Читать книгу Gesunde Ernährung heute und morgen - Dr. med. Jörn Klasen - Страница 11
ОглавлениеDer Speiseplan unserer Vorfahren
Was haben unsere Vorfahren gegessen? Was ist eine Paleo-Ernährung? Waren unsere Vorfahren gesünder als wir heute? Bestand die Steinzeiternährung vor allem aus Fleisch? Sollten wir wie in der Steinzeit essen, um chronischen Erkrankungen vorzubeugen?
Unser Verdauungs- und Stoffwechselsystem hat sich über Millionen Jahre entwickelt und ist vermutlich am besten an die Steinzeitkost angepasst. Denn fast die gesamte Menschheitsgeschichte spielte in der Steinzeit. Diese begann vor etwa 2,5 Millionen Jahren mit dem Auftreten der ersten Menschengattung (homo) und endete mit dem Ende der letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jahren. Menschen lebten in der Steinzeit als Jäger und Sammler. Genetische Veränderungen, die sich durch evolutionäre Anpassung über viele Generationen durchsetzen, sind sehr langsame Prozesse, sodass wir davon ausgehen können, dass unser Genom noch fast genauso ist wie damals.20
Allerdings hat sich unsere Ernährung seit der Steinzeit stark verändert. Vor gut 10.000 Jahren wurde der Mensch sesshaft und begann, Ackerbau zu betreiben. Damit veränderte sich auch seine Ernährungsweise erheblich. Milch- und Getreideprodukte fanden Einzug in den Speiseplan. Die Ernährung wurde einseitiger und bestand immer häufiger aus wenigen Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Mais. Mit der industriellen Revolution vor rund 200 Jahren veränderte sich unsere Ernährung nochmals in nie dagewesenem Ausmaß – vor allem durch das Aufkommen der Lebensmittelindustrie. Durch neue Technologien konnten völlig neuartige Lebensmittel hergestellt werden. Produkte wie Frühstückscerealien, Softdrinks und Tiefkühlkost wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts immer populärer. Industriell hergestellte Lebensmittel mit viel Zucker, Salz, Transfetten (sie entstehen bei der chemischen Härtung von Fett) und künstlichen Zusatzstoffen veränderten unsere Ernährung grundlegend. Evolutionär angepasst an all das sind wir nicht. Die Paleo-Bewegung behauptet daher – Paleo steht für englisch paleolithic, also für die Altsteinzeit (Paläolithikum) –, dass uns die modernen Lebensmittel krank machen und für die Zunahme von Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Diabetes und Krebs verantwortlich
sind.21, 22 Und die davon abgeleitete Empfehlung lautet, wer gesund bleiben will, sollte sich „artgerecht“ wie unsere Vorfahren ernähren.
Aber was haben die genau gegessen? Vermutlich bestand ihre Ernährung aus Blättern, Wurzeln, Früchten, Beeren, Nüssen, Samen, Wildfleisch, Eiern und Fisch sowie geringen Mengen Honig. Der Speiseplan war reich an Ballaststoffen (► Seite 74ff.), Vitaminen und sekundären Pflanzenstoffen (► Seite 79).23 Außerdem hatte er eine geringe glykämische Last, das heißt, er beinhaltete vorwiegend Lebensmittel, die den Blutzuckerspiegel nur langsam ansteigen lassen. Getreide, Milchprodukte, Hülsenfrüchte, Speiseöle, Salz, zugesetzte Zucker und alkoholhaltige Getränke standen gar nicht oder nur in sehr geringen Mengen auf dem Speiseplan.21
Viel wird darüber debattiert, wie hoch der Fleischanteil in der steinzeitlichen Ernährung war. Einiges deutet daraufhin (Gebiss, Darmlänge, wenig Magensäure), dass der Mensch immer ein Allesfresser (Omnivore) war und sich weder rein vegetarisch noch als reiner Fleischfresser ernährt hat.21 Bis zur letzten Jahrtausendwende vermutete man, dass die Steinzeiternährung überwiegend pflanzlich und fettarm war.24
Heute geht man eher davon aus, dass die Steinzeitkost vergleichsweise fettreich war (bis zu 40 Prozent Fett) und einen hohen Fleisch- und Fischanteil (etwa die Hälfte der Nahrungsmenge) hatte.23, 21 Wer aber daraus schließt, dass er große Steaks von sojagefütterten Rindern als gesunde Paleo-Diät in sich hineinstopfen könne, hat sich viel zu oberflächlich mit der Steinzeitkost befasst und setzt sich einem erheblichen Gesundheitsrisiko aus. Paleo-Jünger sollten nicht vergessen, dass es in der Steinzeit nur das magere Fleisch von Wildtieren gab, von denen auch die Innereien und das Knochenmark verzehrt wurden. Außerdem war die oft stundenlange Jagd nach diesen Tieren mit viel Bewegung verbunden.
