Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 31
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Als ich in die Küche kam, meine Füße mollig warm in rosa Plüschpuschen gepackt, die wie von Zauberhand ihren Weg vor die Badezimmertür gefunden hatten, führte Daron gerade ein Gespräch über Handy. Er schenkte mir ein kleines Lächeln und bedeutete mir mit der freien Hand, ich solle mich ruhig an den Küchentisch setzen. Dieser war so reich gedeckt, dass es mir die Sprache verschlug. Das Frühstücksbuffet des Kempinski in New Yorks 5th Avenue war nichts gegen die Köstlichkeiten, die sich vor mir türmten.
Also – nicht, dass ich schon mal dort residiert und eine Vergleichsmöglichkeit gehabt hätte. Ich war einfach nur so beeindruckt von dem, was sich auf dem Tisch befand.
Der Duft frischer Brötchen stieg mir in die Nase, und ich zählte ganze sechs Sorten Marmelade, unter anderem eine arabische Dattelkonfitüre, die mein Herz sofort höher schlagen ließ.
Ich liebte Datteln.
Kein anderes Obst konnte es für mich mit dieser kleinen Frucht mit dem länglichen Kern aufnehmen. Woher hatte er das nur gewusst? Neben den Marmeladengläsern waren zwei Platten mit allerlei Wurst- und Käsesorten platziert, und eine Trüffelbutter buhlte mit einer Karaffe frisch gepresstem Orangensaft um den zweiten Platz in meiner Gunst. Auf meinem Teller lag – wie hätte es anders sein können? – eine weiße Rose, und um meine mit dampfend heißem Wasser gefüllte Tasse waren vier verschiedene Teebeutelsorten drapiert. Wenn das Darons Standardverwöhnprogramm am Morgen war, dann konnten wir über die acht Kinder ja doch noch mal reden.
„Nein, es ist alles in Ordnung“, sprach Daron in sein Handy und warf mir dabei einen kurzen Blick zu. „Es geht ihr den Umständen entsprechend, sie hält sich tapfer.“
Oha.
Meine Lauscher stellten sich sofort auf.
Er sprach offensichtlich über mich, aber mit wem?
„Ja, ich richte es ihr aus … Alles klar … Ja, wie besprochen … Mach ich, bis dann.“
Mit diesen Worten klappte Daron sein Handy zu, legte es auf den Küchentresen und kam zu mir, um mir einen Kuss auf den Kopf zu geben.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er, als er sich neben mich an den Tisch setzte, genauso wie letzte Nacht.
„Es ging mir schon besser, aber wie du sagtest, ich halte mich ganz gut. Mit wem hast du da gerade gesprochen?“
„Mit Alan. Er lässt dir ausrichten, dass er froh ist, dass du die Nacht gut überstanden hast. Bitte, bedien dich doch, du musst einen Bärenhunger haben.“
„Das kannst du laut sagen. Ich sterbe vor Hunger“, erwiderte ich und wollte schon nach dem Orangensaft greifen, als mir siedend heiß auffiel, was ich da gerade gesagt hatte.
Ups.
Peinlich berührt blickte ich Daron an, der mich hinter dem schwarzen Vorhang seiner Haare mit seinen leuchtend grünen Augen musterte.
Scheiße.
Da war er, Alines Fettnapf des Tages.
Ich wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als ich bemerkte, wie Darons Nasenflügel zu zittern begannen und ein verräterisches Zucken um seine Mundwinkel spielte. Ich schaute genauer hin. Keine Frage – er lachte mich aus!
„Ja, genau, total witzig!“, maunzte ich los und bewarf ihn mit meiner Serviette, woraufhin er laut losprustete. „Entschuldige bitte, aber dein Blick gerade war zu köstlich.“
Na, toll!
„Schön, dass ich schon am Morgen zu deiner Erheiterung beitragen kann. Ist ja nicht so, dass ich jeden Tag mit dem Tod frühstücke“, zickte ich zurück, konnte mir aber selbst ein kleines Lachen in der Stimme nicht verkneifen. Die Situation war einfach zu surreal, als dass ich hätte ernst bleiben können.
„Ich hoffe doch sehr, dass wir das in Zukunft ändern werden“, schmunzelte Daron und goss mir den Orangensaft ein.
