Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 28

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Ich weiß nicht, wie lange ich wie betäubt auf meinem Stuhl gesessen hatte. Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich hieß. Mein Verstand hatte soeben das ‚Bin im Urlaub‘-Schild an die Tür gehängt, und meine Gefühle waren zu Eis erstarrt. Ich saß da und starrte einfach nur in mein Glas, von dem ich verwundert feststellte, dass es schon wieder leer war. Wann hatte ich das denn ausgetrunken? Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern.

„Aline?“, fragte Alan vorsichtig, doch Daron hob eine Hand, um ihm zu signalisieren, dass er mir noch etwas Zeit geben sollte.

Dafür war ich dankbar.

Wirklich sehr dankbar.

Wenn Sie wollen, können Sie mich ja jetzt gerne schlagen, aber der einzige Gedanke, der mir in diesem Moment wie eine Endlosschleife im Kopf herumfuhr, war: O mein Gott, du hast tatsächlich mit Joe Black gevögelt.

Wortlos hielt ich mein Glas in Alans Richtung, der mir in Windeseile nachschenkte. Zwanzigtausend-Dollar-Whisky, dass ich nicht lachte. Kein Whisky der Welt hätte mich darauf vorbereiten können. Ich stürzte den Inhalt des Glases wie benommen in mich rein und wartete auf das verdammte Brennen, damit es endlich meine Gefühle auftaute.

Damit ich schreien konnte.

Weinen.

Toben.

Aber erstaunlicherweise konnte ich es nicht.

Trotz allem lief mein Verstand noch auf letzter Reserve und erinnerte mich an mein Versprechen Daron gegenüber. Das Versprechen, ich würde verkraften, was immer er mir sagen wollte. Ich durfte einfach nicht schreien oder weinen. Genau genommen war die Wahrheit sogar, dass ich so etwas schon befürchtet hatte. Nach dem Badezimmergastspiel – wer hätte das nicht? Nun gut, vielleicht nicht unbedingt genau das, aber dass er nicht mein lange verschollener Adoptivcousin dritten Grades war, von dem ich bis dato nichts gewusst hatte, das war mir klar gewesen. Adoptivcousins wuchsen keine Flügel auf dem Rücken. Zumindest kannte ich keine, bei denen das passierte. Ich kannte ja nicht mal einen Adoptivcousin. Bei diesem Gedanken musste ich leise kichern. Ich versuchte noch, mich zu beherrschen, aber der Drang war zu stark, und so schwoll mein Kichern immer weiter an, bis es schließlich in einer Art hysterischem Lachen aus mir herausbrach. Beide Männer sahen mich an, als wäre ich nicht mehr ganz dicht. Zugegeben, in dem Moment war ich es auch nicht mehr.

„Das ist der Schock“, sagte Daron.

„Nein, Bruder“, entgegnete Alan und schüttelte leicht den Kopf, „das ist der Whisky.“

„Ich würde sagen, es ist beides“, gackerte ich weiter vor mich hin und fühlte mich wie der letzte Volldepp, doch ich konnte es nicht abstellen. Ich lachte so lange, bis mir die Rippen schmerzten und ich beinahe vom Stuhl kugelte. Mit der Hand fasste ich gerade noch nach der Tischkante und verhinderte so das Schlimmste.

„Ich hol ihr mal ein Glas Wasser“, sagte Alan besorgt und ging nebenan ins Wohnzimmer. Das gab mir ein paar Sekunden allein mit Daron.

„Ist das wirklich wahr?“, fragte ich ihn immer noch leicht lachend. „Bist du wirklich der Tod?“

„Ja, das bin ich“, antwortete er behutsam, so als befürchtete er, ich würde gleich in einer Kurzschlussreaktion aus dem Fenster springen.

„Aber … wie kann … ich meine …“, stammelte ich und deutete auf seine Erscheinung.

„Wie kann bloß jemand wie ich der Tod sein?“, fragte er, und ich nickte.

