Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 35
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Schweigend saß ich auf dem Teppichboden im Wohnzimmer des Penthouse und blickte durch die Glasfront auf die Stadt hinunter. Es war ein grauer Sonntagnachmittag, so wie sie im November öfter vorkamen. Ich betrachtete die verschiedenen Häuser und Dachbauten und dachte die ganze Zeit daran, wie innerhalb von nur drei Tagen meine kleine Welt wie ein Schnellzug bei voller Fahrt aus einem defekten Gleis gesprungen und zur Seite gekippt war. All das, woran ich geglaubt hatte, meine Werte und Normen, waren wie Insassen bei diesem Unfall verletzt worden, manche davon schwer. Aber sie lebten weiter, nur in anderer Form. Es würde einige Zeit dauern, bis sie sich erholt hatten. Doch sie würden sich erholen, daran glaubte ich fest.
Während wir wieder nach oben gefahren waren, hatte ich kein Wort gesagt, sondern bereits im Aufzug begonnen, meine Gedanken zu sortieren. Daron war ganz und gar Gentleman und ließ mir den Freiraum, von dem er spürte, dass ich ihn gerade brauchte. Anders hätte ich das alles nicht verarbeiten können.
Jetzt saß ich im Schneidersitz vor den hohen Fenstern und versuchte, mich auf den Ausblick zu konzentrieren. Auch wenn mich der optisch nahtlose Übergang zwischen Glas und vermeintlich freiem Fall am Anfang verschreckt hatte, jetzt bedeutete er keine Gefahr mehr für mich. Ich wusste jetzt, dass meine Zeit noch lange nicht gekommen war, und der Blick hinab auf die Häuser beruhigte mich. Irgendwie beneidete ich die vielen Menschen dort unten um ihre Unwissenheit über den tatsächlichen Lauf der Welt. Es gab so viel, was sie nicht einmal ahnten und von dem ich mich fragte, wie ich mir je hatte aussuchen können, es irgendwann einmal wissen zu wollen.
Vielleicht wäre es anders einfacher gewesen.
Vielleicht aber auch nicht.
Müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Es war, wie es war, und daran konnte niemand mehr etwas ändern.
Ich hörte, wie Daron aus der Küche kam; er setzte sich hinter mich und reichte mir auf dem Weg einer Umarmung eine Tasse heißen Vanilletee.
„Hier, das wird dir gut tun“, flüsterte er mir ins Ohr, und ich lehnte mich an seine starke Brust.
Ich bedankte mich artig und nahm einen kleinen Schluck. Der Tee schmeckte so süß und weich, dass ich die Augen schloss und einfach nur die wohlige Wärme genoss, die sich in meinem Magen breit machte. So breit, dass er im nächsten Moment zu knurren begann.
„Hoppla“, sagte ich überrascht, und Daron lachte.
„Möchtest du was essen?“
Ich überlegte. Ja, ich hatte eindeutig Hunger. Aber das war mir jetzt nicht so wichtig.
„Später“, antwortete ich ihm und nahm einen weiteren Schluck.
„Daron, wie wird es sein?“, fragte ich und kuschelte mich umso mehr an seinen warmen Oberkörper.
„Was denn, Kleines?“
„Du und ich … und die nächste Generation … wo werden wir leben? Wie? Und wann? Und was für eine Prüfung erwartet mich?“ Eine Frage nach der nächsten purzelte aus meinem Mund, bevor ich sie stoppen konnte.
Behutsam strich mir Daron mit der rechten Hand über den Kopf, während er sich mit der linken am Boden aufstützte.
„Du und deine Neugier“, antwortete er sanft und gab mir einen Kuss in meine wuscheligen Haare. „Es wird schön werden, Kleines. Hab keine Angst. So lange ich bei dir bin, kann dir nichts passieren.“
„Das sagst du so leicht“, maulte ich in meine Teetasse. „Du musst ja keinen überirdischen Test über dich ergehen lassen und anschließend einen Bauch mit acht Kindern durch die Gegend wuchten. Was ist mit meinem Leben, das ich jetzt habe, Daron? Was ist mit meiner Mutter, meiner Cousine, meinen Freunden, meiner Arbeit? Wo sind sie in der ganzen Geschichte?“
Lange Zeit sagte er gar nichts, sondern streichelte nur weiter beruhigend über meinen Kopf.
