Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 29
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Neben dem Haus, in dem meine Eltern wohnten, gab es einen Spielplatz. Als kleines Kind war mein Vater so oft wie möglich mit mir dorthin gegangen und hatte sich mit mir auf die Wippe gesetzt. Eine kleine Wippe aus Holz, deren rote Lackierung über die Jahre allmählich Stück für Stück abblätterte. Selbst bei Regen oder Schnee hatten wir uns dick eingepackt und uns auf unsere Vater-Tochter-Stunden auf dem Spielplatz gefreut, während uns meine Mutter nur lächelnd in der Haustür nachwinkte und anschließend in der Küche Vanillepudding für unsere Rückkehr kochte. Das waren als Kind für mich die schönsten Momente mit meinem Vater.
Ich saß auf meiner Wippe. Alleine. Der ganze Spielplatz wirkte verwaist, nur eine Schaukel schwang leise im Wind. Suchend blickte ich mich um, doch nirgends eine Spur von anderen Kindern. Als ich mich wieder umdrehte, stand plötzlich mein Vater am Rand des Spielplatzes, dort, wo Rasen und Sandkasten aufeinander trafen. Sein Gesicht und seine Kleidung glänzten vom Rot des Blutes, das sich unaufhörlich aus seinen Poren zu pressen schien. Eiskalte Angst schnürte mir meine Lungen zusammen. Ich wollte aufstehen und zu ihm laufen, doch meine Beine widersetzten sich meinem Befehl. Ich streckte meine kleine Hand nach ihm aus und schrie, er solle zu mir kommen, doch er stand nur reglos im Gras und lächelte mich an. Keinen Millimeter bewegte er sich, während vor meinen Augen sein Blut immer größere Teile seiner Kleidung durchtränkte. Panik erfasste mich, ich wollte ihm helfen, die Blutungen stoppen. Ich stieß mich von der Wippe ab und fiel in den weichen Sand. Mühsam versuchte ich auf meinen Vater zuzukriechen, indem ich mich mit den kurzen Ärmchen nach vorne zog, doch je mehr ich mich anstrengte, ihn zu erreichen, desto langsamer kam ich voran. Ich kreischte und schrie hysterisch, er müsse sich Hilfe holen, er würde sonst verbluten. Doch nach wie vor rührte er sich nicht, sondern schenkte mir das Lächeln, das er nur für mich reserviert hatte, ein Lächeln voller Güte und Liebe. Mit diesem Lächeln hatte mich mein Vater immer dann angesehen, wenn er mich trösten wollte, sei es wegen eines aufgeschlagenen Knies, schlechter Schulnoten oder – später – des ersten Liebeskummers. Es war das Lächeln eines Vaters, dessen Herz erfüllt war von Stolz auf sein einziges Kind und so einzigartig wie der Abdruck eines Zeigefingers. Es war seine Art, mir zu zeigen, dass es nichts auf der Welt gab, was sich jemals zwischen uns stellen würde. Ich schrie wie von Sinnen und griff weiter vergebens vor mir in den hellen Sand, während mir vor Angst und Verzweiflung die Tränen in Sturzbächen die Wangen herunterliefen. Noch während ich panisch versuchte, voranzukommen, sah ich, wie Daron wie aus dem Nichts neben meinen Vater trat, dessen Kleidung mittlerweile fast vollständig von Blut bedeckt war. Es floss über seine Arme und Hände, um schließlich in konstanter Geschwindigkeit ins Gras zu tropfen. Beide standen sie einfach da und beobachteten meinen vergeblichen Kampf.
„Daron, bitte hilf meinem Vater!“, schrie ich mit letzter Kraft und versuchte, mich an der Wippe in seine Richtung zu ziehen. Doch Daron tat nichts dergleichen und legte stattdessen meinem Vater eine Hand auf die Schulter. Dann drehten sich beide wortlos um und gingen davon. Sie ließen mich einfach alleine zurück. In mir wuchs die Verzweiflung, meinen Vater zu verlieren, ohne etwas dagegen tun zu können, und so schrie ich aus Leibeskräften, bis ich aufgeregt jemand meinen Namen rufen hörte.
„Aline? Aline, wach auf, bitte, wach auf!“
Panisch schlug ich die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Dann sah ich Daron, wie er sich über mich gebeugt hatte. Seine Hände hielten meine Arme fest, Sorgen waren in sein Gesicht geschrieben.