„Wir alle sind der Tod“, antwortete Alan, als er mit dem Krug Wasser vom Couchtisch wieder in die Küche kam. „Es gibt nicht nur einen. Nicht nur den Tod. Das sind vereinfachte Vorstellungen, die seit Jahrtausenden unter den Menschen verbreitet wurden. Nicht zuletzt von gewissen Institutionen und Religionen, die den Menschen Verdammnis und ewiges Fegefeuer androhen für den Fall, dass sie nicht artig Buße tun.“ Mit diesen recht verbitterten Worten setzte er sich wieder zu uns an den Tisch und schenkte mir das Wasser in mein Longdrinkglas, welches ich sofort dankbar leerte. Whisky kann in ungeübten Kehlen einen ziemlichen Brand verursachen. Zumindest tat er das bei mir.

„Also seid ihr acht Brüder … so etwas wie Todesengel?“, fragte ich vorsichtig.

„Wenn du es so nennen magst, ja, dann sieh uns als Todesengel“, antwortete Daron sanft. „Es trifft nur nicht ganz den genauen Tatbestand. Wir sind keine Engel. Wir sind durchaus menschlich. Allerdings besitzen wir eine etwas andere körperliche Beschaffenheit aufgrund unserer Bestimmung.“

Meine Gedanken fuhren weiter Karussell, und die Fragen überschlugen sich in meinem Kopf. Daron schien es mir anzusehen, denn er sagte: „Lass uns von Anfang an beginnen, dann wirst du vieles besser verstehen.“

Ich nickte, woraufhin er zu erzählen begann.

„Unser Vater ist ein Ewiger wie wir. Unsere Mutter ist … war ein Mensch. In jeder Generation werden in einer Nacht acht Brüder geboren. Sieben der acht Brüder sind je für eine Todsünde bestimmt und holen die Seelen der Menschen, die sich in ihrem Leben dieser Sünde besonders schuldig gemacht haben. Menschen, die sich auf Kosten anderer bereichert oder sonst wie mit ihrem Lebensstil anderen besonders geschadet haben.“

„Und der achte?“, fragte ich erstaunlich ruhig, so als wäre es das Normalste von der Welt, eine Runde mit dem Tod zu plaudern.

„Der achte Bruder“, antwortete Alan, „holt die Seelen derer, die rein sind. Die ihr Leben nach bestem Wissen und Gewissen gelebt haben. Die niemandem absichtlich geschadet haben. Nimm mich als Beispiel: Ich bin für die Faulen und Trägen zuständig. Mael, den du ja leider schon kennenlernen musstest …“

„Lass mich bitte raten“, unterbrach ich, und mich schauderte bei dem puren Gedanken daran:

„Maels Aufgabe ist … so wie er sich verhalten hat … bestimmt der Neid.“

„Wirklich sehr gut“, nickte Alan anerkennend. „Du kennst ihn vielleicht auch unter der Bezeichnung Leviathan.“

Mir wurde leicht schlecht, und ich trank schnell noch ein Glas Wasser, um die aufkommende Übelkeit zu bremsen. Jetzt war ich nicht nur das Flittchen des Todes, nein, jetzt war ich auch noch von Leviathan unter der Dusche befummelt worden. An dieser Stelle musste ich das erste Mal würgen.

„Alles okay?“, fragte Daron sorgenvoll und fasste mit einer Hand beruhigend nach meiner Schulter. Ich nickte, erzählte ihm aber, was mir gerade durch den Kopf gegangen war. Aufmerksam lauschte er meinen Worten, um anschließend wütend zu seinem Bruder zu blicken.

„Das wird dieser Mistkerl mir noch büßen!“ Erneut ging ein eiskalter Hauch durch die Küche, dass es mich schüttelte.

„Entschuldige bitte“, sagte Daron, „das passiert automatisch, wenn wir zu emotional werden.“

„Ist mir nicht entgangen“, antwortete ich und umarmte mich praktisch selbst, um die Wärme in mir zu halten. „Und welche Sünde ist deine?“

Daron stieß einen kurzen Seufzer aus und blickte mir tief in die Augen.