„Mal schauen“, murmelte ich vor mich hin und warf ihm einen Blick zu, der ihm bedeutete, dass er mich sowieso schon im Sack hatte. Ich schnappte mir ein Kürbiskernbrötchen und bestrich es dick mit Dattelmarmelade.
„Woher wusstest du das?“, fragte ich ihn.
Irritiert schaute er mich an.
„Was meinst du?“
„Zum Beispiel, dass ich Datteln liebe. O Wunder, auf dem Tisch steht Dattelmarmelade. Für Kürbiskernbrötchen gehe ich meilenweit, und – o Wunder – ich halte gerade eines in meiner Hand. Ich steh auf Pink, und – o Wunder – plötzlich stehen pinkfarbene Puschen vorm Bad. Und erzähl mir jetzt nicht, dass das deine sind. Du bist definitiv nicht der Typ für Pink“, zwinkerte ich ihm neckend zu. „Versteh das bitte nicht falsch, ich finde den Service hier richtig klasse, doch mich beschleicht langsam das Gefühl, dass du ganz schön viel über mich weißt, obwohl ich dir bisher fast nichts über mich erzählt habe. Wie kommt’s?“
Mit diesen Worten biss ich in mein Marmeladenbrötchen und hörte im nächsten Moment die Englein singen. Diese Konfitüre war das Beste, was ich seit Langem gegessen hatte. Da reichten nicht mal die Speisen des gestrigen Abends ran.
„Gott, ist die lecker“, stöhnte ich vor mich hin und sah, wie Daron sich selbst amüsiert ein Brötchen mit Wurst genehmigte.
„Also?“, hakte ich nach. Er sollte nicht glauben, dass mich die Konfitüre vom Thema abgebracht hatte.
„Sagen wir einfach, als Halbmensch hat man so seine Fähigkeiten“, grinste er mich an.
Aha.
Das hieß alles und gleichzeitig doch nichts.
„Ist nicht unbedingt zufriedenstellend, deine Antwort.“
Er zuckte amüsiert die Schultern.
„Du musst nicht alles wissen, Aline. Das, was du weißt, sollte dir jetzt erst einmal reichen, war ja auch nicht gerade wenig für eine Nacht. Gönne deiner Neugier eine Pause.“
„Das sagst du so leicht“, maulte ich. „Du bist ja nicht derjenige, dem Mael erst im Traum und dann auch noch live erschienen ist, um unter der Dusche auf Tuchfühlung zu gehen.“ Daraufhin sog Daron scharf die Luft ein und strich sich sein Haar hinters Ohr. Eine Zeit lang blickte er auf das Brötchen auf seinem Teller, und ich dachte schon, er wäre sauer, bis er schließlich sagte: „Du hast recht. Eindeutig ein Punkt für dich. In Anbetracht der Lage solltest du wirklich wissen, womit du es zu tun hast.“
Verlegen kratzte er sich im Nacken. Eine neue Geste. War sie gut oder schlecht?
„Wir alle sind in der Lage, in die Träume der Menschen einzudringen. Davon machen wir allerdings nur Gebrauch, kurz bevor wir … sie holen. Es kommt nicht von ungefähr, dass einige Menschen kurz vor ihrem Gang nach Hause berichten, sie hätten einen schwarzen Mann gesehen.“
Vor Schreck fiel mir mein Brötchen auf den Teller – zum Glück auf die unbestrichene Seite.
„Verzeihung“, entschuldigte ich mich hastig und verfluchte mich für meine fehlende Beherrschung. Aber das, was er mir gerade gesagt hatte, weckte irgendwo eine Urangst in mir.
„Du erscheinst den Menschen so, wie du im Bad ausgesehen hast?“, fragte ich entgeistert.
„Nein, nicht ganz“, beschwichtigte Daron und nahm einen Schluck Orangensaft. „Sie sehen mich, beziehungsweise uns, nicht direkt: Wir erscheinen ihnen als verschwommener Umriss. Das hört sich jetzt vielleicht schlimm an, aber vielleicht beruhigt es dich zu hören, dass die Betroffenen keine Angst verspüren. Wir vermitteln ihnen je nach Schicksal beispielsweise Geborgenheit oder Erlösung, das Gefühl, nach dem sie sich am meisten sehnen.“
Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Mein Vater … wusste also, dass du kommen würdest?“
„In gewisser Weise schon. Viele vergessen es sofort wieder oder tun es einfach als dummen Traum ab. Nur die wenigsten, beispielsweise Alte oder Kranke, die leiden, erinnern sich. Sie warten dann schon förmlich auf meinen Besuch und freuen sich, wenn sie endlich ihre Heimreise antreten dürfen.“
Vielleicht hätte ich doch nicht fragen sollen. Irgendwie schienen all diese Informationen allmählich meine ureigensten Albträume an die Oberfläche zu schwemmen. Trotzdem konnte ich jetzt nicht einfach aufhören. Ich musste wissen, was es mit Mael und den anderen Brüdern auf sich hatte.
