Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 27
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Normalerweise trank ich keinen Kaffee. Doch in Anbetracht der Umstände konnte es heute nicht verkehrt sein, darauf zurückzugreifen. Ich brauchte schließlich all meine Sinne hellwach, denn es wäre höchst peinlich gewesen, wäre ich genau in dem Moment, in dem Daron mir seine Geschichte erzählte, einfach weggepennt.
Wir saßen zu zweit am großen Küchentisch, Daron links neben mir. Der Kaffee stand bereits, in Tassen eingefüllt, dampfend vor uns, während Alan im Kühlschrank noch nach Milch und in einem der Küchenschränke nach Zucker fischte. Ohne beides würde ich die schwarze Brühe sicher nicht herunter bekommen. Aufgeregt zupfte ich an den Kordeln des grauen Jogginganzugs, den Daron für mich aus seinem Kleiderschrank geholt hatte. Natürlich war er mir diverse Nummern zu weit, doch das störte mich in dem Moment weniger. Zumal Daron immer noch seinen dunklen Satinmorgenmantel trug und Alan sich, nachdem er die Flecken auf seinem T-Shirt gesehen hatte, kurzerhand dazu entschlossen hatte, den Kaffee mit nacktem Oberkörper zu kochen. Auch wenn ich nicht wollte – automatisch schielte ich in seine Richtung und staunte über seinen ebenfalls hervorragend definierten Waschbrettbauch und die breiten Schultern.
„Na na“, ermahnte mich Daron grinsend und schnippte kurz mit den Fingern vor meinen Augen, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Du wirst mir doch nicht etwa auf dumme Gedanken kommen?“
Ich spürte, wie ich rot wurde.
Verdammt.
Und während Daron daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach, murmelte ich beschämt vor mich hin, wie sehr es mich einfach verwunderte, dass offenbar alle aus seiner Familie so gut gebaut waren. Zumindest die, die ich kannte. Nichts als die Wahrheit und null geflunkert. Da war ich ein kleines Bisschen stolz auf mich.
„Wir sind auch nicht wie die meisten Familien“, sagte Alan, als er sich mir gegenüber an den Tisch setzte und uns Milch und Zucker reichte. „Eigentlich sind wir wie keine andere Familie.“
Ich nahm mir ganze drei Würfel Zucker und einen großen Schuss Milch. Das musste reichen, um den Kaffee für mich trinkbar zu machen.
„Okay“, sagte ich und probierte meinen ersten Schluck. Der Kaffee war tatsächlich nicht schlecht, und es tat gut, wie seine Hitze mir den Bauch von innen wärmte. So langsam verstand ich, was alle an diesem Getränk fanden. „Was für eine Familie seid ihr denn?“ Nervös drehte Daron seine Tasse in den Händen und wagte kaum, mich direkt anzusehen.
„Lass uns anders anfangen, Aline. Du hast mir vorhin gesagt, du wüsstest selber nur allzu gut, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt. Was genau hast du damit gemeint?“
Na toll.
Jetzt musste ich also als Erste die Hosen herunterlassen.
So war das eigentlich nicht gedacht gewesen.
Aber es war offenbar die einzige Möglichkeit, endlich hinter Darons Geheimnis zu kommen, also: Was blieb mir da anderes übrig? Ich räusperte mich und erzählte den beiden ausführlich von dieser einen Nacht zu Beginn meiner Teenagerzeit, in der meine Minivisionen begonnen hatten, mich zu verfolgen. Wie schwer ich einst damit zurechtgekommen war und dass ich mich irgendwann damit abgefunden hatte. Aufmerksam verfolgten Daron und Alan meine Geschichte und wechselten nur ab und zu einen kurzen Blick.
„Ich weiß nicht, was das ist, und wieso ausgerechnet ich das zweifelhafte Glück habe, von diesem Spuk heimgesucht zu werden, aber ich habe einfach aufgehört, nach dem Warum zu suchen. Darüber reden konnte ich sowieso mit niemandem, es hätte ja keiner verstanden“, schloss ich meinen kurzen Ausflug in die Pubertät und nahm erneut einen Schluck Kaffee, der mir immer besser schmeckte.
