Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 34

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Irgendwann stoppte der Fahrstuhl, und die Tür glitt mit einem hellen „Ping“ auseinander. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das.

Daron griff nach meiner Hand, lächelte mir beruhigend zu und trat mit mir zusammen in einen großen, dunklen Raum, von dem ich das gegenüberliegende Ende nur vermuten konnte. Ein schmaler Gang führte vom Fahrstuhl aus durch die Halle, an dessen Seiten jeweils mehrere Betten standen, um die Plastikplanen wie Moskitonetze gespannt waren. Das Ganze erinnerte mich an eine Art Intensivstation, in der man die Betten wie bei Brandopfern aus Schutz vor Infektionen abgedeckt hatte. Ich hörte ein leises Surren und Piepsen, gleichmäßig und ruhig wie ein Herzschlag.

Moment.

Das war ein Herzschlag.

Langsam gingen Daron und ich durch den engen Gang. Ich blickte von einem Bett zum nächsten und fand sie allesamt leer vor. Bis auf das Letzte hinten links.

Mir stockte der Atem.

In diesem Bett lag Mael.

Beinahe zerbrechlich und außergewöhnlich bleich lag er dort, sein blondes Haar durch einen lockeren Zopf an der Seite gebändigt. Überall an seinem Kopf und Körper waren Kabel und Pads angebracht, und neben seinem Bett stand ein Herzmonitor, der die piepsenden Geräusche von sich gab. Am Fußende des Bettes hing ein halb voller Urinbeutel.

Ich war Mael wirklich nicht sonderlich zugetan, aber ihn so zu sehen, das war trotz allem, was er mir angetan hatte und hatte antun wollen, nur schwer erträglich. Mein Magen krampfte sich zusammen, und leichte Übelkeit stieg in mir auf.

„Alles in Ordnung, Aline?“, fragte Daron, während er einen Arm um mich legte.

Ich brachte keinen Ton hervor, sondern starrte weiter auf den nahezu leblosen Körper. Maels Gesicht war stellenweise blau und grün verfärbt, dort, wo Daron ihn mit seiner Faust getroffen hatte. Einige verkrustete Blutreste hingen noch in seinen Mundwinkeln. Ein kurzes Nicken, das war alles, was ich zustande brachte. Hätte ich meinen Mund geöffnet, ich hätte mich auf der Stelle übergeben.

„Na, wenn das mal nicht das heiß umkämpfte Objekt der Begierde ist“, hörte ich in dem Moment eine weibliche Stimme fröhlich hinter uns trällern und drehte mich um. Vor mir stand eine hübsche, junge Frau mit einer randlosen Brille, die ihre blauen Augen besonders stark betonte. Ihre braunen Locken hingen ihr wirr vom Kopf herab. Natur, ganz eindeutig. Kein Friseur der Welt bekam solch eine Mähne hin. Sie konnte nicht viel älter als ich sein und lächelte mich aus ihrem sommersprossigen Gesicht an, als sie mir die Hand reichte.

„Hallo, ich bin Dr. Stein. Und du musst bestimmt Aline sein. Bitte, nenn mich Franziska.“ Ihr Lächeln wirkte aufrecht und echt, sodass ich ihr höflich, wenn auch zögerlich die Hand gab.

„Ja, bin ich. Woher wissen Sie …?“

„Ach, die Buschtrommeln funktionieren ausgezeichnet“, lachte sie, um sich an Daron zu wenden und ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben. „Verdammt, Daron, musstest du ihn gleich so zurichten?“

Das klang schon nicht mehr ganz so freundlich.

Darons Miene verdunkelte sich, und ich merkte, wie mich wieder ein leiser Eishauch strich. Hier unten war es sowieso nicht gerade warm, und es fröstelte mich leicht.

„Er hat versucht, Aline zu vergewaltigen. Welche Strafe hat er deiner Meinung nach dafür verdient?“

Hatte ich gedacht, es sei kühl gewesen, so hatte ich mich gründlich geirrt. Gegen die Kälte, die jetzt aus Darons Stimme sprach, war selbst der Nordpol ein Tropenparadies.

Das Lächeln schwand, und Entsetzen breitete sich stattdessen auf Dr. Steins Gesicht aus. In Sekundenschnelle blickte sie zu mir und wieder zurück.