„Okay, ihr erscheint also den Menschen im Traum, wenn es Zeit wird. Ich nehme an, Mael hat diese Fähigkeit nicht zum ersten Mal zweckentfremdet, als er mich … besuchte.“
Das letzte Wort spuckte ich so voller Zynismus aus, dass es beinahe weh tat.
„Das erklärt aber nicht, wie er es live und in Farbe zu mir unter die Dusche geschafft hat.“ Irgendwie hatte ich die Vermutung, ich wollte die Auflösung gar nicht hören.
„Es ist uns eigentlich nicht gestattet, gegenüber Menschen über die Fähigkeiten der Ewigen zu sprechen, Aline. Dass ich dir gerade davon erzähle, verstößt an und für sich gegen die Regeln. Doch Alan und ich haben vorhin am Telefon darüber gesprochen und sind darin übereingekommen, dass, wenn du fragen solltest, ich dir antworten werde. Schließlich hat Mael als Erster unsere Gesetze missachtet, als er sich dir in eindeutig egoistischer Absicht im Traum gezeigt hat. Somit haben wir hier eine Ausnahmesituation.“
Ich hielt die Spannung kaum aus und biss, um mich abzulenken, erneut von meinem leckeren Brötchen ab. Den Geschmack der Datteln nahm ich mittlerweile kaum mehr wahr.
„Wir Ewigen sind nicht an diese Welt gebunden. Ort, Zeit und Raum spielen für uns nur eine untergeordnete Rolle. Wir können uns, wann immer wir wollen, wohin auch immer wir wollen transportieren. Was denkst du, wie es uns sonst möglich wäre, all die Seelen rund um den Globus zu jeder Tages- und Nachtzeit zu besuchen und nach Hause zu begleiten, oftmals mehrere Hundert zum exakt gleichen Zeitpunkt? Für den menschlichen Verstand ist das nicht zu begreifen, da er nur für das langsame, dreidimensionale Denken geschaffen ist. Die Welt besteht jedoch aus so viel mehr, Aline. So viel mehr, als der menschliche Verstand begreifen kann … Ich, so wie ich jetzt hier gerade vor dir sitze, bin echt. Wenn du mich berührst, berührst du das, was ich bin, meinen Körper, meine Hülle für diese Ebene der Realität. Doch während du mich berührst, befinde ich mich zeitgleich auch an zig anderen Orten der Welt und gehe meiner Aufgabe nach. Wenn es dir das Verständnis erleichtert, dann stell dir vor, dass sich jede Sekunde Hunderte Bruchstücke meiner Seele auf einer anderen Metaebene von mir abspalten und ihrer Bestimmung nachgehen, während der Kern gleich einem Anker in dieser Realität verweilt.“
Wow.
Das erklärte so einiges, unter anderem auch Fragen, die ich mir bis dato noch gar nicht gestellt hatte. So verrückt es sich anhörte, so ergab es auch gleichzeitig Sinn. Bis auf …
„Aber wenn sich nur Teile eurer Seele auf einer anderen Ebene abspalten können – wie konnte sich dann Mael mit seinem echten Körper hier in diesen dreidimensionalen Raum beamen? Bitte entschuldige den Science-Fiction-Ausdruck, aber ein besserer fällt mir gerade nicht ein.“
„Das“, seufzte Daron und blickte grimmig auf seinen Teller, „ist eine Frage, die wir uns selbst nicht beantworten können. Mael war schon immer darauf versessen, besser als alle anderen zu sein, in allen Bereichen, die du dir denken kannst. Was er nicht konnte, lernte er, und was er nicht hatte, machte er sich zu eigen. Seine Sünde, der Neid, hat in den letzten hundert Jahren offenbar zu stark auf ihn abgefärbt. Wenn du tagein, tagaus mit nur einer Sünde konfrontierst bist, dann kann das durchaus passieren. Die meisten Ewigen sind sehr diszipliniert und lassen sich nicht beeinflussen, aber Mael wäre nicht der Erste, dem das passiert. Vater hat sich aktuell seiner angenommen und wird sich um dieses … Problem kümmern.“
Fast hätte ich mich an meinem Orangensaft verschluckt, denn mir fiel meine Frage vom letzten Abend wieder ein.