„Ich habe keine Sünde. Ich bin der achte Bruder. Die Sünden werden uns der Geburtsfolge nach zugeordnet, wir können sie uns nicht aussuchen. Der, der als Letzter geboren wird, erhält die Aufgabe, die reinen Seelen zu holen. Das ist ein unumstößliches Gesetz. Wir sind älter als die Menschheit selbst, Aline, und woher wir genau stammen, weiß heute keiner mehr so richtig. Es gibt nur wenige Dinge, die uns bis heute überliefert sind, zum Teil durch

Aufzeichnungen, oft aber nur als mündliche Vermächtnisse, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Sie sind unser Kodex, nach dem die Welt funktioniert. Würden wir ihn missachten, würde das ganze Gefüge aus den Angeln geraten.“

Gebannt lauschte ich Darons Vortrag und wagte kaum zu atmen. Ich nickte und signalisierte ihm dadurch, weiterzuerzählen.

„Die Menschen nennen uns den Tod. Wir selbst bezeichnen uns als die Ewigen, denn wir sind unsterblich. Ich weiß, diese Ironie ist beinahe ein Hohn, werden wir doch geboren wie jeder andere auch. Wir wachsen biologisch ganz normal heran, hören aber ab dem Zeitpunkt auf zu altern, an dem sich zum ersten Mal unsere Kräfte zeigen. Das erfolgt ungefähr mit Mitte zwanzig oder Anfang dreißig und ist zugleich auch das erste Mal, dass wir uns transformieren. Dass sich unser Innerstes nach außen kehrt und wir uns in das verwandeln, was du gesehen hast. Unsere Haut wird schwarz, uns wachsen Flügel, und unsere Augen verfärben sich rot. Du kennst sicher zahlreiche Bilder von Dämonen, die stets mit Flügeln, Hörnern und Hufen dargestellt werden.“

Wieder nickte ich stumm und nahm noch einen weiteren Schluck Wasser. Ich hatte plötzlich einen ganz trockenen Hals.

„All diese Bilder sind unserer Spezies nachempfunden. Die Menschen nannten uns in Ermangelung einer anderen Bezeichnung Dämonen, obwohl das nicht stimmt. Dämonen sind eine ganz andere Wesensart, aber das würde hier zu weit führen. Im Endeffekt könnte man demnach also sagen, dass wir nicht nur der Tod sind, sondern auch der Teufel. Den gibt es in Wirklichkeit nämlich gar nicht. Er ist eine reine Erfindung der Menschen oder, genauer gesagt, der Kirche, die durch Angst die Menschen beeinflussen und zu ihrem Glauben bekehren wollte. Hölle, Aline, ist eine ebenso menschliche Erfindung wie der Himmel. Es gibt weder das eine noch das andere.“

„Bedeutet das dann im Umkehrschluss, dass es auch keinen Gott gibt?“, fragte ich überrascht. Da ich bisher nie sonderlich religiös gewesen war, machte ich mir allerdings nicht besonders viel aus dieser Erkenntnis, sofern sie denn zutreffen sollte.

Daron strich mir liebevoll über den Kopf und lächelte.

„Nein, es gibt keinen Gott. Es gab nie einen. Es gibt nur die Kraft der Natur, so wie sie heute etwa im Wiccaglauben verehrt wird. Wobei auch hier oft eine Anbetung in Form eines männlichen und eines weiblichen Gottes erfolgt, stellvertretend für das natürliche Zweifachprinzip. Aber das ist eher nebensächlich. Am nächsten kommt unserer Existenz, wenn überhaupt, der frühe keltische Glaube, in dem weder Himmel noch Hölle existierten und laut dem die Menschen durch den Tod in eine Art Anderswelt gelangten. Diese Welt durfte jede Seele betreten, ob gut oder schlecht, denn sie diente als Vorbereitung auf die Wiedergeburt. Das ist zwar wiederum ein wenig zu einfach dargestellt – in Wahrheit ist das Ganze doch etwas komplexer –, aber ich denke, es gibt dir eine gute Vorstellung von dem, wie die Welt wirklich funktioniert. Und eine Vorstellung davon, wer wir sind.“

Mein Unterkiefer hatte sich schon längst wieder gen Tischplatte verabschiedet, und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen, doch ich versuchte, meiner Gedankenflut Herr zu werden. Also stellte ich die Frage, die mich aktuell am meisten beschäftigte.