„Oh … das tut mir leid. Ich wusste nicht, was genau passiert ist. Alan hat nur erwähnt, dass ihr euch wegen deiner neuen Freundin gestritten habt.“

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder mir zu. Es war ihr sichtlich peinlich.

„Geht es dir gut?“

Echte Sorge lag in ihrer Stimme.

Ich nickte.

„Ja es geht schon, es ist nichts weiter passiert.“

„Äußerlich magst du vielleicht unversehrt geblieben sein, aber eine versuchte Vergewaltigung ist eine traumatische Erfahrung, die keine Frau einfach so wegsteckt. Manchmal bahnt sie sich erst Monate oder Jahre später ihren Weg an die Oberfläche. Darf ich?“, fragte sie und fasste mit einer Hand an mein Gesicht, um vorsichtig mit dem Daumen mein Lid anzuheben. Mit der anderen Hand zog sie einen kleinen Leuchtstift aus ihrem weißen Kittel und leuchtete mir erst in das eine, dann in das andere Auge.

„Gut, so weit alles in Ordnung“, sagte sie, „aber versprich mir, wenn sich bei dir Schwindel, Herzrasen und Panikzustände bemerkbar machen, kommst du zu mir. Verstanden?“

Ich war zu perplex, um zu erwidern, dass ich sie weder kannte noch wusste, was für ein Doktor sie überhaupt war, sodass ich einfach nur nickte. Das wurde langsam zu meinem Standardprogramm. Hilfe suchend blickte ich Daron an. Er verstand auf Anhieb und drückte mich nur umso fester in seinen Arm.

„Franziska ist eine ausgezeichnete Ärztin. Sie dient unserer Familie seit vielen Jahren, so wie Ihre Vorfahren vor ihr auch schon. Du kannst ihr ruhig vertrauen.“

„Viele Jahre?“, fragte ich verwirrt und blickte in Franziskas nahezu faltenfreies Gesicht. „Ein Medizinstudium dauert gerne mal zehn Jahre, und du kannst höchstens dreißig sein.“

Sie warf ihren Kopf zurück und ließ ein glockenhelles, jugendliches Lachen ertönen, das mich an Frühlingsregen und Maiglöckchen erinnerte.

„Vielen Dank für das Kompliment, ich freue mich aufrichtig. Hier unten bekomme ich so selten Gesellschaft, und wenn, dann ist sie meist nicht sehr gesprächig. Komplimente sind geradezu Mangelware in meiner Welt.“

Verständnislos blickte ich sie an.

„Du hast ihr nicht erzählt, was es mit dem Cubarium auf sich hat?“, wandte sich Dr. Stein an Daron.

Er schüttelte den Kopf.

„Ich denke, du kannst ihr das viel besser erklären als ich.“

Schon wieder Geheimniskrämerei.

Das ging mir langsam auf den Keks.

„Mir was erklären?“, fragte ich und gab mir keine Mühe, meinen leicht verärgerten Unterton zu verbergen.

Franziska schürzte daraufhin die Lippen, warf Daron einen angesäuerten Blick zu und seufzte einmal laut auf.

„Na schön, aber damit das klar ist: Damit habe ich was bei dir gut.“

Mein sanfter Riese legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Danke, Franziska.“

„Schon gut, schon gut“, winkte sie ab und nahm mich beiseite. Jetzt sollte ich also erfahren, was es mit diesem unterirdischen Krankenhaus auf sich hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich wollte das gar nicht mehr wissen.

Ruhig und freundlich fragte mich Dr. Stein, was ich schon über die Ewigen wüsste und was sich mit Mael zugetragen hatte. Wahrheitsgemäß antwortete ich ihr, und auch wenn ich an die Duschszene nicht wirklich gern zurückdenken wollte, so vermittelte mir die Ärztin mit ihrer einfühlsamen und aufmerksamen Art doch das gute Gefühl, dass ich ihr vertrauen konnte. Als ich die Kurzfassung der Geschehnisse wiedergegeben hatte, blickte sie mich eindringlich an.

„Wenn du möchtest, können wir das Ganze auch woanders besprechen und nicht direkt am Bett des Mannes, der … dir das antun wollte“, sagte sie und berührte dabei beinahe mütterlich meine Schulter. Ich musste kurz schlucken.

