Читать книгу Wenn ich das Schicksal treffe, kann es was erleben - Cornelia Eyssen - Страница 12
ANFANG MAI 2012,
BIOPSIE IM KRANKENHAUS Hilfe! Ich bin umzingelt
von lauter Krebskranken!
ОглавлениеNach all den Gesprächen mit unseren Freunden und Verwandten über meine Krankheit fühle ich mich von lauter Krebskranken geradezu umzingelt. Denn jeder kennt zumindest einen in seiner Familie oder im Bekanntenkreis, der Krebs hatte oder hat. Und er möchte die dramatische Geschichte unbedingt erzählen – als Trost für mich, unter dem Motto: »Guck mal, Conny, der hat es auch geschafft!«
Zum Beispiel dieser krebskranke Mann, der schon ein Abschiedsfest für all seine Freunde gegeben hatte, dann plötzlich irgendeine neue Ernährung mit Weizendrinks oder was weiß ich entdeckte und nun glücklich und gesund mit seiner Frau irgendwo in Hamburg lebt.
Oder die Geschichte von der Frau mit Unterleibskrebs, die nach Aussagen der Ärzte keine vier Monate mehr zu leben hatte und nun schon ihren fünfzehnten Geburtstag nach der Todesnachricht feiert. Weil sie sich in irgendeiner Klinik behandeln ließ, die zu hundert Prozent auf eine homöopathische Therapie setzt.
Oder dieser Mann aus England, der zu einem Guru nach Indien ging und sich dann durch Meditation selbst heilte.
Oder die Frau mit Darmkrebs, die nach einer wahren Odyssee von Arzt zu Arzt durch eine Klangschalentherapie geheilt wurde.
Oder diese Frau – ich glaube, sie hatte Brustkrebs –, die durch Zufall von irgendwelchen Tropfen erfuhr, die ein ehemaliger amerikanischer Goldgräber (!) entdeckt hatte. Einfach die Tropfen schlucken und schwupps, schon war sie gesund. KEIN Tumor mehr. Einfach in Luft aufgelöst. Von dieser Frau gab es leider keine weiteren Informationen darüber, wo sie jetzt lebt – und ob sie noch lebt.
Wer daran glaubt, bitte schön. Und wem’s hilft, umso besser. Aber ich will diese Geschichten nicht hören. Ich bin wahrscheinlich auch zu spießig für solche Experimente. Wenn es um mein Leben geht, bitte KEINE Experimente. Ich glaube an die Schulmedizin. Ich glaube an die Kunst der Ärzte und die Wirksamkeit von Medikamenten.
Vielleicht hat es auch damit etwas zu tun, dass ich Sternzeichen Jungfrau bin. Erste Dekade. Jungfraugeborene gelten allgemein als realistisch, penibel und extrem kritisch allen Dingen gegenüber, die man nicht exakt beweisen kann oder die durch internationale Studien belegt sind. In meinem Fall trifft das hundertprozentig zu. Ich weiß, das Beispiel hinkt, trotzdem: Wenn ich höllische Zahnschmerzen habe, gehe ich ja auch zum Zahnarzt und buche nicht eine Klangschalenstunde. Was nicht heißt, dass ich naturmedizinische Mittel strikt ablehne. Aber wenn überhaupt, dann nur als Ergänzung. Ich reagiere misstrauisch auf Berichte von angeblichen Wunderheilungen. Ich glaube nicht, dass man eine so aggressive und oft tödliche Krankheit wie Krebs durch Pilzextrakte, Walnüsse (sollen bei Prostatakrebs helfen), Meditation oder Kräuter, die bei Vollmond im Wald gesammelt wurden, bekämpfen und sogar besiegen kann. Das gilt aber nur für mich. Jeder muss letztendlich für sich entscheiden, welche Therapie er für die beste hält. Da gibt es kein richtig oder falsch.
Heute muss ich ins Krankenhaus. Zur Biopsie. Dabei wird mit einer Feinnadel eine Punktion gemacht und eine Gewebeprobe entnommen. Die wird dann mikroskopisch untersucht, um krankhafte Veränderungen der Zellen zu diagnostizieren. Leider muss ich über Nacht im Krankenhaus bleiben. »Zur Beobachtung«, hat der Internist gestern beim Vorgespräch in der Klinik in Bogenhausen erklärt.