„Es ist alles in Ordnung, Kleines, es war nur ein Traum.“
Mit diesen Worten strich er mir über die Stirn, und ich bemerkte, dass ich schweißgebadet war. Als er sah, wie ich meinen Blick auf seine Hand richtete, die noch immer auf meinem Arm ruhte, ließ er mich augenblicklich los.
„Du hast so wild um dich geschlagen, dass ich Angst hatte, du würdest dich verletzen.“
„Es ist okay, ich … bin okay“, flüsterte ich und hatte Mühe, einen Laut aus meiner ausgedörrten Kehle zu pressen. Mühsam setzte ich mich auf und spürte, wie sich ein fieser Schmerz in meinem Kopf auszubreiten drohte. Behutsam strich mir Daron einige nasse Strähnen aus dem Gesicht und lächelte mich an. In diesem Moment zog sich alles in mir zusammen, und ich wusste wieder, was ich geträumt hatte. Die Erkenntnis traf mich von hinten mit voller Wucht und hinterließ nichts als nackten, unbarmherzigen Schmerz.
„Du … hast meinen Vater geholt“, sprach ich leise, während ich versuchte, mein Herzrasen und meine beschleunigte Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung.
Traurigkeit mischte sich in Darons Blick, zusammen mit einem neuen Ausdruck.
Schuld.
Es war eine Reaktion, die ich mir, genau betrachtet, eigentlich hätte denken können, und es tat mir in diesem Augenblick unglaublich weh, ihn dieser Konfrontation auszusetzen, wusste ich doch tief in mir drin, er würde absichtlich nie etwas tun, das mir schaden könnte. Aber, verdammt, es gab einfach noch so viel, das wir noch nicht geklärt hatten.
Sanft legte er seine Hand an mein Gesicht und streichelte mit seinem Daumen behutsam über meine Wange.
„Ja, ich habe deinen Vater geholt. Er war ein guter Mann, Aline. Bitte … hasse mich nicht dafür.“
Ich spürte, wie mir etwas Warmes das Gesicht herunterlief, und bemerkte erst jetzt, dass ich weinte. Zu tief saß der Verlust meines über alles geliebten Vaters, und noch tiefer der Umstand, dass ich mich nicht einmal von ihm hatte verabschieden können. So viele Fragen wollte ich stellen und konnte doch nur ein einziges Wort hervorbringen, auf das es in den seltensten Fällen eine Antwort gab.
„Warum?“
Daron hatte in der Zwischenzeit nach einem Taschentuch gegriffen und war dabei, mir damit vorsichtig die Tränen zu trocknen. In seinen Augen lag so viel Fürsorge, dass es mich nahezu zerriss, zu wissen, dass mir dieser Mann, den ich von ganzem Herzen liebte und ohne den ich nie wieder sein wollte, den wichtigsten Menschen in meinem Leben genommen hatte.
„Es war sein Schicksal“, antwortete Daron bedächtig. Ich bemerkte, wie es hinter seinen Augen arbeitete. „Bitte, sieh mich nicht so vorwurfsvoll an. Ich bin nicht derjenige, der die Regeln macht.“
Wut entflammte in meinen Eingeweiden und fraß sich wie eine Schlange meine Gedärme entlang nach oben, bis sie sich in einer hysterisch hohen Stimme äußerte, die ich selber nicht als meine eigene erkannte.
„Und wer macht dann die Regeln, Daron, wenn nicht du und deinesgleichen?“
Betroffenheit überzog sein Gesicht und vermischte sich mit der Sorge zu einem Ausdruck von Schmerz und – Verständnis.
„Jeder macht die Regeln für sich selber, Aline. Jeder einzelne bestimmt sein Leben selbst, noch bevor er geboren wird. Ich weiß, das ist schwer zu verkraften, und vielleicht sollten wir das Ganze bis auf nach dem Frühstück verlegen, wenn du wieder etwas gefasster bist.“
„Nein! Erkläre es mir jetzt!“, fauchte ich ihn an und gab mir nicht die geringste Mühe, meinen Zorn zu verstecken.
Vorsichtig taxierte Daron mich, als würde er abwägen, was er tun sollte.
„Also gut“, seufzte er nach einer Weile und strich sich in der mir mittlerweile so vertrauten Geste das glatte, schwarze Haar hinter sein Ohr. Eine Geste, die ich liebte und die mich so tief in meinem Inneren berührte, dass sie innerhalb einer Sekunde das Feuer der Wut erstickte, bevor es mich vollständig auffressen konnte. Er war so schön, so unfassbar attraktiv, wie er vor mir saß und seine Stirn angestrengt in Falten legte. Ich fühlte mich mit jeder Faser meines Körpers zu ihm hingezogen und konnte es kaum ertragen, ihm solchen Kummer zu bereiten. Doch ich brauchte Antworten.