„Warum wollte Mael mich vergewaltigen? Er war zuvor schon in meinem Traum zudringlich geworden, und ich war mir nicht sicher, ob das real war oder ob ich anfing zu spinnen. Ich meine, ich kenne ihn doch gar nicht und habe ihm nichts getan.“

Darons Gesichtszüge verfinsterten sich. Er blickte Alan an, der nur mit den Schultern zuckte und meinte, wenn ich schon dabei war, die Wahrheit zu erfahren, dann solle Daron mir auch gleich das gesamte Paket aufschnüren.

„Sie steckt es bisher doch ganz gut weg“, sagte Alan und zwinkerte mir dabei zu.

Der Tod der Faulheit zwinkerte mir zu!

Ich fand das irgendwie fast schon wieder witzig.

Irgendwie.

Mit einem Seufzen wandte sich Daron wieder mir zu, nahm meine Hände und küsste meine Handflächen. Wie ich das liebte – mir ging das stets durch Mark und Bein.

„Erinnerst du dich, was Mael im Bad gesagt hat? Das mit der Linienweiterführung?“

Ich musste kurz überlegen und sah geistig erneut die Szene vor mir, in der Daron in seiner schwarzen Gestalt breitbeinig und vor Wut bebend über seinem aus Mund und Nase blutenden Bruder stand. Schnell versuchte ich, diese Erinnerung zur Seite zu schieben, und nickte.

„Das war das zweite Mal, dass ich von den Ewigen hörte. Das erste Mal hatte Mael sie mir gegenüber im Traum erwähnt.“

„Wie wir bereits festgestellt haben, begannen deine Visionen um den Zeitpunkt deiner ersten Periode herum, also deiner Geschlechtsreife. Das war kein Zufall, Aline. Bewahrerinnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit Eintritt in die Pubertät die Fähigkeit erlangen, Kontakt mit uns beziehungsweise der – nennen wir sie gemäß der Kelten-Tradition – Anderswelt aufzunehmen. Das, was du Visionen nennst, sind in Wirklichkeit kurze Einblicke in den Bereich, den die Seelen betreten, nachdem wir sie geholt haben. Manche Bewahrerinnen haben diese Visionen stärker und lernen, sie zu intensivieren. Das sind dann sogenannte Medien, die sogar richtig mit der anderen Seite kommunizieren können. Andere, so wie du, die niemanden haben, mit dem sie darüber reden können, verdrängen ihre Fähigkeit und versuchen, so normal wie möglich weiterzuleben. Natürlich gibt es verschiedene Arten von Medien, manche haben ihre Gabe sogar seit ihrer Geburt. Das allerdings sind Launen der Natur, und viele dieser Medien können lediglich mit den Seelen auf der anderen Seite kommunizieren, erhalten aber keinen Einblick in die Anderswelt selber. Dies können nur Bewahrerinnen. Und nur Bewahrerinnen sind in der Lage, die nächste Generation unserer Art zu gebären.“

„Moment mal“, unterbrach ich ihn. „Willst du mir damit sagen, dass ich dazu ausersehen wurde, irgendwann einmal mit einem Tod zusammen Achtlinge zu zeugen und in die Welt zu setzen?“

Das wurde ja immer besser.

Ich bedeutete Alan, er solle mir noch einen Schuss Whisky einschenken. Er quittierte mir das zunächst mit einer hochgezogenen Augenbraue, leistete meiner Anweisung dann aber nach einem kurzen Nicken Darons Folge. Das alles hier konnte ich nicht nüchtern durchstehen. Definitiv nicht, egal wie schlimm der Kater am nächsten Morgen sein würde. Er würde jetzt sowieso alles bisher Dagewesene übersteigen. Da kam es auf ein Glas mehr oder weniger nicht mehr an.