Habe ich schon erwähnt, dass ich Krankenhäuser hasse? Allein dieser Geruch! Diese langen Gänge! Meist mit Linoleumfußboden, auf dem jeder Schritt unangenehm quietscht. Überarbeitete Schwestern. (Die machen wirklich einen verdammt harten Job. Und werden dafür mies bezahlt. Mein Mitgefühl haben sie.) Ärzte, die meist keine Zeit haben. Und dann die Kranken – blasse, dünne Menschen, aus deren Augen so viel Leid spricht, dass ich gar nicht hinsehen kann. Oh Gott, werde ich bald auch so aussehen? Werde ich ans Bett gefesselt sein und Morphium gegen meine Schmerzen bekommen? Horrorfantasien schwirren durch meinen Kopf. Unsinnig, ja, aber ich kann nichts dagegen tun.
Ich bin seit dem Morgen schrecklich aufgeregt, will aber nicht, dass es jemand merkt. Vor allem nicht mein Mann, der mich begleitet. Ich will kein Jammerlappen, kein Weichei sein. Eine Biopsie! Pah! Was ist das schon? Ein kleiner Stich – und schon vorbei! Das mach ich doch mit links.
Auf der Station im dritten Stock warten wir erst einmal über eine Stunde auf den harten Holzstühlen im Gang. An der Wand links schräg vor mir sehe ich auf einer Tür ein Plakat. Vierfarbig. Groß. Fast so groß wie die Tür. Zu sehen ist die schematische Darstellung einer starren Bronchoskopie: Ein langes Metallrohr mit einem Griff an einem Ende (ähnlich wie diese Dinger, mit denen man an der Zapfsäule Benzin tankt) wird durch den Mund und die Luftröhre hindurch bis in die Lunge geschoben.
Ich kann gar nicht hingucken.
Endlich bleibt ein Arzt vor uns stehen. »Guten Tag, Sie sind Frau Eyssen?«
»Ja.«
»Sie sind wegen der Biopsie hier?«
»Ja.«
»Um was geht es denn eigentlich bei Ihnen?«, fragt der Arzt und versteckt beide Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Das wirkt entschlossen, aber auch ungeduldig.
»Man hat ein Ultraschall und ein CT gemacht. Beides ergab den Verdacht auf Lungenkrebs. Wahrscheinlich gleich zwei Tumore.«
»Aha. In diesem Fall sollten wir auch unbedingt eine Bronchoskopie ...«
»Nein!«, falle ich dem Arzt ins Wort. »Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich bin nur wegen der Biopsie hier. Wegen nichts anderem.« Das Bild! Ich habe das Bild von der Bronchoskopie an der Tür vor meinem geistigen Auge!
»Aber Frau Eyssen, eine Bronchoskopie ist absolut notwendig in einem Fall wie Ihrem.«
»Das ist mir egal. KEINE Bronchoskopie. Eine BIOPSIE. So wurde es gestern zwischen meinem Arzt und dem Internisten Ihrer Klinik verabredet.«
Ich weiß, das ist arrogant von mir. Ich habe mich auch im Ton vergriffen. Aber ich bin so panisch – NIEMAND, KEINER wird so einen Metallstab in meine Luftröhre stecken!!!!
Mein Mann schaltet sich ein. Er klärt die Situation auf seine ruhige und konstruktive Art.
Der Arzt ist zwar sauer, dass über seinen Kopf hinweg Abmachungen mit anderen Kollegen in der Klinik getroffen wurden, aber er gibt nach.
Ich komme in ein Zwei-Bett-Zimmer. Im zerwühlten Bett am Fenster sitzt eine Frau um die sechzig. Sie löffelt eine Suppe. Es ist inzwischen Mittagszeit. Sie reagiert nur mit einem kurzen »Tag!« auf meine Begrüßung. War ich vielleicht nicht freundlich genug? Sie isst weiter. Hm ... Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll.
Eine Krankenschwester hält mir ein Hinten-offen-Nachthemd hin.
Ich lehne ab. »Ich kann sehr gut laufen, ich bin schon erwachsen. Ich brauche das Hemd nicht.« Das halte ich für Humor. Soll aber nur meine Angst und Unsicherheit übertünchen.
