Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 25
ANFANG JUNI 2012,
SECHS TAGE NACH DER OPERATION
ОглавлениеSchwester Kerstin, die Stationsleiterin, sagt, dass ich heute das erste Mal nach draußen darf. In den Sommer nach draußen, in den Park der Klinik mit seinen ordentlichen Wegen, den Bäumen, den Sitzbänken aus Metall und den im Schatten aufgestellten Liegestühlen.
Raus an die frische Luft. Das heißt anziehen. Aber es bedeutet auch zu merken, dass total alltägliche Dinge für mich jetzt zum Kraftakt werden. Der große untere Lungenlappen rechts fehlt ja. Dann die Narkose. Die vielen Tabletten. Die ganze psychische und physische Anstrengung der letzten Wochen. Jetzt nicht lange nachdenken oder jammern – fangen wir an. Höschen anziehen, Unterhemd. Keuchend sitze ich auf meinem Bett. An einen BH ist nicht zu denken. Die Narbe! Wie gut, dass ich einen kleinen Busen habe. Als Teenager war ich neidisch auf all die Mädchen mit üppigen Brüsten. Spätestens jetzt hat sich dieser Neid in einen Vorteil verwandelt. Ein Unterhemd reicht locker.
Ich schleiche vom Bett zum Schrank, um ein T-Shirt und meine Jeans zu holen. Zurück zum Bett. Hinsetzen. T-Shirt über den Kopf ziehen. Pause. Atmen. Luft holen. Nein – nach Luft schnappen muss ich. Aber aufgeben gilt nicht. Sitzen bleiben. Jetzt das rechte Bein langsam ins Jeansbein schieben, dann das linke Bein, langsam hinstellen, Hose hochziehen, Reißverschluss zu, Knopf zu. Hinsetzen und atmen. Ganz ruhig atmen. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich die Atmung wieder normalisiert hat. Wieder zum Schrank. Schuhe und Gürtel holen. Ballerinas anziehen. Gürtel in die Schlaufen der Jeans fummeln. Gürtel schließen. Das geht halbwegs gut.
Ich schleppe mich zum Erker, setze mich in den Sessel und staube den Vergrößerungsspiegel ab. Der ist lange nicht benutzt worden. Etwas Make-up, Rouge, Puder, Eyeliner, Wimpernzange, Lipgloss. Krank zu sein, ist schließlich kein Grund, um sich gehen zu lassen. Und ich will halbwegs gut aussehen, wenn mein Mann kommt.
Endlich ist er da. Ich sitze schon seit mindestens zwanzig Minuten unruhig auf dem Bett und habe vier SMS geschickt, wo er denn steckt. Antwort:
Stau auf der Autobahn. :-( Bin in 15 Min. da. Kisses
Mein Mann setzt mich vorsichtig in den Rollstuhl, den Schwester Kerstin gebracht hat. Er klappt wie ein Profipfleger die Fußstützen zur Seite – zum Einsteigen für mich – und dann wieder herunter. Löst die Bremse und ab geht’s zum Lift. Runter ins Erdgeschoss. Raus ans Sonnenlicht. Die Strahlen prickeln auf meinen Armen. Die frische Luft auf dem Gesicht spüren. 29 Grad.
Auf dem Vorplatz der Klinik stehen vereinzelt Patienten. Manche im Jogginganzug. Ein Mann hat sein Flügelhemd verkehrt herum angezogen, sodass es vorne offen ist. Dazu trägt er Shorts. Ihm ist wohl sehr warm, denn ich sehe Schweißtropfen auf seiner Stirn. Der Mann ist sehr dick. Kein schöner Anblick, so viel nacktes, weißes Fleisch ...
Was mich staunen lässt: Diese Patienten stehen hier und rauchen. Genau am Eingang einer Lungenklinik. Sie sind krank. COPD, Lungenkrebs, was weiß ich. Sie werden hier behandelt und stehen da und rauchen. Ich bin sprachlos.
Mein Mann fährt mich im Rollstuhltempo durch den Park. Er ist ganz aufgekratzt. Erzählt von Kathis Schwangerschaft und dass unsere liebe Nachbarin Roselyne ihm gestern eine selbst gebackene Apfeltarte vorbeigebracht hat.
»Ist das nicht schön hier?«, fragt er nach ein paar Minuten. »Ich hab mir gerade überlegt: So kann ich dich doch wunderbar durch Schwabing kutschieren, wenn du entlassen wirst. In dem Rollstuhl hast du es schön bequem und wir kommen überallhin. Ins Café, zum Einkaufen oder in den Englischen Garten. Was meinst du?«
Ich? Was ich meine? Ich bin wütend! Ich finde das eine furchtbare Vorstellung. ICH! KANN! SELBST! GEHEN! ICH WERDE NICHT IN EINEM ROLLSTUHL SITZEN.
Ich weiß natürlich, dass mein Mann es nur gut meint. Dass er mir das Leben so angenehm und leicht wie möglich machen möchte. Und dass er sich mit dem Gedanken beschäftigt hat, wie unser Leben aussehen könnte, wenn ich mich nicht mehr selbstständig fortbewegen kann. Dann wird er mich nicht zu Hause sitzen lassen, sondern mich gern und fröhlich überallhin schieben. Also sollte ich ihm für seine Worte dankbar sein: »Das ist lieb von dir, Schatz. Aber ich möchte nicht durch Schwabing kutschiert werden. Nicht mehr lange und ich bin wieder zu Hause und die alte Conny, die durch die Welt hetzt. Ich glaube, ich möchte ein paar Schritte gehen.« Ich will ihm beweisen, dass ich schon jetzt wieder auf meinen eigenen Füßen stehen und gehen kann. Ich komme mir im Rollstuhl so hilflos vor, so abhängig.
Mein Mann klappt die Fußstützen zur Seite. Selbst kann ich das noch nicht. Ich bin zu schwach. Und das Bücken fällt mir schwer, weil mir dann das Atmen so schwerfällt und mir schwindelig wird. Ich greife nach der Hand meines Mannes und stehe langsam auf. Aaah, es tut so gut, zu stehen, selbstständig zu gehen. Schritt für Schritt geht es vorwärts. Mein Mann hält meine Hand. Mit der anderen schiebt er den Rollstuhl. Wir tapern dahin wie ein hochbetagtes Ehepaar im Seniorenheim.
Ich nehme das Vogelgezwitscher wahr. Bewundere die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter tanzen, entdecke all die verschiedenen Grüntöne der Blätter. Glück steigt in meinem Herzen hoch wie überkochende Milch auf dem Herd. Jemanden an meiner Seite zu wissen, der zu mir hält, dem ich vertraue und den ich liebe. Ein Gefühl, das mich hier im Park fast überwältigt. Sanft drücke ich die Hand meines Mannes. Und sehe ihn lächelnd an.
Jetzt aber nur nicht sentimental werden, Conny. Das fehlte mir gerade noch.