„Ist schon in Ordnung“, antwortete ich gepresst. „Ich will keine Extrawurst.“

Da musste sie lächeln.

„Alan hatte recht. Du bist nicht leicht unterzukriegen. Eine Kämpferin. Genau das braucht Daron. Genau das brauchen wir.“

„Wer ist wir?“, fragte ich verwirrt.

„Die McÉags. Darons Familie. Sogar Mael – auch wenn es im Moment eher nicht den Anschein macht. Was hat dir Daron über seine Mutter erzählt?“

Ich blickte hinüber zu Maels Bett, auf dessen Fußende sich Daron abgestützt hatte. Er schien auf seinen Bruder hinabzublicken. Bei der Frage nach seiner Mutter sah ich, wie sich die Muskeln in seinem Rücken anspannten.

„Nicht viel“, antwortete ich mit einem Kloß im Hals, „nur, dass sie mit dem, was Darons Vater war, auf Dauer nicht klar kam und ihn … aus Verzweiflung betrog.“

Franziska nickte, und ihre Locken leuchteten stellenweise im kargen Licht der wenigen grellen Neonlampen.

„Das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte“, antwortete sie und atmete einmal tief durch.

„Was Darons Mutter tat, war eine Sünde. Darüber weißt du bereits Bescheid.“

Ich nickte.

Mal wieder.

„Dann weißt du auch, was derjenige, der eine solche Sünde begeht, zu erwarten hat, wenn er sie nicht bereut.“

Im ersten Moment wusste ich nicht, was sie meinte, doch als ich in ihre mich angestrengt fixierenden Augen blickte, fiel der Groschen.

O Gott.

Ich wünschte, er wäre nicht gefallen.

„Du meinst … Wollust … einer von Darons Brüdern musste sie holen?“

Entsetzen rann mir durch meine Adern und schüttelte mich, als wäre ich in eine Wanne voller Eiswürfel gefallen.

Hinter mir hörte ich Daron, wie er sich räusperte. Als ich mich umdrehte, stand er immer noch unverändert an Maels Bett, doch nun kam er zu mir und Franziska.

„Es wäre Kians Aufgabe gewesen, sie zu holen. Ihre Zeit war noch nicht gekommen, doch für eine Bewahrerin, die gegen unsere Gesetze verstößt, gibt es nur eine Strafe: das Ende ihres diesseitigen Daseins.“

Bei diesen Worten lief mir ein Schauer den Rücken herab, und ich hatte Mühe, nicht daran zu denken, dass diese Gesetze in Zukunft wohl auch für mich gelten würden.

„Vater beauftragte Kian, Mutter zu holen, doch Kian weigerte sich. Noch nie zuvor in unserer gesamten Existenz hatte eine Bewahrerin ihren Mann verraten. Kian war zu schwach. Er hat Mutter sehr geliebt, und ihr Handeln hat ihn beinahe zerstört. Schließlich erbarmte sich derjenige unter uns, der das Leiden seines geliebten Bruders nicht mehr mit ansehen konnte und für den noch dazu Mutter alles bedeutet hatte. Er übernahm Kians Aufgabe und holte sie zu sich. Er erfüllte die Pflicht seines Bruders, um ihn zu schützen und gleichzeitig die Möglichkeit zu nutzen, ein letztes Mal für einen kurzen Moment mit Mutter zusammen zu sein. Es hat ihn fast seinen Verstand gekostet.“

Ein leichtes Zittern rann über Darons Rücken, und ich erkannte mit Erschrecken, dass er leise weinte. Doch noch größer war mein Entsetzen, als ich erkannte, wer Kians Aufgabe übernommen haben musste.

„Mael?“, wagte ich kaum zu flüstern.