„Mael ist also wirklich nicht …“ – ach, verdammt, ich fischte nach einem passenden Ausdruck und fand doch keinen – „… tot?“
Verwunderung lag in Darons Blick, als er von seinem Teller zu mir aufsah.
„Nein, natürlich nicht, wie kommst du darauf?“
„Ach, nur so“, antwortete ich lakonisch. „Weißt du, du in deiner wahren Gestalt, die Hand auf seiner Brust, das schwarze Licht, der Schaum vor Maels Mund und die Tatsache, dass er sich nicht mehr bewegt hat, das hat schon schwer danach ausgesehen, als hättest du ihn über den Jordan geschickt.“ So langsam missfielen mir all diese Ausdrücke immer mehr, aber ich hatte einfach keine besseren parat.
Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf Darons Gesicht ab.
„Du hast recht, für dich muss das in diesem Moment tatsächlich so ausgesehen haben. Nein, Mael ist … es geht ihm gut. Ich habe ihn lediglich, sagen wir, ruhig gestellt und seine Seele in die andere Welt zurückgeschickt, in der Vater über alles wacht. Wir gehen nicht oft auf die andere Seite, aber wenn, dann lassen wir unseren Körper hier zurück. Dort drüben können wir ihn nicht brauchen, er wäre zu schwerfällig in seiner Dreidimensionalität. Um auf diese Ebene zu gelangen, müssen wir uns einfach nur sehr stark konzentrieren, wie in einer Art Meditation, so wie wenige Menschen sie auch beherrschen. Werden wir dagegen mit Gewalt gezwungen, was selten vorkommt, und wehren uns gegen den Übergang, ähnelt dies einem epileptischen Anfall.“
Gebannt lauschte ich Darons Ausführungen und konnte meine Neugier kaum zügeln.
„Wie muss ich mir diese Welt vorstellen?“
Diese Frage ließ Daron schmunzeln und behutsam seine Hand an meine Wange legen.
„Kleines, das kannst du dir nicht so einfach vorstellen. Diese Welt liegt außerhalb der Begrifflichkeit der Menschen. Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, dass du dich frei machen musst von dem Denken, dass es ein Oben und ein Unten gibt, nennen wir es banal Himmel und Hölle. Beides, wie ich dir gestern schon erzählt habe, ist ein Mythos, von verirrten Seelen geformt, die wie auch immer durch Zufall einen Blick auf die wahre Welt werfen konnten und sie nicht verstanden haben. Die menschliche Seele neigt dazu, Dinge, die sie sich nicht erklären kann, zu verleugnen oder zu verdammen. Es gibt kein ‚über uns‘ und kein ‚unter uns‘. Es gibt nur ein ‚neben uns‘, und das in tausendfacher Weise. All diese Metawelten sind real existent, jede für sich einmalig und unveränderbar in ihrer Art. Und sie sind im Hier und Jetzt. Sie existieren zeitgleich neben uns, während wir hier sitzen, und haben in sich selber doch eine ganz eigene Definition von Zeit und Raum. Menschliche Einheiten wie beispielsweise Stunden oder Kilometer können in ihren Sphären nicht angewendet werden, denn diese Einheiten sind …“
„… dreidimensional“, beendete ich den Satz und begann langsam zu verstehen. „Was passiert denn mit euren … Hüllen, wenn ihr … auf eine andere Ebene geht?“
„Eine sehr gute Frage, Aline. Ich bin beeindruckt, wie schnell du begreifst. Aber von einer Bewahrerin hatte ich, ehrlich gesagt, auch nichts anderes erwartet.“
Darons Kompliment ließ mein Herz erbeben, und ich freute mich ein ganz klein wenig, dass ich es geschafft hatte, ihn zu beeindrucken. Und noch während ich mich in meiner kleinen Eitelkeit sonnte, beugte sich Daron zu mir, kam mir so nahe, dass ich dachte, er würde mich küssen.
Doch stattdessen lehnte er seine Wange sanft an meine und flüsterte mir ins Ohr: „Willst du es sehen?“