Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 7
ENDE APRIL 2012 Gestern High Heels
und Champagner,
heute Ultraschall-Glibber
und Tränen
ОглавлениеEin paar Wochen vor der Krebsdiagnose bekam ich meine Kündigung. Einsparungen. Personalabbau. Die üblichen Begründungen. Es war mein Traumjob gewesen: stellvertretende Chefredakteurin für Fashion, Beauty und Lifestyle bei zwei Hochglanzmagazinen eines Münchner Verlags. Die Termine waren meist glamourös: Neueröffnung eines Hermès-Stores, Vorstellung des neuen Parfums von Bul gari, Reisen zu den Fashion Weeks in Paris, Mailand und Berlin sowie Essen mit PR-Leuten in feinen Restaurants. Zu meiner Arbeit gehörten auch Konferenzen mit Anzeigenkunden und der Marketingabteilung. Und natürlich täglicher Stress – von einer Konferenz zur nächsten, zwischendurch schnell mal von der Semmel abbeißen, Besprechungen mit den Ressortleitern und Redakteuren, Mails beantworten, Layouts abnicken oder Änderungen veranlassen, Telefonate führen, Streit unter Mitarbeitern schlichten und die Post durchsehen, die meine Sekretärin mir auf den Tisch legte. Zehn bis zwölf oder auch vierzehn Stunden Arbeit täglich sind – waren – völlig normal.
Was soll ich sagen? Diese Kündigung tat weh. Verdammt weh. Und sie war mit meiner sofortigen Freistellung verbunden. »Damit es keine Unruhe in der Redaktion gibt, verstehen Sie?« Hatten die oberen Herren im Verlag vielleicht Angst, ich würde die Redaktionsarbeit in irgendeiner Form sabotieren? Oder die Redakteure, Grafiker und Sekretärinnen würden sich zusammenrotten und eine Demo für mich organisieren? »Wir wollen Conny zurück!! Wir wollen Conny zurück!!« Oder sie würden gar in den Streik treten?
Als ich meiner Living-Ressortleiterin Steffi von meiner natürlich ironisch gemeinten Demo-Vermutung erzählte, sagte sie: »Conny, ich würde für dich sofort in der ersten Reihe mit dabei sein. Mit einem ganz großen Schild in der Hand.« Das meinte sie ganz ernsthaft. Da wären mir fast die Tränen in einem winzigen Bach über meine Wangen gelaufen. Das hat mich so berührt. Aber zu weinen wäre mir peinlich gewesen. Ich wollte stark und cool wirken. Wie Mitglieder der Chefredaktion nun mal sein wollen. Und auch sein sollten.
Freigestellt – da fand ich also endlich einmal Gelegenheit, zum Arzt zu gehen. Die vergangenen Jahre war ich im Job viel zu eingespannt gewesen, um eine Routine-Kontrolle bei meinem Dermatologen einzuplanen. »Keine Zeit! Es gibt wichtigere Dinge! Gerade jetzt habe ich so viele Termine!«
Ja, ich weiß: Man nimmt sich oft viel zu wichtig, fühlt sich unersetzlich und glaubt, ohne die eigene Anwesenheit liefe im Job gar nichts. Aber wahrscheinlich möchte man sich – ich mich – nur gebraucht fühlen?
Natürlich hätte ich die freie Zeit genießen, lange schlafen, spazieren gehen, mit einem Italienischkurs oder Yoga anfangen können. Aber das kam für mich nicht infrage. Dafür liebe ich meine Arbeit viel zu sehr. Das ist seit über 40 Jahren so. Seit dem Tag, an dem ich meine Ausbildung als Journalistin begonnen habe. Davon einmal abgesehen mag ich Herausforderungen und freue mich über Anerkennung. Für eine mehr als dreiwöchige Auszeit bin ich auch viel zu hektisch.