„Ja, Mael“, antwortete Franziska für Daron. Dafür erntete sie jede Menge Bonuspunkte auf meiner Beliebtheitsskala, denn damit gab sie Daron pietätvoll die Gelegenheit, sich wieder zu fassen. „Kian und Mael hatten sich schon immer sehr nahe gestanden. Auch wenn sie Achtlinge sind, so sehen sie alle unterschiedlich aus. Alle bis auf diese beiden. Sie sind unter den Geschwistern die einzigen eineiigen. Das hat sie seit ihrer Geburt stark miteinander verbunden, stärker als mit irgendeinem der anderen Brüder. Seit diesem … Vorfall war Mael einfach nicht mehr der Alte. Er veränderte sich und gab seiner Bestimmung immer stärker nach. Es besteht die Gefahr, dass, wenn sich einer der Ewigen zu intensiv mit dem, was er tut, auseinandersetzt, vielleicht sogar Gefallen daran findet, er vollkommen in seine ihm auferlegte Sünde eintaucht und sie verinnerlicht. Mael hat den Neid in sich aufgesogen wie ein Schwamm; er war das Einzige, was ihm Halt geben konnte. Er wollte niemanden an sich heranlassen. Auch ein Ewiger verkraftet so einen Vorfall nicht leicht, Aline. Mael stärkte sich an seiner Sünde, richtete sich an ihr auf und genoss es fortan, seinen Schmerz, den er in sich trug, über seine Bestimmung auf andere zu übertragen. Auch wenn die Seelen, die er holt, sich nicht besonders rühmlich verhalten haben, so haben sie nicht verdient, was Mael ihnen antut. Deshalb hat er wohl auch versucht, dich gemäß den Gesetzen zu umwerben, auch wenn das Wort hier nicht wirklich passt. Er hat offenbar Angst, wenn du schwanger wirst und ihm dadurch später seine Aufgabe nimmst, dass er dann nichts mehr haben wird, wofür er existieren kann. Ihr Vater war bisher nachsichtig mit Mael, auch er kämpft noch immer mit dem Verlust seiner geliebten Frau. Nach dem gestrigen Vorfall denke ich aber, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, an dem er eingreifen wird.“

„Wie?“, flüsterte ich, meine Kehle rau wie Sandpapier.

Franziska schüttelte den Kopf.

„Das braucht dich nicht zu kümmern. Es ist mit den Begriffen dieser Welt auch nicht zu beschreiben. Sagen wir, er knöpft sich Mael vor und … redet ihm ins Gewissen. Auf seine Weise. Damit dies geschehen kann, hat Daron Mael gegen dessen Willen in die andere Welt geschickt. Das, was er sonst eher passiv ausübt, wurde in diesem Moment aktiv angewandt. Deshalb hat er sich auch verwandelt. Eine Verwandlung geschieht nur in extremen Ausnahmesituationen, wenn ein Ewiger seine Emotionen selber nicht mehr unter Kontrolle hat. Während Daron sich danach um dich gekümmert hat, brachte mir Alan Maels Hülle. Die Ewigen sind nur zum Teil Mensch, wie du weißt. Sie existieren stofflich in dieser Welt und metaphysisch in der ihren. Normalerweise gehen sie problemlos von einer Welt in die andere, indem sie sich stark konzentrieren und in so etwas wie eine Art Koma fallen. Tun sie dies, kommen sie zuvor zu mir. Während sich ihre Seele aus der Hülle löst und in die andere Welt gleitet, wache ich hier im Cubarium über ihren Körper und seine Vitalzeichen. Zeit auf der anderen Ebene verläuft dort anders als hier bei uns, Aline.“

„Ja, das haben mir Daron und Alan schon erklärt“, erwiderte ich.

„Sehr gut“, antwortete Franziska und fuhr fort: „Dann verstehst du sicherlich auch, dass eine Minute in der anderen Welt nicht einer Minute bei uns hier entspricht. Ein Ewiger kann für gefühlte fünf Minuten fort sein, und wenn er zurückkehrt, ist hier mehr als ein Jahr vergangen. Es gibt keine festen Parameter, man kann nicht generalisieren. Die Welt drüben unterliegt anderen Gesetzen, wie sie hier nicht existieren. Es kann auch vorkommen, dass der Aufenthalt selber ein Jahr dauert, während es hier nur ein kurzes Nickerchen sein mag. Die Länge der Reise ist somit immer verschieden.“

„Und während der Reise ihres … Geistes bewachst du ihre Körper?“

„So könnte man es umschreiben. Es gehört allerdings so viel mehr dazu. Ich mache täglich diverse Übungen mit ihnen, damit die Muskeln sich nicht zurückbilden, und durch eine spezielle Sonde führe ich ihnen die Nährstoffe zu, ohne die ihr Körper nicht überleben könnte. Ich pflege sie und sorge für ihre Hülle, damit sie bei der Rückkehr wieder ganz normal weitermachen können. Dies ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, und ich bin stolz darauf, sie seit mittlerweile fünfzig Jahren ausüben zu dürfen.“

Mir klappte die Kinnlade nach unten.