»Sie bekommen eine Narkose. Da können Sie dann nicht laufen.«
Dann legt sie mir einen Zugang für Injektionen und Infusionen am linken Unterarm und ich werde im Bett liegend von einem Pfleger vom dritten Stock ins Untergeschoss geschoben. Mir ist schwummerig zumute. Und meine stumme Angst hat sich noch verstärkt. Mein Mann ist an meiner Seite, er hält meine Hand. Im Untergeschoss werde ich samt Bett an der Seite eines laaaaaangen Ganges abgestellt – und bleibe da erst einmal stehen beziehungsweise liegen. Warten. Warten. Warten.
Mein Mann sitzt auf meinem Bett und liest mir aus einer Tageszeitung vor, die er auf sein iPad geladen hat. Ich weiß, er will mich jetzt ablenken – aber ich kann mich nicht konzentrieren, kann nicht zuhören. Ich WILL, dass diese blöde Biopsie SOFORT anfängt, damit sie schnell vorbei ist.
War gar nicht schlimm, die Biopsie. Ich war dank der leichten Narkose weggetreten und habe so gut wie nichts mitbekommen. :-)
Das Ergebnis gibt es erst in zwei bis drei Tagen.
Abends allein mit meiner Bettnachbarin im Zimmer. Der mit Gazeverband fixierte Zugang für Spritzen und Infusionen an meinem linken Unterarm schmerzt. Die Schwester, die ich vor einer Stunde gebeten habe, das Teil zu entfernen, hat mit deutlichen Worten abgelehnt. »Der Zugang bleibt! Nachher passiert etwas und wir fangen an, an Ihnen rumzustechen, um eine Vene zu finden.«
»Aber das tut wirklich weh.«
»Das kann nicht sein.«
Ich widerspreche nicht. Ich ärgere mich über mich selbst. Wieso, wann und warum habe ich mich von einer selbstbewussten und durchsetzungsfähigen Frau in kürzlich noch leitender Position eines großen Verlags in eine domestizierte Patientin verwandelt, die brav gehorcht und keine Widerworte von sich gibt?
Wieso: Weil ich das erste Mal in meinem Leben in einem Krankenhaus bin.
Wann: Seitdem ich den ersten Schritt in dieses Krankenhaus gesetzt habe.
Warum: Weil mir verdammt noch mal hier alles so fremd hier ist.
Stumm und klein liege ich in meinem Bett. Meine Nachbarin rechts neben mir hat noch kein einziges Wort mit mir gesprochen. Sie hat das Abendmenü – undefinierbares Brot mit undefinierbarer Wurst, einer eingelegten Gurke (die habe ich erkannt) und einem Himbeerjoghurt (auch erkannt!) – gegessen und schaut sich eine Arztserie im Fernsehen an (über Kopfhörer, Gott sei Dank!). Man liegt im Krankenhaus und sieht sich eine Arztserie an – das sind mir eindeutig zu viele weiße Kittel, zu viele Stethoskope, zu viele Spritzen und Tupfer und zu viele verletzte, kranke Menschen.
Zwischendurch schlurft meine Mitbewohnerin mindestens fünfmal mit ihren Hausschuhschlappen ins Bad. Dabei hat sie immer einen Strohhalm im Mund, durch den sie ausatmet. Sie atmet normal durch den Mund ein und dann durch den Strohhalm aus, was alle zwei, drei Sekunden zu einem grässlich pfeifenden Geräusch führt. Es treibt mich in den Wahnsinn. Auf meine höflich formulierte Nachfrage erklärt sie: »So krieg ich besser Luft. Damit ich nicht hyperventiliere.« Wenn das so ist, dann ist es wohl so. Und ich halte meinen Mund.*
Um 22:30 Uhr ist Bettruhe. Die Schwester zieht die Vorhänge zu. Ich HASSE es, im Dunkeln zu schlafen. Aber weder sie noch meine Zimmernachbarin lassen sich überreden. Meine Mitbewohnerin stellt ihre beigefarbene Sauerstoffflasche ordentlich in Höhe des Kopfkissens neben ihr Bett und legt sich diesen durchsichtigen Schlauch um, der in den Nasenlöchern endet. Sie dreht an einem Knopf und legt sich dann schwer atmend, aber irgendwie zufrieden in die Kissen.