„Also?“, blickte ich fragend in die Runde, nachdem ich ein weiteres Brennen in meiner Kehle verursacht hatte. „Wer von euch acht ist denn der Glückliche?“

Daron bedachte mich mit einem Blick, der aus einer Mischung von Amüsement und Furcht bestand. „Was denkst du, Kleines?“

In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Alkohol hatte mein logisches Denken offenbar schon massiv beeinflusst. Ein Puzzleteil fügte sich zum anderen, und es ergab sich langsam ein Bild. Entsetzt blickte ich Daron an.

„Soll das etwa heißen … du und ich …?“

Vorsichtig nickte Daron.

„Warum denkst du, dass ich auf jeden Fall ein Kondom benutzen wollte? Ich bin immun gegen alle Krankheiten und übertrage sie auch nicht, daran lag es also sicher nicht.“

Wie in Lichtgeschwindigkeit schoss mir das Blut gleich Quecksilber in einem Fieberthermometer ins Gesicht, und ich blickte erschrocken und peinlich berührt in Alans Richtung. Dieser hatte sich höflicherweise dazu entschlossen, in sein Glas zu grinsen.

„Kleines, es ist in Ordnung, das muss dir nicht peinlich sein. Auch wenn es sich altbacken anhört, aber das ist wirklich das Normalste der Welt. Wir Ewigen gehen mit dem Thema Sexualität sehr unverkrampft um, wir kennen nicht die Scheu und Scham, die den Menschen von Kindheit an anerzogen wird. Ohne Sex gäbe es uns nicht, es gäbe nichts auf dieser Welt. Es ist etwas Schönes, etwas, das geradezu gefeiert gehört und nicht in die Dunkelheit verdammt mit dem Hauch des Anstößigen.“

Dabei streichelte Daron mein Gesicht, das mittlerweile gefühlte hundert Grad heiß sein musste.

„Und wenn du ganz ehrlich bist, Aline, so verkrampft gehst du ja auch nicht gerade damit um.“

„Wenn du damit beabsichtigst, mir neben dem vielleicht schönsten und schlimmsten Abend meines bisherigen Lebens auch noch den peinlichsten zu bereiten, dann vielen Dank auch, Daron. Du bist gerade auf dem besten Weg dahin!“, fauchte ich zurück und wäre vor Scham am liebsten in meinem Whiskyglas zerflossen. Mittlerweile hatte mein Gesicht locker die Hundertfünfzig-Grad-Grenze überschritten. „Und nur zu deiner Information: Ich nehme die Pille.“

„Vielleicht sollte ich euch lieber alleine lassen“, bemerkte Alan amüsiert. Das ärgerte mich so sehr, dass ich ihm ein schnippisches „Von wegen, du bleibst schön hier!“ entgegenschleuderte, woraufhin er nur noch mehr grinste. Nein, diese Blöße wollte ich mir auf keinen Fall geben, weder vor Daron noch vor Alan.

„Nun gut, weiter im Text“, versuchte ich die Peinlichkeit gekonnt zu umschiffen. „Sex hin oder her, was hat das alles mit Mael zu tun?“ Nur widerwillig sprach ich diesen Namen aus, der mir sicher noch so manchen Albtraum bescheren würde. Wenn es denn nur Albträume waren.

Daron atmete tief durch.

„Es ist ein Fakt, dass sich in jeder Generation nur der sogenannte reine Tod fortpflanzen kann. Eine simple biologische Tatsache. Wieso, das wissen wir nicht, es ist einfach so.“

Ob dieser Neuigkeit blickte ich Alan an und bemerkte zu meiner inneren Freude, dass das Thema nun ihm unbequem zu werden schien, denn er rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

„Was ist los, Alan?“, fragte ich frech. „Es ist dir doch nicht etwa peinlich, zuzugeben, dass du nur mit Platzpatronen schießt? Das muss es nicht. Du weißt doch, die Ewigen nehmen Sex als etwas ganz Natürliches, dessen man sich nicht schämen muss.“

Ich wusste zwar, dass das richtig gemein war, aber in dem Moment hätte ich mir keine bessere Retourkutsche wünschen können, um von mir selber abzulenken. Wobei es sicher nicht klug war, den Tod auf seine eigene Unfruchtbarkeit anzusprechen, aber – scheiß die Wand an! – jetzt war es auch schon egal.

