Читать книгу Die Raben Kastiliens - Gabriele Ketterl - Страница 33

7.
Neues Leben

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DER BESTIALISCHE GESTANK, der zuletzt seine Nase gequält hatte, war verschwunden. Es duftete angenehm nach Blumen und aus deren Aromen stach eines ganz deutlich heraus. Jasmin! Tatsächlich, er roch Jasmin. Mühsam versuchte er sich zu erinnern, wo er war. Allerdings fiel ihm nur eines ein. Dass er sterbend auf einer Halde von Leichen gelegen hatte. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu. Er war tot!

Daher der Duft, daher die Ruhe, daher dieses wunderbare Gefühl und das weiche Lager, auf dem er offenbar ruhte. In der Hölle war er also schon einmal nicht gelandet. Was aber, wenn er die Augen öffnete? Was würde er erblicken?

Angel musste zugeben, dass er sich vor dem fürchtete, was ihn erwarten würde. Tot zu sein war ein klein wenig beunruhigend.

Genüsslich schnupperte er mit noch immer geschlossenen Augen, in die Luft.

»Wenn du die Augen aufmachst, dann könntest du zu dem angenehmen Geruch auch noch etwas sehen. Was meinst du? Wäre das nicht eine gute Idee?« Die tiefe Stimme klang warm, weich und tröstlich, so als sei sie nur dazu gedacht, ihm die Furcht zu nehmen.

Zaghaft und nur widerstrebend öffnete Angel endlich die Augen. Was er sah, erstaunte ihn sehr. Er lag in einem großen, schönen Bett, auf Kissen und warm eingewickelt in eine wollene Decke, über die noch ein seidenes Laken gebreitet war.

Am Fußende des Bettes saß ein beeindruckender Mann, der ihn neugierig und besorgt zugleich musterte. »Wie fühlst du dich, mein Sohn?«

Angel konnte nicht sofort antworten. Zu erstaunt war er über das, was er sah, über den Mann, der ihn unverwandt anblickte, und vor allem darüber, wie dieser aussah. Er war viel herumgekommen im Land, hatte auch die Nachbarländer bereist und viele Menschen gesehen. Ein so außergewöhnlich schönes, ebenmäßiges Gesicht von solcher Vollkommenheit aber hatte er tatsächlich noch nie erblickt. Er kam sich beinahe klein und unscheinbar vor. Die Frage war ihm fast peinlich, jedoch musste er sie stellen, denn er suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Angel versuchte, sie so höflich und respektvoll zu formulieren, wie es ihm eben möglich war: »Verzeiht mir, doch ich muss das fragen, denn ich bin sehr verwirrt. Seid ihr ein … Engel?«

»Nein! Das ganz sicher nicht.« Das Lächeln, das sich nun über das Gesicht des Mannes zog, machte es noch freundlicher, noch angenehmer.

»Aber ich kann mich erinnern. Ich habe mit Adolfo gekämpft und verloren. Das Letzte, das ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich auf einem Berg von Leichen lag und fühlen konnte, wie das Leben aus meinem Körper floss. Ich bin gestorben!« Angel wand sich. »Daher müsst Ihr mir meine Neugier verzeihen, aber wo bin ich?«

»Du bist auf der Rabenburg, mein Sohn. Hier bist du in Sicherheit und, falls es dich beruhigt, du bist nicht gestorben. Es ist uns gelungen, dich zu retten.«

Angel richtete sich ein Stück auf und befürchtete schon, Schmerzen zu empfinden, schließlich waren seine Verletzungen sehr schwer gewesen, doch er fühlte sich außergewöhnlich gut. »Herr, bitte erzählt mir, was geschehen ist, ich muss es wissen. Ich würde mich Euch auch gern vorstellen. Mein Name ist Angel.«

Nachdenklich strich der Mann sich sein langes, schwarzes, von wenigen silbernen Strähnen durchzogenes Haar aus dem Gesicht. Ein schmaler, wohlgestutzter Bart umrahmte seinen Mund und machte seine edlen Züge nur noch vollkommener. Seine hellen Augen richteten sich fragend auf Angel.

»Du fürchtest dich? Das musst du nicht, das sollst du nicht.« Er erhob sich und begann langsam durch das im Halbdunkel liegende Zimmer zu gehen.

Das Feuer, das in dem großen offenen Kamin fröhlich vor sich hinflackerte, verbreitete angenehme Wärme und Angel entspannte sich ganz langsam.