Um 1:20 Uhr stürmen erst die Nachtschwester und dann ein Arzt ins Zimmer. Alle Lampen an. Es ist taghell. Meine Bettnachbarin hat den Notknopf gedrückt. Sie röchelt. Wedelt mit den Armen. Packt die Schwester an der Schulter. Kommt mit dem Oberkörper hoch. Die Schwester drückt die Patientin sacht zurück aufs Kissen, der Arzt fühlt ihr den Puls.
Die Schwester: »Frau Sowieso, was soll denn das? Sie wissen doch genau, wie Sie mit der Sauerstoffflasche umgehen müssen. Das haben wir Ihnen doch schon mindestens viermal gezeigt.«
Frau Sowieso murmelt irgendetwas Unverständliches.
Der Arzt: »Frau Sowieso, jetzt beruhigen Sie sich. Es gibt keinen Grund für eine Panik. Es ist alles in Ordnung. Sie werden übermorgen entlassen. Und zu Hause müssen Sie auch mit der Sauerstoffflasche zurechtkommen. Sie können das. Das weiß ich.«
Frau Sowieso beruhigt sich. Mit leiser, trotziger Stimme sagt sie: »Ja, ja, ich weiß, wie das alles geht. Ich hab aber keine Luft mehr bekommen.«
Als im Zimmer wieder Dunkelheit und Ruhe herrschen, versuche ich, wieder einzuschlafen. Nur noch ein paar Stunden, bis ich rauskann aus dieser Klinik. Endlich!
Noch zweimal in dieser Nacht hastet die Nachtschwester in unser Zimmer, knipst das Licht an und beschwichtigt Frau Sowieso. Der Arzt ist geblieben, wo er war.
Dann ist es endlich 7 Uhr und ich kann aufstehen und ins Badezimmer. Schnell alles zusammenpacken. Ich klingle nach der Schwester. Jetzt WILL ich den blöden Zugang endlich loswerden. Ich bin übermüdet, genervt und wütend genug, um mich dieses Mal durchzusetzen. Die Schwester macht zwar ein beleidigtes Gesicht, aber das ist mir vollkommen egal.
Fix und fertig angezogen und mit der Tasche in der Hand stehe ich wie Tante Berta vor ihrer ersten großen Reise an meinem Bett. Ich will gehen. Jetzt. Sofort. ICH WILL NACH HAUSE. Aber die Stationsärztin hält mich auf. »Es ist noch Visite.«
»Wann?«, frage ich.
»So gegen 11, 12 Uhr.«
»Zu spät.«
»Die müssen Sie aber abwarten.«
»Warum?«
»Weil der Chefarzt Sie noch mal sehen muss.«
»Warum?«
»Weil es nach einer Biopsie zu Komplikationen kommen kann. Deshalb mussten Sie ja auch über Nacht bleiben. Falls etwas passiert wäre.«
»Was hätte denn passieren können?
»Zum Beispiel ein Bluterguss. Oder auch Blutungen.«
»Ich habe aber nichts – keinen Bluterguss und auch keine Blutungen oder sonst was!«
»Trotzdem. Nur der Chefarzt kann beurteilen, ob alles in Ordnung ist und Sie nach Hause gehen dürfen.«
» Mir fehlt aber nichts!«
»Trotzdem sollten Sie warten.«
»Nein.« Ich. Gehe. Und zwar jetzt. Ich will hier raus. Ich will nach Hause. Meine Nerven liegen blank. Ein hysterischer Weinkrampf sitzt in meiner Kehle. Ich werde ihn nicht rauslassen.
Um 8:20 Uhr sitze ich draußen vor der Klinik auf einer Bank und rufe meinen Mann an. »Hol mich bitte sofort ab. Bitte. Sofort.«
* Heute weiß ich, dass das die Lippenbremsen-Atmung ist, die es Patienten mit zum Beispiel Asthma oder COPD erleichtert, bei Stress oder Atemnot besser Luft zu bekommen. Dadurch, dass man nur durch die kleine Öffnung des Strohhalms ausatmet, entsteht ein Gegendruck in den Atemwegen, der verhindert, dass die Bronchien in sich zusammenfallen und die Atemluft nicht mehr aus der Lunge entweichen kann.
Also: Shame on me! Und zwar ganz viel.