Besser jetzt als später.
„Ich kann dir nicht alles sagen, Aline. Es gibt Dinge, die nur den Ewigen vorbehalten sind und unter keinen Umständen weitergegeben werden dürfen. Nennen wir es meinetwegen Berufsgeheimnis, wenn es dir dadurch besser verständlich wird.“
Ich nickte still und bedeutete ihm, fortzufahren.
„Das Leben ist ein ewiger Zyklus, Geburt und Tod sind beide zugleich Anfang und Ende, je nachdem, von welcher Seite du es betrachtest. Die Körper der Menschen sind nur eine Hülle“, sagte er, nahm dabei meine Hand und legte sie an seine nackte, unwiderstehlich ausgeformte Brust. „Sie sind ein Gefäß mit begrenzter Haltbarkeit für das Unsterbliche. Für die Seele.“ Bei diesem Wort verstärkte Daron den Druck auf meine Hand.
„Eine Seele ist schlicht ausgedrückt nichts anderes als eine Art Energie. Energie gleich welcher Art verschwindet nicht einfach, sie transformiert, sie verändert sich. Sie entschlüpft dem einen Gefäß, um sich nach einer bestimmten Zeit ein neues zu erwählen. Verschiedenste Religionen sprechen in diesem Zusammenhang von dem Wunder der Wiedergeburt. Auch wenn ich persönlich dieses Wort unpassend finde, da etwas, das bereits existiert, nicht geboren werden kann, so drückt es doch im Grunde das aus, woraus die Welt besteht. Aus einem ewigen Kreislauf, einem empfindlichen System, das durch nichts gestört werden darf. Blumen beispielsweise vergehen nach einer bestimmten Zeit, nur um im nächsten Zyklus in neuer Pracht wieder zu erblühen. Die gesamte Natur begibt sich vor der Kälte des Winters in eine Art Schlaf, um im Frühling zu neuem Leben zu erwachen. Wenn ich die Seele eines Menschen empfange, weise ich ihr den Weg in die Anderswelt, über die wir gestern schon gesprochen haben. Sieh die Anderswelt als eine Art Kurort, an dem sich die Seele von den Strapazen des Lebens ausruht und von dem sie, wenn sie dazu bereit ist, wieder zu einer neuen Reise aufbricht. Jede Reise, jedes Leben dient nur einem einzigen Zweck – der Vervollkommnung. Dem Lernen. So viel wie möglich in sich aufzunehmen, gleich welcher Art das auch sein mag. Es gibt Seelen, die sich dazu entschließen, ein einfaches Leben zu führen und ein hohes Alter zu erreichen. Und es gibt Seelen, die nur sehr kurz auf der Erde weilen. Gleich wie lange sie alle hier bleiben, eines ist ihnen gemeinsam – sie haben auf ihrer Reise neben ihrer Weiterbildung eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. So wie dein Vater, Aline.“
Wie paralysiert saß ich mit offenem Mund im Bett und lauschte gebannt Darons Ausführungen. Meine Hand ruhte weiterhin auf seiner Brust, und ich konnte sein Herz stark und schnell darunter schlagen spüren. Er war offensichtlich genauso aufgeregt wie ich.
„Welche Aufgabe hatte mein Vater?“, fragte ich vorsichtig, und meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Den Mann zu stoppen, der betrunken hinter dem Steuer des Busses saß.“
Daron machte eine kurze Pause und fuhr sich angespannt mit der freien Hand durchs Haar, während er mit der anderen immer noch meine auf sein Herz gedrückt hielt.