»Mein Name ist Vittorio.« Der Mann unterbrach seine Wanderung und setzte sich wieder neben Angel. »Wir haben dich letzte Nacht von dieser Leichenhalde geholt, da wir erkannten, dass du noch am Leben warst. Du warst schwach und wirklich schwer verwundet, doch dich sterben zu lassen wäre eine Verschwendung jungen, vielversprechenden Lebens.«

»So sagt mir doch bitte, was genau geschehen ist. Ich kann mir keinen Reim auf all dies hier machen.« Angel fuhr sich mit der Hand suchend über seine Stirn. »Hier müssten Narben sein, ich fühle auch keinen Verband, nichts?«

»Wir kommen zumeist ganz gut ohne Verbände aus. Unsere Medizin heilt rasch, effektiv und ohne Narben zu hinterlassen.«

»Eure Medizin?«

»Ja, unsere Medizin. Das Mittel, womit wir heilen, wenn es denn nötig ist und uns sinnvoll erscheint, stellt den Körper und die Gesundheit binnen kürzester Zeit wieder her. Sicher, es ist abhängig davon, wie schwer die Verletzungen waren oder wie gefährlich die Krankheit war, in leichten Fällen aber heilt der Kranke binnen weniger Minuten.«

Angel setzte sich vorsichtig auf. »Und was für ein Kranker war ich?«

»Ein recht komplizierter. Du hattest nicht nur fast kein Blut mehr in dir und warst von Schwerthieben durchlöchert wie ein Sieb, nein, du hattest auch noch die Pest im Körper. Du musst dich in Toledo angesteckt haben.«

Mit einem Schlag war alles wieder da, all seine Erinnerungen, nicht nur die letzten Momente. »Ja, ich habe mich wohl angesteckt. Ich habe mich durch den alten Fluchttunnel der Mauren in die Stadt geschlichen. Meine Frau und mein Sohn waren im verbotenen Viertel eingeschlossen. Aber ich kam zu spät. Mein Sohn war schon seit Stunden tot und meine Frau starb noch in derselben Nacht in meinen Armen.« Mit aller Kraft kämpfte Angel die aufsteigenden Tränen nieder.

»Das ist schrecklich. Sehe ich das richtig, dass du gedacht hast, dass sie nicht hätten sterben müssen?« Vittorio lehnte sich an einen der schön gedrechselten Bettpfosten und sah Angel nachdenklich an.

»Wie kommt Ihr darauf? Ich …«

»Nun, du wurdest von den bischöflichen Stadtwachen regelrecht niedergemetzelt. Das tun sie sonst nur, wenn sie angegriffen werden.« Vittorio runzelte die Stirn. »Zumindest in den meisten Fällen.«

»Der Bischof und sein Hauptmann Adolfo haben meine Frau, als sie um Hilfe bat, einfach davongejagt. Sie haben sie behandelt, als sei sie eine Bettlerin. Dabei wollte sie bloß Arznei aus den bischöflichen Vorratskammern, und das nicht nur für sich selbst. Man lässt die Armen im Stich und überlässt sie dem Tod, um die Reichen zu retten. Der neue Bischof ist nichts anderes als ein feiger, brutaler Mörder!«

Zu Angels Erstaunen lächelte Vittorio bei diesen Worten. »Damit ist er nicht allein. Du erzählst mir auch nichts Neues. Wir beobachten die neue Situation in Toledo seit Wochen mit wachsender Sorge. Sein Vorgänger war ein guter Mann, egal wie man zur Religion stehen mag. Nunzio aber ist ein Schwein.«

»Wen meint Ihr, wenn Ihr sagt wir? Seid Ihr eine Einheit des spanischen Königshauses?«

Wieder dieses leicht spöttische Lächeln, das Angel zutiefst verwirrte. »Nein, mein Sohn, ich befürchte, es wird langsam Zeit, dir zu sagen, wer wir sind. Ich denke, du bist stark genug, um es zu verkraften. Aber gedulde dich einen Augenblick. Ich möchte es dir nicht allein sagen.« Vittorio erhob sich und ging mit raschen Schritten zur Tür. »Etna! Reyna! Kommt ihr bitte zu uns?« Dann kehrte er langsam, den Blick auf Angel gerichtet, zurück zu dessen Lager.

Nur Augenblicke später wurde die Tür einen Spalt geöffnet.

»Sollen wir reinkommen?«

»Seit wann fragst du, Reyna? Natürlich. Los, kommt herein, unser Freund ist erwacht und es geht ihm den Umständen entsprechend sehr gut. Allerdings möchte er gern wissen, wer wir sind und was geschehen ist.« Vittorio hatte sich wieder zu Angel auf das Bett gesetzt und lächelte leise in sich hinein.

»Oh, das kann ich ihm erklären!«

Ungestüm öffnete sich nun die Tür ganz und herein kam eine ausgesprochen schöne, junge Frau mit langen schwarzen Locken, großen dunklen Augen und einem hinreißenden Lächeln. Hinter ihr betrat, mit neugierigem Blick auf Angel, ein großer blonder Mann den Raum.