„Wir verstehen dich“, sagte Daron und fügte sehr vorsichtig hinzu: „Aline, bitte krieg das jetzt nicht in den falschen Hals, aber traten diese Visionen, um bei deiner Umschreibung zu bleiben, unmittelbar vor oder nach deiner ersten Periode auf?“
Ich dachte, ich hätte mich verhört, und verschluckte mich umgehend am Kaffee. Geistesgegenwärtig hielt ich mir eine Serviette vors Gesicht, damit er mir nicht ungehindert aus der Nase schoss.
„Wie bitte?“, presste ich hustend und mit Tränen in den Augen hervor. Memo an mich selbst: Heißer Kaffee hat definitiv nichts in der Luftröhre zu suchen.
Und auch nichts in der Nase.
Alan unterdrückte mühsam ein kleines Lachen, und ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu, aufgrund dessen er zwar entschuldigend die Hände hob, aber nicht wirklich aussah, als täte es ihm leid. Ich konnte es ihm nicht verübeln; ich hätte in dem Moment wohl auch über mich selbst gelacht.
„Tut mir leid, Aline, die Situation ist wirklich schon unangenehm genug, und wir hatten mit so mancher Reaktion von dir gerechnet, aber sicher nicht damit.“
Ich blickte zu Daron, der wie versteinert da saß, doch seine funkelnden Augen verrieten, dass auch er Mühe hatte, sich zu beherrschen.
„Du also auch?“, keuchte ich in die Serviette und musste irgendwie selbst anfangen zu lachen, weil die Situation mehr als bizarr war.
Und weil ich einfach mal lachen musste.
Lachen war der Orgasmus der Seele und lockerte so manch schwieriges Gespräch auf. Daraufhin fingen beide Männer ebenfalls an zu prusten, und für einen kurzen Moment waren wir nichts weiter als drei Menschen, die sich mitten in der Nacht bei einer Tasse Kaffee unterhielten und lachten. Ach, wäre es doch nur so einfach gewesen.
„Gut“, kicherte ich und gab mir Mühe, wieder ernsthaft zu werden, während ich mir die letzten Tränen aus den Augen wischte. „Das ist zwar jetzt sehr persönlich, und ich habe null Peilung, was mein Zyklus damit zu tun hat, aber Ihr habt recht. Es begann kurz nach meiner ersten Periode. Das werde ich nie vergessen, denn ich bekam sie an einem Freitag den dreizehnten. Welche Ironie. Die Visionen setzten dann nur wenige Tage später ein.“
In diesem Moment begann sich ein Verdacht in meinem Kopf zu formen, und schlagartig verging mir das Lachen.
„Ihr wollt mir doch nicht etwa erzählen, dass da ein Zusammenhang besteht?“, fragte ich irritiert.
Daron rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl umher, nahm einen Schluck aus seiner Tasse und sah mir direkt in die Augen.
„Ich fürchte, doch“, antwortete er behutsam. „Aline, du bist nicht wie andere normale Frauen. Das beweisen dir deine Visionen, das hast du selbst schon festgestellt.“
Darauf konnte ich nichts erwidern, also nickte ich stumm und zupfte erneut an den Kordeln meines Sweatshirts. Es stimmte, da biss die Maus keinen Faden ab. Ich hatte mich schon immer irgendwie anders gefühlt.
„Du bist das, was wir eine Bewahrerin nennen. Eine Frau, die dazu bestimmt ist, unsere Linie weiterzuführen.“
Gut, dass ich jetzt keinen Kaffee getrunken hatte. Ich hätte ihn erneut aus der Nase geschossen, aber diesmal nicht vor Lachen.