„Es fällt mir nicht leicht, dir das zu sagen, Kleines, aber du kannst dein Leben, so wie es ist, ab dem Zeitraum der Empfängnis nicht mehr weiterführen. Eine Achtlingsschwangerschaft ist nicht nur eine für den weiblichen Körper sehr belastende Erfahrung, sie zieht auch unnötige Aufmerksamkeit auf sich. Was das Medizinische betrifft, so wird sich während der ganzen Zeit Franziska um dich kümmern. Wenn die Kinder erst einmal auf der Welt sind, benötigen sie besondere Aufsicht durch die Familie. Sie werden von Anfang an auf ihre Aufgabe vorbereitet und durchlaufen eine ganz andere Erziehung als normaler Kinder. Das alles ist zu wichtig, als dass wir es riskieren könnten, auch nur einem Außenstehenden von unserer Existenz und der wahren Existenz der Welt zu berichten. Denkst du nicht auch, es wäre zu grausam, deiner Mutter von ihren Enkeln zu erzählen und sie ihr dann vorzuenthalten?“
Ich nickte.
Es gefiel mir zwar nicht, aber Daron hatte recht.
„Wie sieht der Plan aus?“
„Sobald sicher ist, dass du schwanger bist, müssen wir deinen Tod vortäuschen. Das ist mehr als zynisch, ich weiß, aber die einzige Möglichkeit, deine und die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten. Du musst dir zudem bewusst sein, dass auch du ab der Aufnahmezeremonie, die dem bestandenen Test folgt, nicht mehr altern wirst. Das würde mit der Zeit sicherlich auffallen.“
„Bedeutet das, meine Mutter würde meinen Tod miterleben?“, wagte ich kaum zu fragen; zu schwer wog der Fels auf meinem Herzen. Erst mein Vater und dann ich, das würde sie einfach nicht verkraften.
„Kleines, das liegt nicht in meiner Hand. Ich selber hole zwar die Seelen, aber es ist nicht wie in einer Liste, auf der pro Tag tausend Namen stehen und hinter die ich nach jeder erfolgreichen Reise ein Häkchen setze. Die Zeitspanne zwischen dem vorbereitenden Besuch und der tatsächlichen Begegnung variiert von Person zu Person, mal ist sie kürzer, mal länger. Insgesamt würde ich sie als eher kurz bezeichnen, und doch kann ich dir jetzt noch nicht sagen, was entsprechend der Zeitmessung in dieser Welt in einer Woche sein wird, geschweige denn in einem Jahr. Es ist dein gutes Recht zu fragen, was dich in Zukunft erwarten wird. Aber mach langsam, einen Schritt nach dem anderen. Und wenn es dich beruhigt: Auch wenn der Ritus vollzogen ist, obliegt es immer noch uns, den Zeitpunkt für die Empfängnis zu bestimmen. Solange wir nicht wollen, müssen wir auch nicht. Unter Umständen erlebt deine Mutter das dann auch nicht mehr. Jede unserer erwählten Aufgaben bietet uns hier und da die Gelegenheit, sich an einer Weggabelung in eine neue Richtung zu bewegen.“
Ich seufzte tief in meine Tasse.
„Na, wenigstens etwas. Wie sehen Test und Ritual denn aus?“, wiederholte ich meine Frage.
„Das kann ich dir leider nicht sagen. Es ist eine Art Prüfung, und jede Bewahrerin erhält eine, die individuell auf ihre Person zugeschnitten ist. Selbst wenn ich es wüsste, ich dürfte es dir nicht sagen.“
Super.
Spannung, Spiel und Tod.
Gleich drei Dinge auf einmal.
Was war ich für ein Glückskeks.
Erneut meldete sich mein Magen.
„Sollen wir nicht doch lieber was essen?“, fragte Daron.
„Ich denke schon“, antwortete ich. „Aber nicht hier. Lass uns zu mir gehen. So schön es hier ist, langsam habe ich das Gefühl, hier erschlägt mich alles. Fahren wir zu mir, und ich schmeiße uns ein paar Spaghetti in den Topf. Ich brauch jetzt einfach mein gewohntes Umfeld, um wirklich ausspannen zu können. Abgesehen davon muss ich morgen auch wieder arbeiten. Noch sind wir schließlich nicht so weit, dass ich abtauchen muss.“
Mit diesen Worten dehnte ich den Kopf nach hinten, und Daron beugte sich zu mir herunter, um mir einen kleinen Kuss zu geben.
„Einverstanden“, erwiderte er und zwinkerte mir neckisch zu, „bis auf eine Kleinigkeit.“