Ich bemühte mich sofort, einen neuen Job zu finden – knüpfte Kontakte, traf mich mit Chefredakteuren und Kollegen und ging zu Presseterminen. Da ich schon so lange in diesem Job arbeite, bin ich entsprechend gut vernetzt. Außerdem habe ich einen guten Ruf, sodass die Aussichten auf einen neuen Job sehr positiv waren. Daneben blieb aber auch viel ungenutzte Zeit. Deshalb mein Anruf bei meinem langjährigen Hautarzt Thomas Kaliebe. Mal wieder checken, ob meine frühere Lust auf Sonne ohne Folgen geblieben war. Wo Schatten war, da war ich nie gewesen. Und dabei mal wieder gemütlich mit meinem genussfreudigen Doc plaudern – zum Beispiel über die Provence im September, entzückende Orte wie Les Arcs, neu entdeckte Rotweine und Restaurants, die man unbedingt besuchen sollte. Wir sind beide Südfrankreich-Verehrer.
Ein Tag im April, der Tag X. Termin in der Praxis von Thomas Kaliebe. Fotofinder-Check negativ, was positiv ist, denn das heißt: kein Hautkrebs. Danach tauschen wir Restaurant- und Weintipps aus.
»Aahhh! Das ›Chez Bruno‹ in Lorgues! Da müssen Sie nächstes Mal hingehen, Frau Eyssen. Das Trüffelmenü – einfach wundervoll! Wun-der-voll! Und gleich um die Ecke dann einen Abstecher zum ›Château Les Crostes‹ machen und ein oder zwei Kisten von dem Rosé mitnehmen.«
»Kommt sofort auf meine Liste.«
Als ich mich schon verabschieden will, fällt mir ein, dass ich ihm, weil ich ihm sehr vertraue, noch etwas erzählen könnte, was mich seit einiger Zeit beschäftigt. Dass ich mich seit Längerem irgendwie schlapp fühle, abgenommen habe und mir schon nach knapp zweihundert Metern beim Joggen die Luft ausgeht. Wo ich doch sonst seit über zehn Jahren im Park bei uns um die Ecke locker eine Stunde und länger meine Runden drehe. »Und im Januar, bei der Fashion Week in Berlin, da musste ich mit meinem Rollkoffer im Schlepptau im Flughafen von Terminal eins zu Terminal zwei hetzen, um meinen Flug nach Berlin noch zu erwischen. Ich meine, das ist ja keine große Entfernung. Aber am Gate klopfte mein Herz bis zum Hals, ich bekam kaum Luft und zitterte so, dass mir mein Ticket fünf Mal aus der Hand fiel.«
Der Blick meines Dermatologen: eindringlich. Sehr eindringlich. Aber er sagt kein Wort.
Also füge ich – so ganz nebenbei, damit es möglichst undramatisch klingt – noch hinzu: »Ach ja, und seit etwa drei, vier Monaten huste ich morgens des Öfteren.«
Das habe ich bisher niemandem erzählt. Schon gar nicht meinem Mann. Er hätte darauf bestanden, dass ich SOFORT zu einem Arzt gehe. Genau das wollte ich vermeiden. Könnte ja sein, dass irgendeine Krankheit der Grund ist und ich dann für einige Zeit krankgeschrieben werden muss und nicht in die Redaktion gehen kann. Eine schreckliche Vorstellung für mich. Wirklich. Wie gesagt: Ich liebe meinen Job. Meinen Mann liebe ich natürlich mehr. Viel mehr. Trotzdem höre ich nur im Notfall auf ihn. Obwohl er es immer nur gut meint. Ich weiß. Ich bin ein Dickkopf.
Mein Dermatologe fragt: »Husten Sie auch Blut?«
»... auch Blut.«
»Sie sollten sofort einen Ultraschall und auch eine Computertomografie machen lassen Frau Eyssen. Ich kenne einen sehr kompetenten Internisten, bei dem Sie in den besten Händen sind. Ich verabrede gleich einen Termin für Sie.«
Einen Termin machen, das hätte ich auch allein gekonnt! Traut er mir etwa nicht? Bin etwas angesäuert.
Zwei Tage später sitze ich in der Praxis, in der sie die Untersuchungen durchführen werden. Sie liegt bei uns um die Ecke und ich kann zu Fuß hingehen. Nach einer Stunde Warterei komme ich endlich dran. Der Internist macht erst einmal eine Ultraschalluntersuchung. Ich plappere dabei vor mich hin, erzähle von meinem Job (verschweige die Kündigung) und dass sie in der Redaktion schon auf meine Rückkehr warten. Wichtige Konferenz und so. Ich hoffe, dass die ganze Sache mit dieser kleinen Lüge ein bisschen schneller vorangeht. Draußen scheint die Sonne und ich würde mich gern noch in ein Straßencafé an der Leopoldstraße setzen.