„Moment! Also … Soll das heißen, wenn ich das mal übersetze, dass ich eine Art Speziallegehenne bin? Sehr schmeichelhaft, wirklich.“ Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, schalt ich mich sofort innerlich für meinen Anfall von Zynismus, der sich bei mir automatisch bei drohendem Kontrollverlust einstellte. Mein ureigener Schutzschild sozusagen. „Bitte entschuldigt“, fügte ich sofort beschwichtigend hinzu, denn eigentlich wollte ich ja wissen, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hatte. „Das ist einfach nur ein bisschen schwierig für mich.“
„Na, wenn du das schon als schwierig empfindest, dann warte erst einmal ab, was da noch kommt“, murmelte Alan leise in seine Tasse und erntete dafür von Daron einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.
„Au, das tat weh!“, protestierte Alan, und ich wunderte mich ein klein wenig, wie ruppig Daron mit seinem Bruder umging. Andererseits … Brüder unter sich, man kannte das ja.
„Ich hoffe mal sehr, dass es weh tat!“, raunzte Daron Alan an. „Das würde nämlich zeigen, dass du noch ein wenig Hirn da oben drin hast, das dich eigentlich davon abhalten sollte, so unüberlegte Kommentare abzugeben. Meinst du nicht, dass die Situation schon belastend genug für Aline ist? Mit solchen Bemerkungen verschreckst du sie nur noch mehr.“ Verlegen grinste Alan und rieb sich mit der rechten Hand die malträtierte Stelle an seinem Kopf.
„Hab nicht nachgedacht, tut mir leid. Ab sofort keine blöden Kommentare mehr.“
Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte mir allerdings, dass dieses Versprechen schon jetzt zum Scheitern verdammt war. Das machte mir Alan in dem Moment unheimlich sympathisch.
Ich mochte Menschen, die sich nicht scheuten, die Wahrheit auszusprechen, auch wenn das unangenehme Folgen mit sich bringen konnte. Lieber so als hinten herum.
„Schon gut“, grinste ich und fasste nach Darons Hand, während ich Alan einen wissenden Blick zuwarf. „Kleine Brüder können manchmal wirklich die Pest sein.“
Dies brachte Alan erneut zum Lachen.
„Entschuldige, Aline, aber der war zu gut! Der kleine Bruder hockt nämlich genau neben dir.“ Verwundert schaute ich Daron an, der sich nervös eine Strähne hinters Ohr strich.
„Du bist Alans kleiner Bruder?“, fragte ich verblüfft.
„Nicht nur seiner“, antwortete Daron mit einem verlegenen Lächeln und räusperte sich. „Ich bin der jüngste von uns allen.“ Da war ich platt. Das hätte ich wirklich nicht gedacht, sah Daron mit seiner imposanten Statur und der dunklen Aufmachung doch weitaus reifer aus als Alan.
Und Mael.
Bei diesem Gedanken schüttelte es mich innerlich.
„Aber wie alt kannst du denn sein, wenn du sieben ältere Brüder hast und selbst aussiehst wie maximal … zweiunddreißig? Alan würde ich auch keinesfalls älter schätzen.“ Ich gab mir keine Mühe, meine Verwirrung zu verbergen. Daron drückte meine Hand.
„Ich bin dreihundertzehn Jahre alt.“
Oh.
Ja, klar.
Das brachte mich, gelinde gesagt, aus der Fassung und ließ meinen Unterkiefer förmlich auf die Tischkante knallen.
„Genauer gesagt sind wir alle dreihundertzehn Jahre alt. Ich war einfach nur der Letzte, der geboren wurde.“
Okay.
Weiter runter konnte mein Kiefer nicht mehr klappen. Hatte Daron mir soeben erzählt, er und seine Brüder seien Achtlinge? Ich fasste mir mit beiden Händen an die Schläfen und rieb mir anschließend über die Augen, bis ich Sternchen sah.
Dreihundertzehn Jahre alte Achtlinge.
