hätte ich lieber nicht gehört, aber die Fakten konnte ich ja nicht wissen. Also: Die Ärzte suchen sich vorher die Stelle aus, von der sie am besten an das Operationsgebiet kommen. Dann legen sie sich die Patienten hübsch praktisch und passend auf dem OP-Tisch zurecht. Der Patient ist ja in Narkose und merkt nicht, wie verrenkt er daliegt.
Ich stelle mir vor: Ich, nackt, abgedeckt mit den blauen Tüchern, werde auf die linke Seite gerollt, der linke Arm unnatürlich nach oben gestreckt, der Körper möglicherweise rechts und links fixiert, damit ich nicht umherrolle wie ein Braten auf dem Holzbrett beim Anschneiden. Und der rechte Arm? Was haben sie mit dem gemacht? Bestimmt auch einfach über den Kopf nach oben gelegt, damit er nicht im Weg ist.
Dann haben sie geschnitten – rrrriiiiiitttttschschschschsch in einer halbwegs geraden Linie vom Brustbein unter dem Busen entlang bis hinten zum Schulterblatt. Oder umgekehrt. Und damit sie an meinen unteren Lungenlappen kommen, haben sie mit einem Spezialinstrument die Rippen gespreizt. Und zwar ziemlich weit. So ein Rippenspreizer sieht aus wie eine überdimensionale, gebogene Grillzange, die nur andersherum benutzt wird. Passt ja irgendwie zum Braten auf dem Holzbrett ...
Ich lerne von Professor Hatz: Die Rippen sind nicht fest und unveränderlich im Körper verankert, sondern flexibel aufgehängt, sodass man sie gefahrlos auseinanderbiegen kann.
Ich will mir das nicht vorstellen. Ich will einfach nicht daran denken. Danke. Zu viel Information. :-(
* Ja, Professor Hatz hat wirklich »rumschneiden« gesagt. Er ist nicht nur ein äußerst kompetenter Chirurg mit einem erstklassigen Ruf, sondern auch empathisch und humorvoll. Ein lockerer und absolut sympathischer Mann, mit dem Sie garantiert sofort einen gemütlichen Abend verbringen möchten, wenn Sie ihn sehen. Wundern Sie sich dann nicht, wenn er als Dessert am liebsten Gummibärchen bestellen würde – die LIEBT er. Hat mir seine Sekretärin verraten. :-) Er gehört nicht zu den arroganten Professoren, die mit Fachausdrücken um sich werfen und sich gebärden, als seien sie der Julius Cäsar der Klinik. Googeln Sie Professor Hatz doch mal. Und wenn Sie auf einer Site ein Foto von ihm sehen, werden Sie verstehen, was ich meine.