Zudem enthielt die Steinzeitkost sehr viele Ballaststoffe. Früchte, Knollen und Blätter hatten viel härtere Schalen und Fasern. Diese wurden aus heutigen Lebensmitteln über die letzten Jahrzehnte mehr und mehr weggezüchtet (► Seite 74ff.).
Artgerechte Ernährung
An Industrienahrung ist der Mensch evolutionär nicht angepasst. Die längste Zeit seiner Entwicklungsgeschichte hat sich der Menschen von „echten“ Lebensmitteln (Naturnahrung) ernährt. Mit der Sesshaftwerdung vor ca. 10.000 Jahren nahm der Mensch Milchprodukte, Getreide und Hülsenfrüchte verstärkt in seinen Speiseplan auf. Industrienahrung mit hoch verarbeiteten Produkten gibt es erst seit 200 Jahren. Entwicklungsgeschichtlich ein Wimpernschlag.
Es gibt nicht die eine Paleo-Diät
Umstritten ist, ab wann der Mensch Feuer selbst entzünden konnte. Wahrscheinlich schon seit mehr als einer Million Jahre durch das Aneinanderreiben von Steinen. Eine reine Rohkosternährung in der Steinzeit ist daher unwahrscheinlich. Durch das Erhitzen von Nahrung wie von Fleisch und stärkereichen Wurzelknollen konnte der Mensch deren Energie viel effizienter aufnehmen. Das kam dem Wachstum des menschlichen Gehirns zugute und verhalf Menschen zu mehr Zeit für Aktivitäten, die nicht der Nahrungssuche dienten.21
Fest steht auch, dass unsere Vorfahren regelmäßig gefastet haben oder fasten mussten. Manchmal war die Jagd nicht erfolgreich, eine Dürre ließ fast alle Pflanzen vertrocknen oder es war schlicht Winter. Unser Körper ist daher an Fasten sehr gut angepasst und kommt damit bestens zurecht. Er scheint sogar längere Phasen des Nichtessens regelrecht zu brauchen, um sich zu regenerieren und gesund zu bleiben (► Seite 206ff.).
Wer sich nun fragt, wie die Zusammensetzung der Steinzeitkost genau war, stößt schnell an Grenzen. Alles, was uns aus dieser Zeit bleibt, sind ein paar Knochen und Steinwerkzeuge. Moderne chemisch-physikalische Analysetechniken wie das Isotopenverfahren erlauben zwar, aus Knochen und Zähnen Rückschlüsse auf die Ernährung anzustellen. Allerdings bleibt es äußerst schwierig, die einzelnen Lebensmittel und ihre Zusammensetzung genau zu rekonstruieren.
Die Ergebnisse sind bestenfalls grobe Annährungen. Als Modell der steinzeitlichen Ernährung dienen daher oft die Ernährungsweisen von sogenannten Naturvölkern, die heute noch als Jäger und Sammler leben. Diese zeichnen sich aber durch eine große Heterogenität aus. Inwieweit sie tatsächlich mit der Steinzeitkost vor Hundertausenden von Jahren übereinstimmen, bleibt unklar.
Wir müssen uns damit begnügen, dass wir heute vor allem eines wissen: Es gibt nicht die eine Paleo-Diät. Es gab viele verschiedene Ernährungsweisen in der Steinzeit, die von Zeitraum, Region und Klima abhingen.21 Manche Gruppen ernährten sich pflanzenbasiert, andere
eher fleischlastig. Die Steinzeit umfasst einen Zeitraum von rund 2,5 Millionen Jahren, in denen sich die Menschheit weiterentwickelte, große klimatische Veränderungen stattfanden und sich die Lebensräume mehrmals drastisch veränderten. An jede dieser Veränderungen wurde die Ernährung angepasst. Interessanterweise scheint es vor allem die große Flexibilität zu sein, auf die der evolutionäre Erfolg der Spezies Mensch beruht.21 Es entbehrt daher jeder wissenschaftlichen Grundlage, wenn Gurus, Autoren, Blogger oder Verkäufer die Steinzeit-Diät zu einem simplen Ernährungsgrundsatz machen.
