Читать книгу Die Raben Kastiliens - Gabriele Ketterl - Страница 29

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Spinnweben, glitschige, schleimige Ablagerungen an den Wänden, abgebrochene Stützbalken, an denen man sich böse verletzen konnte, der Tunnel war schon jetzt, nur wenige Schritte nach dem Eingang, für Angel eine wahre Herausforderung. Es gab keine Seitenwege oder Abzweigungen und so konnte er zumindest nicht in die Irre laufen. Mühsam tastete er sich durch das undurchdringliche Schwarz, das ihn umgab. Seine Hände griffen in weiche, stinkende Blasen, Tiere krochen über seinen Leib und er bemerkte, wie sie ansetzten, unter sein Hemd zu krabbeln. Er spürte erste Stiche und Bisse, fasste in etwas Klebriges, das grauenvoll stank. Ein Holzsplitter bohrte sich in seine Hand, während er sich unbeirrt weiter vorantastete. Unvermutet fanden seine Finger einen Haufen vor sich, der ihm den Weg versperrte, doch es gelang ihm, sich bäuchlings darüber hinwegzuquälen. Wie, bei allen guten Geistern, sollte er Sarah und den Kleinen über diesen Weg herausbekommen? Ihm war bewusst, dass Zögern und Zaudern ihm nicht weiterhelfen würde und so arbeitete er sich ohne Rücksicht auf seinen Körper, auf Schmerzen oder die aufsteigende Übelkeit ob des infernalischen Gestanks unbeirrt voran. Als er sich den Kopf an einem tief eingesetzten Querbalken stieß, spürte er, wie ihm etwas Warmes über das Gesicht lief. Wunderbar, nun würde er stinkend, verdreckt und blutüberströmt bei seiner Frau ankommen. Und doch hieß es erst einmal, überhaupt anzukommen.

Angel unterließ es, sich das Blut aus den Augen zu wischen. Es war sowieso stockfinster. Die Wände zerbarsten zum Teil unter seinen vorsichtig tastenden Fingern. Der Tunnel hatte seit seinem letzten Besuch viel von seinem »Charme« eingebüßt. Mit aller Macht versuchte Angel sich selbst gut zuzureden, doch langsam verließ ihn der mühsam aufgebrachte Mut. Seine Angst vor engen Räumen drohte ihm die Luft abzuschnüren. Mit geschlossenen Augen begann er gebückt vorwärts zu laufen. Die tiefen Kratzer und die vielen Prellungen nahm er in Kauf – nur hinaus!

Endlich! Er spürte einen Luftzug, zwar einen rauchigen und sehr leichten, doch immerhin: Luft! Er hatte das andere Ende des Fluchttunnels erreicht, gut verborgen zwischen der Stadtmauer und einem tiefen Wassergraben, überwuchert von wilden Rankgewächsen. Behutsam schob Angel die langen, leicht stachligen Zweige zur Seite. Niemand war zu sehen, alles lag leer und verlassen vor ihm. Er musste sich kurz orientieren, der Tunnel endete nur etwa zweihundert Meter vor seinem Haus. Mit dem letzten brackigen Wasser des Grabens säuberte er sich so gut es ging. Sein vollkommen zerrissenes, einst weißes Hemd zog er aus. Es war nicht mehr zu gebrauchen, konnte ihn aber immer noch verraten. Mit nacktem Oberkörper, nur noch mit seiner Hose und den Stiefeln bekleidet, schlich sich Angel im Schatten der dunklen Häusermauern in seine Straße. Kein Licht wies ihm den Weg, keine menschlichen Stimmen – nur gespenstische Stille empfing ihn auch hier. Angel fror, aber nicht die Kälte der Nacht ließ ihn zittern. Seine aufsteigende Angst begann ihm die letzte noch verbliebene Kraft zu rauben. Als er das Geräusch von Pferdehufen und das knarzende Lärmen eines Fuhrwerks vernahm, duckte er sich tief zwischen zwei Häuser. Entsetzt weiteten sich seine Augen, nur wenige Schritte vor ihm fuhr der Wagen mit den Pesttoten dieser Nacht vorbei. Wahllos übereinander geworfen lagen darauf ausgezehrte Körper. Irgendwo am vorderen Teil des Fuhrwerks baumelte eine kleine Kinderhand aus dem Berg von Toten und Angel musste einen Schrei unterdrücken. Kaum war das Gefährt mit seiner grauenvollen Fracht vorüber, eilte er weiter. Seine anfängliche Vorsicht hatte er aufgegeben, so wie die Obersten offenbar diesen Teil Toledos. Niemand war hier, der ihn hätte sehen können. Wer noch lebte, hatte sich wohl verbarrikadiert.