Dann sagt der Arzt: »Tja, das sieht nicht gut aus. Da ist was, unten rechts an der Lunge. Und oben links auch. Das müssen wir unbedingt genauer anschauen.«
Was soll »sieht nicht gut aus« heißen?
Auf dem Bildschirm ist eine komische Wolke aus unzähligen grünen, welligen Strichen zu sehen. So ein bisschen wie ein Fingerabdruck bei der Polizei. Was soll das schon sein? Vielleicht das Überbleibsel einer Lungenentzündung? Hatte ich aber nie. Oder vielleicht ein bisschen Wasser in der Lunge? Woher? Keine Ahnung.
»Genauer anschauen« bedeutet, es muss eine Computertomografie gemacht werden. Wieder eine Stunde warten und dann zum CT. Ganz schön groß, das Ding. Und die Röhre erscheint mir ganz schön eng ... Jetzt wird mir doch mulmig. Angst legt sich wie ein heißer, schwerer Stein auf meinen Magen und bleibt dort liegen. Die werden doch wohl nichts finden?! Was auch? Beruhige dich, Conny. Mach dich nicht verrückt.
Die Schwestern legen mir einen Infusionszugang in der rechten Armbeuge. Dann bin ich allein in dem Raum. Die Radiologieassistentinnen sind draußen und können mich durch eine Scheibe sehen. Sie können mich auch hören (wenn ich denn etwas sagen will) und ich sie. Ich fühle mich schrecklich einsam.
Über einen dünnen Schlauch läuft Kontrastmittel in meine Vene. Das ist eine jodhaltige Lösung, die dafür sorgt, dass Blutgefäße, Entzündungen oder eben Tumore besser sichtbar werden. Hat mir der Arzt vorher erklärt. Mir wird ganz heiß. Bevor ich etwas sagen kann, höre ich die Stimme einer Assistentin: »Es ist ganz normal, dass Ihnen jetzt warm oder auch heiß wird. Das ist das Kontrastmittel. Bleiben Sie bitte ganz ruhig liegen und atmen Sie normal.«
Die hat leicht reden. Sie liegt ja nicht hier in dem surrenden Ding, in dem ich mich eingeschlossen und beengt fühle. Vier Minuten später ist alles vorbei.
Zurück ins Wartezimmer. Die Mitarbeiter in der CT-Abteilung sollen meine Aufnahmen auf eine CD brennen, auf die der Arzt dringend wartet. So eine CD zu brennen, kann ja nicht so lange dauern, oder? Tut es aber.
Über eine Stunde vergeht. Ich schicke meinem Mann eine SMS:
Dauert alles länger. :-( Volles Wartezimmer. Und ein Notfallpatient ... Kisses
Ich wandere im Wartezimmer umher. Fast jeder Platz ist besetzt. Schaue aus dem Fenster. Gehe zum achtundzwanzigsten Mal den langen, schmalen Gang vom Praxiseingang zum Wartezimmer entlang. Habe einen Kloß im Hals. Und wieso steigen mir dauernd Tränen in die Augen? Ich hab doch gar nichts. Ich bin doch gesund. Ich war mein Leben lang gesund. Hab nie etwas Ernstes gehabt. Nicht mal einen Arm gebrochen. Trotzdem kommen immer wieder Tränen, die ich vergeblich versuche wegzuwischen. Die anderen Patienten sollen nicht sehen, dass ich weine. Das wäre mir peinlich.
Endlich. Der Arzt lässt mich in sein Zimmer rufen. Wir sitzen uns gegenüber, fast Knie an Knie. Warum sitzt er nicht hinter seinem Schreibtisch? Komisch ... Seine Hände liegen auf seinen Oberschenkeln. Er sieht mich an. Wirkt so ernsthaft. »Liebe Frau Eyssen, es hat keinen Sinn, lange drum herumzureden. Sie haben Krebs. Lungenkrebs. So wie es aussieht, sind es wahrscheinlich zwei Tumore. Aber wir müssen noch genauere Untersuchungen machen.«
Was? Was sagt er? Leere im Kopf. Ich kann keinen Gedanken in meinem Kopf finden. Die Tränen schießen unkontrolliert aus den Augen. Das Kinn, die Mundwinkel zucken. Ich kriege keinen Ton heraus. Meine Hände zerren und zupfen an dem schon halb zerfledderten Papiertaschentuch, mit dem ich mir vorhin im Wartezimmer die Tränen weggewischt habe. Der Arzt nimmt meine Hände in seine. Ich WILL NICHT berührt werden! Ziehe meine Hände weg. Wische Tränen ab. Das muss ein Irrtum sein! Das kann nicht sein! Die haben die CDs vertauscht. Das CT-Gerät ist kaputt. Ich kann keinen Krebs haben. Ich will keinen Krebs haben. Ich will nicht sterben.