Wie empfehlenswert ist die moderne Paleo-Kost?
Bringt es uns gesundheitliche Vorteile, wenn wir uns an der Steinzeitkost orientieren? Dazu müssen wir uns zunächst klarmachen, dass wir uns – selbst wenn wir wüssten, wie die Steinzeit-Diät wirklich aussah – heute nicht mehr entsprechend ernähren könnten. Viele der wilden Pflanzen und Tierarten von damals gibt es schlicht nicht mehr. Heutiges Fleisch, insbesondere Industriefleisch, ist in seiner Zusammensetzung ganz anders als mageres Wildfleisch. Auch Gemüse und Obst haben sich durch Züchtungen stark verändert. Zum Beispiel gab es in der Steinzeit keinen Brokkoli. Genau wie Blumenkohl, Kohlrabi, Weißkohl und Rosenkohl ist auch der Brokkoli aus
einer einzigen Art, Brassica oleracea, der Wildform des Gemüsekohls, gezüchtet worden. Außerdem hatte „Steinzeitgemüse“ viel mehr Bitterstoffe und schwer verdauliche Schalen, die weggezüchtet wurden. Die Professorin Christina Warinner vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena ist Expertin für alte Ernährungsweisen. In ihrem sehr sehenswerten TED Talk „Debunking the paleo diet“ entlarvt sie viele Mythen rund um die altsteinzeitliche Kost.
Ernährungswissenschaftler sind sich weitgehend darin einig, dass eine moderne, vielfältige Paleo-Ernährung gesund ist, die Gemüse, Salate, Pilze, Nüsse, Obst, Fisch und mageres Fleisch aus artgerechter Hal-tung enthält und Zucker sowie alle hoch verarbeiteten Lebensmitteln meidet. Mit einem Aber: Lebensmittel wie Vollkorngetreide und Hülsenfrüchte, die in der Paleo-Ernährung gemieden werden, haben eine wissenschaftlich nachgewiesene gesundheitsfördernde Wirkung. Neben der Ernährung spielen ohne Zweifel auch die anderen Aspekte des Lebensstils der Steinzeitmenschen eine wichtige Rolle für deren Gesundheit: Dazu gehören viel Bewegung, ausreichend Schlaf, enge soziale Bindungen mit wenig psychosozialem Stress, Licht- und UV-Exposition und keine Zigaretten.21, 23
Eine abschließende Bewertung der modernen Paleo-Kost steht aber noch aus, da es einfach zu wenig wissenschaftliche Studien gibt und die bisherigen Ergebnisse uneinheitlich sind. Zwar existieren erste Hinweise, dass eine Paleo-Ernährung beim Abnehmen helfen kann, deutliche Vorteile gegenüber anderen Ernährungsweisen, die auch auf wenig Zucker setzen, aber Hülsenfrüchte, gesunde pflanzliche Öle, Milch- und Vollkornprodukte beinhalten, ließen sich dagegen nicht nachweisen.21 Verglichen mit einer Junkfood-Ernährung schneidet die Paleo-Kost gut ab, was wenig überraschend ist.
►►► AUF EINEN BLICK PALEO
Es gibt nicht die eine Paleo-Ernährungsweise, die als Modell für eine „artgerechte“ Ernährung für den heutigen Menschen dienen könnte. Ein Ernährungsdogma, wie es manche Paleo-Anhänger propagieren, lässt sich aus dem aktuellen Stand des Wissens nicht seriös ableiten. Der Mensch zeichnet sich vor allem durch eine hohe metabolische Anpassungsfähigkeit und Flexibilität aus.
Trotzdem können folgende Prinzipien aus der Paleo-Ernährung auch für eine moderne Lebensweise und gesunde Ernährung angewendet werden:
►Essen Sie viel Gemüse, Salate, Pilze, Nüsse, Obst, Fisch und mageres Fleisch.
►Essen Sie möglichst frische und saisonale Lebensmittel.
►Konsumieren Sie wenig Zucker, kaum Alkohol und möglichst wenig verarbeitete Lebensmittel.
►Fasten Sie regelmäßig, zum Beispiel mit Intervallfasten (► Seite 214).
►Achten Sie auf viel Bewegung, ausreichend Schlaf und pflegen Sie enge soziale Bindungen.
►Bedenken Sie, dass auch Lebensmittel, die nicht in die typische Paleo-Diät gehören, wie Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, pflanzliche Öle und fermentierte Milchprodukte, nach aktuellem wissenschaftlichem Stand einen gesundheitsfördernden Effekt haben.