Rasch erreichte er sein kleines Haus, hoffte tief in seinem Herzen, irgendwo einen Lichtschein zu erblicken, doch nur das fahle Mondlicht erleuchtete den winzigen Garten. Ein kleiner Stofflöwe, von Estella mühsam genäht, lag achtlos hingeworfen im Gras, auf einem zwischen zwei jungen Bäumchen gespannten Strick hing Kinderwäsche. Als Angel näher trat, sah er, dass sie schon lange dort hängen musste, Asche hatte sich darauf abgelagert. Ihm war übel, so schrecklich übel, viel mehr als zuvor in dem Tunnel. Es war eine andere Übelkeit, eine, die aus seinem Herzen kam und ihm langsam und unaufhaltsam die Kehle empor kroch.

Voll unendlicher Angst ging er auf die Holztüre zu, die Benito mit kunstvollen Scharnieren und Verzierungen wunderschön gearbeitet hatte. Seine Hand zitterte, als er gegen die Pforte drückte und sie unverschlossen fand – was würde ihn erwarten? Leise betrat er sein Heim und schloss kurz die Augen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Falls Sarah hier war und schlief, wollte er sie keinesfalls erschrecken, noch dazu, weil er aussah, als käme er gerade frisch vom Schlachtfeld.

Langsam schälten sich die Umrisse des Wohnraums aus dem Dunkel. Niemand war hier, es sah alles ordentlich und aufgeräumt aus. Ein Trinkbecher stand auf dem Tisch, daneben ein Kinderteller. So als habe jemand vor kurzem ein Kind gefüttert. Sollte doch noch alles gut werden? Zaghaft durchquerte er den Raum, stets bemüht, keine lauten Geräusche zu machen. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war nur angelehnt. Angel streckte den Kopf hinein und da das Licht des Mondes durch ein offenes Fensterchen fiel, erkannte er Sarahs Umrisse unter der dünnen Decke auf dem Bett. Sie schlief und in ihren Armen lag sein kleiner Junge. Freude überflutete ihn und er eilte auf das Bett zu, doch als er dort angelangte und sich niederkniete, um Sarah aufzuwecken, bemerkte er das weiße, wächserne Gesicht Juanitos. Er biss sich auf die Lippen, um still zu sein, um die Tränen zurückzuhalten, während er sachte über das eiskalte Köpfchen seines Kindes streichelte. Sarah hielt den toten Jungen fest in den Armen. Panik überflutete Angel, aber dann sah er, dass sie lebte. Mühsam hob und senkte sich ihre Brust – langsam, viel zu langsam. Liebevoll schob er ihr das wirre, lange Haar aus dem Gesicht. Als er ihre Züge sah und erkannte, wie eingefallen, grau und vom Tode gezeichnet sie war, wusste er, dass er zu spät gekommen war.

»Sarah, meine Liebe, mein Stern, hörst du mich?« Nur schwer gelang es ihm, seine Stimme annähernd normal klingen zu lassen.

Mehrmals musste er sie ansprechen, ehe sie ihn wahrnahm. Endlich aber hob sie träge die Lider und ihr Blick fand ihn. Sie erkannte ihn nicht sofort, war viel zu sehr gefangen in einer Welt, die weit weg von der seinen war. Erst als er ihr einen Kuss auf die Wange gab, leuchtete etwas in ihren Augen auf.

»Angel, ich habe gewusst, dass du kommst. Ich wusste, dass du unser Kind retten wirst. Er braucht Arznei, er braucht Hilfe. Jetzt bist du da, alles wird gut. Du bist bei uns.« Sie versuchte, den Arm zu heben, um ihn zu berühren, aber sie hatte keine Kraft mehr.

Zärtlich nahm er ihre Hand und umschloss sie liebevoll mit seinen langen, schlanken Fingern. »Ja, ich bin da. Denkst du denn, ich lasse euch im Stich? Mein Liebling, du weißt doch: Für dich durch die Hölle und wieder zurück!«

Jetzt lächelte sie. »Ja, durch die Hölle und zurück. Mit dir kann ich alles erreichen. Ich habe dich so sehr vermisst. Sieh doch, wie groß dein Sohn schon ist. Er wird dir immer ähnlicher. Stark, schön und wagemutig.«

Alles in Angel krampfte sich zusammen und mit unglaublicher Willenskraft nahm er ihr behutsam das tote Kind aus dem Armen. »Juanito schläft tief und fest, ich lege ihn in sein Bett, damit er morgen bei Kräften ist, wenn wir von hier fortgehen.«

Sarah atmete tief ein, wobei ihr Atem sich heftig rasselnd aus dem Körper quälte. »Fortgehen, ja, das ist gut. Ich habe sie alle um Hilfe gebeten, keiner wollte sie uns gewähren, sie haben mich weggeschickt, Angel. Unsere Freunde haben mich weggeschickt. Ich möchte fort von hier, weit weg. Ich möchte die Sonne sehen.«

Alles in ihm fühlte sich taub an, alles Gefühl schien eingefroren zu sein. Ungelenk und blind vor Tränen legte Angel seinen toten Sohn in das Bettchen, das er vor zwei Jahren selbst gebaut hatte. Sorgsam wickelte er den kleinen Leichnam in eine Kinderdecke und stolperte zurück zu Sarah.