Dann setzt mein Überlebensmechanismus ein. Oder etwas anderes? Ich weiß es nicht. Hektik macht sich in meinem Kopf breit. Im Telegrammstil formuliert mein Gehirn: Krebs. Medizin. Operation. Blut. Skalpell. Narbe. Chemo. Erbrechen. Sterben. Tod. Krebs haben so viele Menschen. Habe ich so oft gelesen, diese Geschichten, die einen bis in den Schlaf verfolgen ... Wie die Kranken leiden. Wie verzweifelt sie sind. Welche Ängste und Schmerzen sie quälen. Wie oft sie weinen. Und oft auch: Wie sie ihren Kampf gegen diese Krankheit verloren haben ... Eine Sekunde absolute Stille in meinem Kopf. Und dann: Ja, das stimmt. Aber es gibt auch viele Kranke, die den Krebs besiegt haben!!! Das kann ich bestimmt auch?! Ich frage den Arzt: »Was können wir tun? Wie werde ich den Krebs los? Ich will so schnell wie möglich alles hinter mich bringen.« Ich höre mich an, als ob ich hier über einen Beinbruch sprechen würde.
Die Antwort: weitere Untersuchungen, Biopsie, Operation, Chemotherapie, Bestrahlungen, eben das volle Programm. Das beruhigt mich jetzt irgendwie. In meinem Gehirn surren ganze Sätze statt nur Wörter: Man kann was machen. Die Ärzte können mir helfen. Die moderne Medizin macht so vieles möglich. Die Krankheit angehen, den Kampf beginnen. Etwas tun, statt stumm und verzweifelt sitzen zu bleiben. Das hilft mir in diesem Moment. Dagegen hat die Angst keine Chance. Im Moment jedenfalls.
Auf dem Weg nach Hause rufe ich meinen Mann an. Ich muss es jemandem sagen. Ich kann mich jetzt nicht auf eine Bank setzen und über das Erlebte nachdenken. Ich bin schrecklich aufgeregt. In mir toben so viele Gefühle, von denen ich nur ein paar erfassen kann. Mein Leben wird sich von dieser Sekunde an ändern. Was steht mir bevor? Werde ich die Schmerzen ertragen können? Gibt es Hilfe für mich? Muss ich sterben?
NICHT nachdenken. Ich muss ETWAS TUN. Ich erzähle meinem Mann von der Diagnose. »Krebs. Er hat gesagt, ich habe Krebs.« Ich reagiere jetzt ganz ruhig. Bin ich in einem Schockzustand? Wahrscheinlich. Oder will ich nur mal wieder die Starke spielen, die Frau, die nichts umhauen kann? Ich neige dazu.
Mein Mann bemüht sich, ruhig zu bleiben: »Hat der Arzt wirklich das K-Wort benutzt?«
»Ja, eindeutig. Krebs. Karzinogen.« Über das »Z« in »Karzinogen« stolpert meine Zunge seit Jahren. Noch heute. Sprachproblem. Kein psychisches. Abgesehen davon, dass es früher um karzinogene Tumore anderer Menschen ging ...
Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Mach dir keine Sorgen, meine Süße, wir kriegen das hin. Du bekommst die besten Ärzte. Ich bin für dich da.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Ich bin nicht krank, ich hab nur Krebs. Aber nicht mehr lange.« Vielleicht will ich mit diesen Sätzen der Diagnose den Schrecken nehmen? Diese unbändige Angst bezwingen, die in mir tobt und die ich nicht zulassen will, weil ich befürchte, dass sie mich niederringt. Ich will stark sein. Ich werde stark sein. Ich will nicht unter Angst und Verzweiflung begraben sein. ICH WILL LEBEN.