So ein Schwachsinn, schoss es mir durch den Kopf. Allerdings hörte ich sogleich die kleine Stimme in meinem Inneren, die mir mahnend zuraunte, ich solle mir doch mal überlegen, ob der geflügelte schwarze Mann mit den roten Augen im Badezimmer auch einfach nur Schwachsinn gewesen war.
Touché.
Verdammt.
Ich richtete mich auf, strich mir die Haare aus dem Gesicht, sog einmal tief die Luft ein und ließ die bisherigen Informationen laut Revue passieren. Meine Augen hielt ich dabei geschlossen, damit ich mich besser konzentrieren konnte.
„Gut, Männer, ich fasse das mal zusammen: Ich, die mit Visionen gestrafte Bewahrerin – was auch immer das genau bedeutet – sitze hier am Tisch mit zwei von dreihundertzehn Jahre alten Achtlingen, die, soweit ich bisher mitbekommen habe, nicht nur einer Modelkartei entsprungen zu sein scheinen, sondern von denen mich auch einer zu vergewaltigen versucht hat, während der, den ich liebe, sich bei meiner Rettung schwarz verfärbte und Flügel bekam. Also ehrlich … Nehmt es mir nicht übel, wenn das so trocken klingt. Ich versuche einfach nur, die Fakten in meinem Kopf zu ordnen, ohne den Verstand zu verlieren.“
Was für ein Wahnsinn. Ich schlug die Augen auf und blickte in zwei sorgenvolle Gesichter. Alan setzte an, etwas zu sagen, besann sich aber dann doch eines Besseren und nahm lieber noch einen Schluck aus seiner Tasse. Daron ergriff erneut meine Hand.
„Das hört sich tatsächlich schlimm an, wenn du das so sagst, aber im Grunde entspricht es den Tatsachen. Ich habe dir Antworten versprochen, jetzt bekommst du sie. Und wir sind noch lange nicht am Ende. Denkst du, du schaffst das, oder brauchst du eine Pause?“
Ich lachte beinahe hysterisch auf.
„Ehrlich gesagt, was ich jetzt dringender bräuchte als eine Pause, wäre ein starker Drink. Kaffee tut es bei dem Sachverhalt nicht mehr für mich.“
„Kein Problem“, sagte Alan, erhob sich von seinem Stuhl und ging zu einem der Küchenschränke, in dem sich diverse Flaschen stauten. Er nahm ein schweres, viereckiges Gefäß aus Glas mit einem großen Deckel heraus, wie ich es schon öfter im Fernsehen bei sehr reichen Leuten gesehen hatte, und füllte drei Longdrinkgläser, die er ebenfalls im Schrank gefunden hatte. „Pur oder on the rocks?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Pur“, antworteten Daron und ich wie aus einem Mund. Darüber musste ich lächeln und drehte mich um, um in diese bezaubernd grünen Smaragde zu sehen, über denen sich eine tiefe Sorgenfalte gebildet hatte. Darons Blick war so voller Liebe, dass er mir ein Kribbeln die Wirbelsäule hinauf schickte. Die Anziehung, die zwischen uns herrschte, war beinahe magisch und zum Greifen real. Noch bevor ich klar denken konnte, ließ ich mich von meinen Gefühlen übermannen, lehnte ich mich vor und gab ihm einen innigen Kuss. Zuerst schien ihn dieser kleine Überfall zu überraschen, aber in der nächsten Sekunde erwiderte er den Kuss mindestens genauso heftig. Ich schob für einen Moment all meine Gedanken beiseite und wollte einfach nur diese warmen, weichen Lippen auf meinen spüren, egal, wen oder was ich da gerade küsste.
„Hach, wie schön muss Liebe sein“, hörten wir Alan neben uns spötteln. Erschrocken lösten wir uns aus unserem Kuss, der ohne Unterbrechung sicher zu weitaus mehr geführt hätte. Alan saß bereits wieder, schob uns die mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllten Longdrinkgläser zu und grinste, als wüsste er genau, was er gerade noch verhindert hatte. Röte kroch in meinem Gesicht nach oben, und so vergrub ich mich schnell hinter meinem Glas, dessen Inhalt ich vor lauter Aufregung auf einen Schwung leerte.