Alan fing an, mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln, sein Mund verzog sich zu einem breiten Schmunzeln, und als er seine Augen in meine Richtung hob, lag darin ein Feuer, das mir einen Schlag in meinen sowieso schon mitgenommenen Magen verpasste. Entweder hatte ich soeben etwas nahezu Heroisches vollbracht oder mein vorzeitiges Ableben heraufbeschworen.

„Du hast echt Mut, Aline, das muss ich dir lassen. Oder du bist einfach nur leichtsinnig. Aber egal ob so oder so, das imponiert mir. Du wagst es tatsächlich, mir die Stirn zu bieten, obwohl du weißt, was ich bin und was ich zu tun vermag. Und du hast die Courage, meinem Blick nicht auszuweichen. Das hat bisher noch keiner gewagt. Wenn du dich Mael gegenüber so verhalten hast, kann ich nur allzu gut nachvollziehen, warum er so aggressiv hinter dir her ist.“

Jetzt ging mir doch der Arsch auf Grundeis.

„Wieso?“

„Mael liebt es zu spielen“, antwortete Daron. „Er geht in seiner Aufgabe zu sehr auf, worauf unser Vater bereits seit einiger Zeit einen kritischen Blick hat. Er holt nicht einfach nur die Seelen auf die andere Seite, er lässt sie davor noch leiden. Eine Praxis, die bei uns allen mehr als verpönt ist. Wir sind Erlöser, keine Henker. Wir sind keine Katzen, die der Maus erst den Schwanz abbeißen, bevor sie sie irgendwann fressen. Mael dagegen liebt es, zu quälen. Auch wenn seine Menschen sich des Neides in höchstem Masse schuldig gemacht haben – das, was er mit ihnen treibt, hat wirklich keiner von ihnen verdient.“

Zum ersten Mal erkannte ich in den Gesichtern der Brüder etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte: Abscheu.

Abgrundtiefe Abscheu.

Wie grausam musste Mael sein, dass selbst seine Brüder von seinen Taten angewidert waren? Mir stellten sich meine Nackenhaare in blankem Entsetzen auf, als ich den Gedanken weiterspann, was er wohl alles mit mir angestellt hätte, wäre Daron nicht dazwischen gegangen.

Daron musste gemerkt haben, was in mir vorging, denn er drückte meine Hand und flüsterte beruhigend: „Er ist fort, er kann dir nichts mehr anhaben.“

„Aber … warum nur wollte er mir denn überhaupt etwas antun?“

Alan räusperte sich und holte sich durch ein Nicken Darons die Erlaubnis, den Faden aufzunehmen.

„Eine Bewahrerin ist erst dann offiziell als Gefährtin des reinen Todes anerkannt, wenn sie ein bestimmtes Aufnahmeritual, eine Art Prüfung durchlaufen hat. Solange ist sie vogelfrei, und es steht laut unserer Tradition jedem der anderen sieben Brüder zu, die Frau, die sich ihr jüngster Bruder erwählt hat, zu umwerben. Sollte es daraufhin zum Sex mit einem der anderen Brüder kommen, begeht sie eine Sünde.“

Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf.

„Wollust …“, flüsterte ich, und Alan nickte.