»Möchtest du etwas Wasser? Hast du Durst?« Irgendetwas musste er doch tun können.

»Nein, ich bin so unendlich müde. Komm zu mir und halt mich fest. Es ist kalt hier, es ist so kalt.«

Angel schob seine Frau ein wenig beiseite und legte sich nah neben sie, bettet ihren Kopf in seinen Arm und streichelte sanft ihr Haar.

»Ich muss schlafen, wenn ich nicht schlafe, habe ich morgen sicher nicht die Kraft um fortzugehen. Jetzt kann ich schlafen. Nun, da ich weiß, dass du wieder bei mir bist.«

Angel zog Sarahs Arm hoch und legte ihn sich über die Brust. Er hielt seine Frau so fest er konnte und begann, ihr von seiner Reise zu erzählen. Er erzählte von weiten Ebenen, von in der Morgensonne glitzernden Seen, von wilden Pferden und bunten Vögeln, von blauem Himmel und von der Unendlichkeit der Sierra Nevada. Als er ihr von den weißen Wogen des Meeres erzählte und von Scharen glänzender Fische, spürte er, wie Sarah noch einmal tief Luft holte. Er spürte, wie ihre Hand, leicht wie ein Windhauch, seinen Arm drückte, um dann schwer und bewegungslos auf seine Brust zu sinken. Seine Frau hatte aufgehört zu atmen.

Mit ihrem toten Körper im Arm lag Angel, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, stundenlang da und starrte an die Zimmerdecke. Verloren! Er hatte alles verloren, was ihm lieb und teuer war. Warum? Was hatte er verbrochen, um so grausam bestraft zu werden? In der Ferne vernahm er das Rattern des Leichenkarrens. Sie holten die nächsten Toten. Nein, Sarah und Juanito würden sie nicht bekommen, niemals!

Er legte sich seinen Plan zurecht und wusste, dass er nur ausharren musste. Als der Tag dämmerte, schloss er das Fenster, zog die Vorhänge zu, wusch seine Frau und sein Kind und zog Sarah ihr schönstes Kleid an. Er legte sie und Juanito nebeneinander auf das von ihm frisch bezogene Bett, ging in die kleine Kammer, in der sie ihre Vorräte aufbewahrten, holte sich eine Flasche Wein und betäubte seinen Schmerz ein klein wenig damit.

Niemand verirrte sich im Laufe des Tages auch nur in die Nähe des Hauses, niemand störte seine Trauer, und er wartete geduldig.

Sobald es dunkel wurde, schlich er aus dem Haus, holte seine Schaufel aus dem kleinen Schuppen, den er extra für sein Pferd und für Werkzeug gebaut hatte und lief zum Friedhof. Dort, unter einem großen Blumenstrauch, hob er das schmale Grab für seine Familie aus. Zuerst trug er Sarah zu ihrer letzten Ruhestätte, dann legte er ihr Juanito in die Arme. Sorgsam umwickelte er die beiden mit einer großen Decke, warf einige Hände voll bunter Blütenblätter in das Grab und nachdem er so lange wie möglich von ihnen Abschied genommen hatte, schaufelte er die schwere, dunkle Erde auf die zwei Menschen, die sein Leben gewesen waren. Kein Kreuz würde ihr Grab zieren, nein, Blumen sollten es sein. Er grub einen kleinen Strauch mit duftenden, gelben Knospen aus und pflanzte ihn auf den Erdhügel. Ein letztes Mal legte er beide Hände auf die kühle, feuchte Erde, dann erhob er sich und rannte, ohne sich noch einmal umzusehen, zu seinem Haus.

Es war kurz nach Mitternacht, als er begann, seinen Plan umzusetzen. Sie sollten genauso sterben wie seine Familie. Sie sollten genauso leiden wie sie. Bastarde! Sie hatten sein Leben zerstört, nun würde er ihres zerstören. Angel öffnete die schmale Falltür in der Kammer und fischte seine Waffen heraus. Sein Schwert war edel und scharf geschliffen. Rauls Geschenk würde ihm gute Dienste leisten. Sein Dolch, den er sich während einer der letzten Reisen von einem hervorragenden Waffenschmied gekauft hatte, lag gut in der Hand. Angel zog ein schwarzes Leinenhemd an und eine enge schwarze Reiterhose. Selbst seine Stiefel reinigte er noch. Sie sollten sehen, dass es kein verdreckter Bettler war, der ihre Leben beendete. Er schnallte sich sein Schwert um, steckte den Dolch in die lederne Scheide und trank einen allerletzten Schluck Wein. Er hatte nichts mehr zu verlieren, nur sein Leben – und was war das nun noch wert?

Die Raben Kastiliens

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