„Vorsicht!“, riefen die beiden Männer noch, doch da war es schon passiert. Die Flüssigkeit brannte in meiner Kehle so sehr, dass ich dachte, sie müsste mir auf dem Weg nach unten alles verätzen, was sie berührte. Tränen schossen mir in die Augen, und ich japste mühsam nach Luft.
„Himmel“, krächzte ich, „was ist das für ein Teufelszeug?“
Alan bekam sich vor Lachen nicht mehr ein, und auch Daron hatte Mühe, die Fassung zu bewahren.
„Schau dir deine Freundin an“, grölte Alan, „kippt sich einen über siebzig Jahre alten Whisky, der zu den teuersten der Welt zählt, mal einfach so ex und hopp hinter die Binde.“ Er klopfte sich auf die Schenkel, so sehr schüttelte ihn der Lachkrampf.
„Kleines“, schmunzelte Daron, „einen Zwanzigtausend-Dollar-Whisky sollte man eigentlich in Ruhe genießen und nicht einfach so vernichten. Aber mein Großhirn von Bruder hätte ja für den Anfang auch einen Drink wählen können, der nicht gleich in die Vollen geht.“ Mit diesen Worten warf er Alan einen tadelnden Blick zu, der sich mittlerweile die Tränen aus dem Gesicht wischte und kichernd hinzufügte: „Für die Gäste nur das Beste! Das hat Mutter uns schon früh beigebracht.“
Bei diesen Worten erstarb das Gelächter automatisch wie schon vorhin auf der Couch, als Darons Mutter zum ersten Mal zur Sprache kam. Betreten blickten beide Männer in ihre Gläser, und ich erkannte, dass nicht nur mein neuer Freund wahnsinnig unter jenem Verlust zu leiden schien.
„Was ist passiert?“, versuchte ich eine vorsichtige Frage und nahm an, sie würde sowieso nicht beantwortet werden. „Ich meine, es tut mir leid, es geht mich nichts an. Ich merke nur, wie stark ihr darunter leidet, was auch immer mit eurer Mutter geschehen ist.“
„Ist schon gut“, räusperte sich Daron und fuhr mit seinem Daumen sanft die Konturen meines Gesichts entlang. „Du hast jedes Recht zu fragen. Es ist sowieso Teil unserer Geschichte, über die wir hier sprechen.“ Er atmete einmal tief durch und setzte neu an.
„Mutter war genau wie du eine Bewahrerin. Vater und sie haben sich wirklich sehr geliebt. Doch über die Jahre hinweg legte sich ein Schatten auf ihr Gemüt, weil sie mit unserem … Beruf nicht zurechtkam. Sie ließ niemanden mehr an sich heran und flüchtete sich zum Schluss in ihrer Verzweiflung in die Arme eines anderen.“
Mir bildete sich ein Knoten im Magen.
„Heißt das, sie hat Euch verlassen?“
„So könnte man das nennen“, antwortete Alan leise und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. Ich bemerkte allmählich die Wirkung des Whiskys, versuchte aber, mich zusammenzureißen, um kein wichtiges Detail zu verpassen. Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.
„Eines verstehe ich jetzt nicht. Was bitte ist an Versicherungen so schlimm, dass man damit nicht klar kommt? Ich persönlich kann mir weitaus schlimmere Berufe vorstellen, mal ganz abgesehen davon, dass ihr in der Branche ja doch …“, und dabei breitete ich unterstützend meine Arme aus, „… recht erfolgreich seid.“
Daraufhin runzelte Alan die Stirn und warf seinem Bruder einen intensiven Blick zu.
„Du hast ihr gesagt, wir verkaufen Versicherungen?“
Daron strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht.
Oha.
Jetzt kam der große Knall.
„So in etwa“, antwortete er, und es bereitete ihm offensichtlich Mühe, dem Blick seines Bruders zu begegnen.