„Es ist nicht leicht, das für Außenstehende zu erklären, Aline. Von Zeit zu Zeit geschieht es, dass sich eine Seele zu früh auf den Weg zurück macht, obwohl sie noch nicht dafür bereit ist. Ähnlich, wie wenn du nach einer Krankheit wieder arbeiten gehst, obwohl du genau merkst, dass du noch nicht ganz gesund bist. Das passiert einfach, denn auch die Natur macht Fehler. Diese verirrten Seelen haben dann die größten Schwierigkeiten, sich hier zurechtzufinden, und suchen meist verzweifelt nach einem Weg zurück. Der Busfahrer, der deinen Vater überfuhr, war eine verirrte Seele, die nur deshalb trank, weil sie tief in ihrem Innern wusste, dass sie noch nicht bereit für dieses Leben gewesen war. Und dass sie vergessen hatte, sich vor ihrer Reise eine Aufgabe zu erwählen. Oder sie hatte sich eine Aufgabe gewählt und schaffte es aufgrund der fehlenden Rekonvaleszenz in der Anderswelt nicht, sie zu erfüllen. Solche Seelen begehen aus ihrer Verzweiflung heraus dann oftmals die Sünden, für die meine Brüder zuständig sind. Sie begehen sie in der unbewussten Hoffnung, dass wir sie bald holen kommen und erlösen werden. Es ist eine Art Hilfeschrei nach Befreiung aus einem Dasein voller Frust und Verzweiflung. Denn ohne Aufgabe, ohne Schicksal, das sich erfüllt, kann kein Leben existieren. Dein Vater, Aline, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dieser verirrten Seele Einhalt zu gebieten. Er hatte sein Schicksal schon besiegelt, bevor er überhaupt geboren wurde.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und musste mich kurz räuspern. Mein Hals brannte wie Feuer, und der Schmerz in meinem Kopf drohte, sich immer weiter auszubreiten. Einen Augenblick lang sah ich Daron nur an, betrachtete seine scharfen Züge, seine vollen Lippen und seine schimmernd grünen Augen. Dann begann ich vorsichtig, mit meinem Daumen über die Stelle zu streicheln, unter der sein Herz gegen seine Brust schlug.
„Hat er sehr leiden müssen?“, fragte ich leise.
„Nein“, lächelte Daron, „ich habe ihm den Übergang so leicht wie möglich gemacht. Wie ich schon sagte, wir sind keine Henker. Wir sind Erlöser.“
Ein weiterer Gedanke formte sich in meinem Kopf.
„Wenn dem so ist, dass jeder von uns eine Aufgabe zu erfüllen hat – ist es dann meine Aufgabe, dich zu lieben und für eine neue Generation der Ewigen zu sorgen?“
Ein Lächeln huschte über Darons Gesicht und glättete die Sorgenfalten auf seiner Stirn.
„So könntest du es sagen. Es ist die Aufgabe, die du dir selbst ausgesucht hast, bevor du deine Reise in diese Welt angetreten hast. Genauso, wie ich es mir ausgesucht habe, das zu sein, was ich bin, auch, wenn wir uns bewusst nicht daran erinnern können. Es hat seinen Grund, dass wir im Hier und Jetzt von unseren Entscheidungen in der anderen Welt nichts mehr wissen. Wir sollen unbelastet auf den neuen Weg gehen und so viel wie möglich wieder mit nach Hause bringen.“
„Nach Hause…“, wiederholte ich leise.
„Nach Hause“, sagte Daron und nahm mein Gesicht in beide Hände.
Mein Herz machte einen Satz, und fast sah ich es schon auf dem Boden herumkullern. Darons Augen schimmerten so grün … Ich hätte geradezu in ihnen ertrinken können. Vorsichtig berührte er mit seinen Lippen meinen Mund und küsste mich so sanft, dass es mir war, als würde er mit einer Feder über meine Lippen streichen. Ich schmeckte seinen süßen Kuss und roch dabei den Duft von Wald und Morgentau an seinen Händen, während seine Haare das Aroma der Sonne verströmten. Es war ein solch sinnliches Erlebnis, dass ich am liebsten in ihn hineingekrochen wäre, um mich in seinem Inneren schnurrend wie ein Kätzchen zusammenzurollen und dort für immer geborgen zu bleiben. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es mir völlig egal war, wer er war und was ich noch nicht von ihm wusste. Es kümmerte mich nicht, welches Schicksal mir offenbar bevorstand. Das Einzige, was ich wollte, war, für den Rest meines Lebens in seinen Armen zu liegen. Wo er war, wollte auch ich sein. Mein Herz hatte diese Entscheidung bereits gefällt, lange bevor sich mein Verstand diese Frage überhaupt gestellt hatte. Ein leiser Seufzer verließ meine Lippen. Ich spürte, wie sich Darons Mund an meinem zu einem Lächeln verzog.
„Hungrig?“, flüsterte er.
„Ja“, hauchte ich gegen seine Lippen und küsste ihn mit einer Leidenschaft, von der ich nie gedacht hatte, dass ich sie jemals in meinem Leben empfinden würde.