„Fünfzig?“, fragte ich ungläubig und betrachtete Franziska erneut von oben bis unten. „Nie im Leben!“

„Oh, doch“, kicherte sie, „ich habe mich wirklich gut gehalten, was? Es muss vor vielen Hundert Jahren gewesen sein, dass einst einer meiner Ahnen mit einem von Darons Vorfahren einen Pakt schloss. Seine Zeit war gekommen, doch seine Arbeit war viel zu wertvoll, um unvollendet zu bleiben. Er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde, und als er geholt werden sollte, schlug er Darons Ahnen einen Handel vor. Er bekam einen Aufschub und verpflichtete sich dafür, bei deren Reisen die Körper der Ewigen zu bewachen, so wie ich es heute auch tue. Bis dahin hatten die Ewigen stets das Problem, rechtzeitig genug aus der anderen Welt wiederzukehren. Ihre Hülle beginnt zu altern, sobald die Seele sie verlässt. Es ist überliefert, dass einer der Vorfahren seine Hülle einst in einem Erdloch versteckte, bevor er auf die Reise ging. Als er wiederkehrte, war sein Körper ein Greis mit der Seele eines jungen Mannes. Umso erfreulicher fanden es die Ewigen, endlich jemanden gefunden zu haben, den sie mit der Aufgabe der Überwachung betrauen konnten. Mein Vorfahre wurde ein berühmter Mann, der sich allerdings mit der Zeit immer mehr zurückzog, denn auch er alterte ab dem Zeitpunkt des Handels nicht mehr. Das hat irgendwas mit einer Verbindung auf der metaphysischen Ebene zu tun, dazu gibt es aber leider bisher keinerlei wissenschaftliche Erklärung. Ich forsche noch daran. Wie dem auch sei, irgendwann einmal hat eine Frau von der Geschichte meines Vorfahren erfahren und sie in stark abgewandelter Form zu Papier gebracht, wenn auch der Kern der Wahrheit entspricht. Er hat zwar kein Monster aus den Teilstücken von Toten zusammengesetzt, aber mit dem Tod hat er trotzdem gedealt.“ Verschwörerisch zwinkerte mir Dr. Stein zu.

Ich brauchte zwei Sekunden, bevor mich die Erkenntnis mit voller Wucht traf, sodass sie mich fast umhaute.

„Du meinst doch nicht … dein Vorfahre … war Frankenstein?“

Das hörte sich so unglaublich an, dass ich beinahe gelacht hätte, doch leider wusste ich mittlerweile nur zu gut, dass es nichts mehr gab, was es nicht gab.

„Du kapierst schnell“, lächelte Franziska.

Dr. Franziska Stein.

Oh, Mann.

Ich schlug mir mit einer Hand gegen die Stirn.

„Alles okay?“, fragte sie und hatte erneut diesen besorgten Blick aufgesetzt.

„Ja, es geht schon, danke“, antwortete ich. „Ich lerne nur nicht jeden Tag den Tod oder Frankensteins Tochter kennen.“

„Um genau zu sein, bin ich seine Ururururenkelin. Dem Handel mit dem Ewigen haben wir es zu verdanken, dass wir so lange leben dürfen, wie wir wollen. Wir müssen uns lediglich darum kümmern, unsere Kinder in die Familientradition einzuführen, damit sie nach unserem Abgang den Handel aufrechterhalten. Tja, da ich aber noch nicht das Glück hatte, Mr. Right zu treffen“, und dabei hielt sie ihre nackte rechte Hand hoch, „werde ich den Job wohl noch einige Zeit machen. Was nicht schlimm ist, denn ich mache ihn gerne. Es ist so spannend, die Veränderungen der Welt mitzuerleben. Und nebenbei – wo sonst ist man schon stets von solchen optischen Leckerbissen umgeben?“

Mit diesen Worten deutete sie unauffällig in Darons Richtung.