„Ach du Scheiße.“ Mit diesen Worten stürzte Alan den Rest seines Whiskys herunter, holte die Flasche mit dem sündhaft teuren Getränk zu uns an den Tisch und schenkte uns nach. Daron hatte sein Glas bisher nicht angerührt, doch jetzt nahm er einen Schluck. Offensichtlich war das ein größerer Knall, der da auf mich wartete.
„Hier, Aline, trink, du wirst es brauchen. Vertrau mir“, sagte Alan und reichte mir mein Glas zurück. Mir schlug das Herz bis zum Hals, denn die Spannung, die sich auf einmal auf uns gelegt hatte, war zum Schneiden dick. Ich gehorchte und trank erneut von dem Whisky, der mir fast ein Loch in den Hals brannte. Wie konnte man so etwas nur genießen? Aber wenn er mir das, was kommen sollte, erträglicher machte, sollte es mir recht sein, egal wie viel er gekostet hatte.
„Also, ich gehe jetzt mal davon aus, dass ihr nicht in der Versicherungsbranche seid“, wagte ich den ersten Vorstoß, denn so langsam hielt ich das Herumschleichen um den Hauptpunkt wie bei der sprichwörtlichen Katze mit dem heißen Brei nicht mehr aus.
„Nein, sind wir nicht“, antwortete Daron, und ich merkte, dass es ihn sichtlich Mühe kostete, darüber zu sprechen. Angst hatte seine Mimik erfüllt, aber er versuchte, es sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen.
Jetzt war der Punkt gekommen, vor dem er sich offenbar so sehr gefürchtet hatte.
Der Punkt, an dem es hieß – alles oder nichts.
Wahrheit oder Lüge.
Der Punkt, für den ich ihm versprochen hatte, egal was es sei, ich würde ihn nicht im Stich lassen. Jetzt, Aline, sagte ich zu mir selbst, kommt es ganz allein auf dich an. Was auch immer er dir sagt, trag es mit Fassung und lass dir nicht anmerken, wenn es dich aus den Schuhen wirft. Bleib cool, Daron zuliebe. Er hat sein ganzes Vertrauen in dich gesetzt. Enttäusche ihn nicht.
Ich nahm wie zur Bestätigung seine Hand.
„Egal, was es ist, Daron, sag es einfach. Ich habe doch schon gesehen, was du werden kannst, und sitze immer noch hier. Ist das nicht Beweis genug dafür, dass du mir trauen kannst?“
„Die Kleine hat recht“, bemerkte Alan über den Rand seines Glases hinweg. „Vertraue ihr. Irgendwann musst du ihr sowieso sagen, wer wir sind.“
Daron hielt meine Hand aus Furcht so fest, dass ich dachte, sie würde jeden Moment brechen. Doch ich sagte nichts, denn ich wollte ihn nicht in seiner Konzentration stören. Nicht jetzt, da ich so kurz davor war, alles zu erfahren.
Bestätigend legte ich meine zweite Hand auf seine. Er sah mich an, und ich erkannte den Kampf, den er innerlich mit sich ausfocht. Es tat mir weh, ihn so hin- und hergerissen zu sehen. Ich überlegte sogar schon, Alan zu bitten, die Situation aufzulösen, als Daron tief durchatmete und endlich zu reden begann.
„Aline, das was du heute gesehen hast, das ist mein wahres Ich. Mein Ich und das von Alan und all unseren Brüdern. Wir sind nicht wie normale Menschen. Ich weiß nicht mal, ob wir überhaupt Menschen sind. Was du jetzt an mir siehst, das ist meine äußere Hülle. Was du im Bad gesehen hast, das war meine Seele. Das, was meine Bestimmung ist, und somit das, was wir alle tun. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.“
Er seufzte tief und hielt kurz inne.
Dann senkte er seine Stimme, bis es fast nur ein Flüstern war.
„Aline, wir bringen den Tod. Wir sind der Tod.“