„Genau. Gibt sie sich vor dem Ritual der Wollust mit einem Anderen hin, wird sie als zukünftige Mutter der nächsten Generation unbrauchbar. Nur eine wirklich reine Seele ist es würdig, den Samen des Todes zu empfangen und die nächsten acht Ewigen zu gebären. Sobald die acht Söhne das erste Mal ihre Kräfte erlebt haben, gehen sie sozusagen bei ihren Onkeln in die Lehre. Dort lernen sie bis zu ihrem achtzigsten Lebensjahr ihr Handwerk, wenn man das denn so nennen darf. Das Herüberbringen von Seelen ist eine recht komplizierte Angelegenheit, und es erfordert sehr viel Disziplin und Feingefühl, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Dazu gehören so viele Dinge, Aline, mit denen ich dich hier jetzt aber nicht belasten will. Ab dem achtzigsten Lebensjahr treten die Neffen an die Stelle ihrer Vorgänger und übernehmen fortan deren Amt. Wir sind mittlerweile dreihundertzehn Jahre alt und erledigen unsere Arbeit seit nunmehr zweihundertdreißig Jahren. Einige von uns warten schon länger darauf, in absehbarer Zeit abgelöst zu werden. Andere dagegen sind so fasziniert von dem, was sie tun, dass sie unter allen Umständen ihre Abdankung verhindern wollen und somit auch die Geburt der neuen Generation. Sie würden mit allen Mitteln versuchen, dem Jüngsten seine Braut abspenstig zu machen. Also mit dir zu schlafen, Aline, und dich somit für Daron gemäß unserer Statuten unwürdig zu machen.“

Das war mir dann doch zu viel, und ich spürte, wie sich mir der Whisky nach oben drückte. Mael hatte Daron und mich bereits auseinanderbringen wollen, bevor unsere Beziehung überhaupt richtig begonnen hatte, weil er seinen Platz nicht räumen wollte.

Dafür war ihm offenbar jedes Mittel recht.

Jedes.

„Aber … wieso ausgerechnet ich?“, presste ich noch mühsam hervor, als ich merkte, dass sich mir der Magen umdrehte. Ich sprang vom Stuhl, rannte zum Waschbecken und übergab mich in die silberne Spüle. Ich erbrach meinen kompletten Mageninhalt und die Galle noch dazu und würgte so sehr, dass ich keine Luft mehr bekam und mir Tränen der Anstrengung über die Wangen liefen. In dem Moment ließ ich los.

Ich weinte so stark und befreite mich dadurch von all dem, was zwar meine Augen gesehen und meine Ohren vernommen hatten, mein Hirn aber doch nicht hatte verarbeiten können, so wie ich es mir hatte weismachen wollen. Da war er, der geplatzte Knoten, auf den ich schon so lange gewartet hatte.

Irgendwann hing ich nur noch weinend über dem Waschbecken, als jemand den Wasserhahn anstellte und sanfte Hände mich von der Spüle wegzogen. Während Daron mich in seine Arme nahm und beruhigend auf mich einredete, wischte Alan mir voller Geduld wie einem kleinen Kind den Mund ab und reichte mir ein Glas Wasser. Meine Knie gaben nach, sodass ich Richtung Boden sank und Daron mit mir zog. Meine Hände zitterten zu sehr, als dass ich auch nur annähernd fähig gewesen wäre, das Glas zu halten. Alan musste es mir an den Mund heben, damit ich trinken konnte.

„Ist schon gut, Aline, ich bin da und passe auf dich auf“, hörte ich Daron sanft in mein Ohr flüstern. „Ich werde nicht zulassen, dass dir jemals irgendwer was tut. Das war alles doch zu viel für einen einzigen Abend. Lass es einfach raus.“

Das tat ich dann auch.

Ich weinte und schrie.

Ich weinte und schrie so sehr, dass ich dachte, meine Brust müsste mir zerspringen. Und die ganze Zeit über hielt mich Daron in seinen starken Armen und wiegte mich wie ein kleines Kind sanft hin und her, während Alan einfach nur neben uns kniete und beruhigend über meinen Kopf streichelte.

Ich weinte, bis ich irgendwann keine Kraft mehr hatte, mich zu bewegen, und kraftlos in Darons Armen lag. Dann hob er mich hoch und trug mich in sein Schlafzimmer. Ich bekam noch mit, wie er mich wimmerndes Häuflein Elend sanft mit einer weichen Satinbettdecke zudeckte, sich von Alan verabschiedete und sich anschließend neben mich legte. Seine starken Arme drückten mich beschützend an ihn, und die bloße Nähe seines warmen Körpers beruhigte mich so sehr, dass ich innerhalb weniger Sekunden einschlief.

Die Linie der Ewigen

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