Auch ich blickte zu ihm. Er hatte den Kopf mittlerweile nach unten gesenkt. Es sah so aus, als würde er mit seinem Bruder reden. Ich wollte nicht stören, und so wandte ich mich wieder Franziska zu.

„Was passierte mit Darons Mutter, nachdem Mael sie geholt hatte? Und warum nennt sie eigentlich niemand beim Namen?“

Traurigkeit huschte über Franziskas Gesicht, und als sie sprach, schweifte ihr Blick in geistige Ferne.

„Es ist uns verboten, jemals wieder ihren Namen zu nennen. Eine Anordnung von Darons Vater, der wir alle aus Achtung und Respekt Folge leisten.“

Nach einem kurzen Zurechtrücken ihrer Brille nahm sie den Faden wieder auf.

„Du weißt mittlerweile, dass jeder Normalsterbliche nach seinem … Empfang in die Anderswelt eingeht, von der dir die Jungs bereits erzählt haben. Ewigen und Bewahrerinnen steht dagegen eine andere Möglichkeit offen. Sie können sich entscheiden, auf alle Zeit in der Nebenwelt zu existieren, quasi als nichtkörperliche Wesen. Oder sie entscheiden sich dafür, dass ihre Seelen in dieser Welt verankert bleiben. Weil es jemanden oder etwas gibt, an dem sie besonders hängen. Als Darons Mutter noch nichts von ihrem Schicksal ahnte, gab es einst einen besonderen Baum, unter dessen wachsender Krone sie sich immer setzte und dem Rauschen der Blätter lauschte. Dieser Baum, damals noch vergleichsweise klein und am Anfang seiner Blüte stehend, bedeutete ihr mehr als alles andere. Sie entschied sich dazu, ihre Seele in diesen Baum übergehen zu lassen, um dort ihre Ruhe zu finden …“

Forschend sah sie mich an.

„Meine Pappel?“, flüsterte ich mit einer leicht piepsigen Stimme, wie ich sie oft bekam, wenn ich etwas nicht glauben konnte oder wollte.

„Ja, deine Pappel“, erwiderte Daron hinter mir, und ich drehte mich zu ihm. Er hatte sich inzwischen von Maels Bett gelöst, kam auf mich zu und umarmte mich.

„Du bist eine Bewahrerin und hast ohne es zu wissen deine Verbindung mit der anderen Welt in diesem Baum gespürt. Du hast gespürt, dass dieser Baum für dich mehr war als nur Rinde und Blätter. Es war nicht der Baum, der dir stets Ruhe und Trost gespendet hat. Es war Mutters Seele. Sie hat dich zu mir geführt. An dem Abend, als du mich dort gesehen hast, habe ich mich mit ihr unterhalten. Nicht mit Worten, mit Gedanken. Sie ließ mich wissen, dass sie seit einiger Zeit eine hübsche und interessante junge Frau mit einem starken Willen beobachtet hatte, die sich oft an ihren Stamm lehnte. Eine junge Frau mit dem Talent, in die andere Welt zu blicken. Die Frau, die mein Schicksal werden würde. Ich dachte erst, sie mache einen Scherz. Doch dann riet sie mir, nach rechts zu blicken. Dort standst du an der Haltestelle. Ich sah dich und schon bei diesem ersten Blick spürte ich, was Mutter gemeint hatte. Ich spürte deine Stärke, deine besondere Energie und die tiefe Liebe, die du so gern geben würdest und bisher doch nicht geben durftest. Von diesem Moment an wusste ich: Du gehörst zu mir. Und dann hörte ich Mutters zauberhaftes Lachen im Regen, der auf das Blattwerk prasselte. Hatte sie in einem anderen Leben zwar einen großen Fehler begangen, so hat sie in diesem dafür gesorgt, dass wir uns finden. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.“

Zärtlich fasste er mit einer Hand mein Gesicht und streichelte mit seinem Daumen über meine Wange.

„Franziska hat recht. Die McÉags brauchen dich. Ich brauche dich.“

Er gab mir einen Kuss, so sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings auf nackter Haut. Und neben all seiner Liebe und Hingabe schmeckte ich in diesem Kuss zum ersten Mal seine nahezu verzweifelte Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit.

Die Linie der Ewigen

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