»Angel, darf ich dir vorstellen? Das hier ist Reyna und der etwas zurückhaltende Mann hinter ihr heißt Etna.« Vittorio winkte die beiden ungeduldig heran. »Etna hat mir bei deiner Heilung tatkräftig geholfen. Und Reyna hätte mich wahrscheinlich eigenhändig erwürgt, wenn ich dich nicht gerettet hätte.«

»Davon kannst du ausgehen.« Reyna lächelte charmant, aber dennoch mit einem seltsam bedrohlich wirkenden Blick, in die Runde.

Vittorio atmete tief ein. »Irgendwann musst du es ja doch erfahren. Was sagt dir der Name Die Raben Kastiliens?«

Angel fuhr hoch. »Die Kreaturen der Nacht! Dämonen der Finsternis.«

Vittorio wandte sich milde lächelnd an Reyna. »Hörst du, was du bist?«

Angel sah vollkommen verwirrt von einem zum anderen. »Aber das … Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass ihr, nein, das ist unmöglich. Das sind Schauergeschichten, Geschichten, mit denen man Kinder erschreckt.«

Nun lachte Vittorio wirklich. »Das wird sich nie ändern. Wie oft musste ich das nun schon hören. Immer die gleiche Reaktion. Faszinierend!« Er winkte Reyna zu sich.

Die schöne Frau setzte sich direkt neben Angel aufs Bett.

»Angel. Sieh sie dir an. Was siehst du?«

»Eine wunderschöne junge Frau?« Angel konnte nicht anders, als Reyna bewundernd anzustarren.

»Angel, diese Schönheit ist einhundertdrei Jahre alt und jetzt pass gut auf. Reyna, zeig ihm, was wir sind, aber behutsam.«

Reyna lächelte vielsagend und beugte sich langsam zu Angel hinüber. »Erschrick nicht zu sehr, das lässt mich jedes Mal wieder an mir zweifeln. Daher tu mir den Gefallen und versuch einfach das, was du siehst, zu akzeptieren. Ich erkläre dir dann auch gleich warum, gut?«

Angel, dessen Hirn noch verzweifelt mit den einhundertdrei Jahren kämpfte, nickte nur atemlos.

Reynas Augen blitzten kurz auf und dann öffneten sich langsam ihre vollen Lippen. Ihr Blick bannte Angel regelrecht und dann legte sie leicht den Kopf zurück und er sah – zwei lange, spitze, leicht gebogene Eckzähne. Die rassige Schönheit vor ihm hatte das Gebiss einer Raubkatze!

Unwillkürlich rutschte Angel ein wenig zurück. »Es ist also tatsächlich wahr? Ihr existiert wirklich. Ihr seid keine Erfindung der Geschichtenerzähler? Man erzählt sich, ihr könnt Tote zurückholen!«

»Nein!« Vittorios Stimme unterbrach ihn sanft, aber bestimmt. »Nein, das können wir nicht. Die Toten gehören der Welt der Schatten. Wir haben keine Möglichkeit, sie von dort zurückzuholen. Ich weiß sehr wohl, was du gerade denkst. Doch deine Lieben haben ihren Frieden gefunden. Das solltest du auch tun. Lass sie los, Angel!«

Enttäuscht sank Angel zurück in die Kissen.

»Nun komm schon. Du lebst!« Reynas Augen wanderten ein wenig hilflos von Angel zu Vittorio.

Der war nachdenklich und ruhig. »Angel, hast du Angst vor uns? Fürchtest du dich?«

»Nein, ich bin selbst etwas verwundert, aber ich verspüre keine Furcht vor euch.« Angel zuckte müde mit den Schultern. »Meine Familie ist verloren, mein Leben ohne Sinn. Mir ist alles einerlei geworden.«

»Keinesfalls. Das ist es dir nicht. Das soll es auch gar nicht. Der Grund dafür, dass du keine Angst verspürst ist der, dass du nun einer von uns bist.«

»Wieso?«

Vittorio seufzte leise. «Du warst tatsächlich tödlich verwundet, du hattest die Pest im Leib. Was denkst du, wie wir dich gerettet haben?«

Langsam begriff Angel. »Ihr habt mich zu einem Wesen der Nacht gemacht? Wie?«

»Wir haben dir unser Blut gegeben und dir dein vergiftetes ausgesaugt. Du warst stark genug, um die Prozedur zu überstehen. Deine Narben heilten in nur einem Tag, dein Körper hat sich in unglaublicher Zeit hervorragend erholt. Angel, du bist mir fast ein wenig unheimlich.«

»Ich? Euch? Warum?«

»So wie du ausgesehen hast, rechnete ich mit mindestens drei Tagen und Nächten. Du aber hast uns alle eines Besseren belehrt. Ich glaube, du bist etwas Besonderes, selbst für unsere Verhältnisse, doch das muss ich noch herausfinden. Für den Augenblick aber hätte ich gern, dass du dich und dein neues Leben kennenlernst. Wenn du dich gut genug fühlst, steh auf und sieh dich an.« Vittorio erhob sich und trat beiseite.

Auch Reyna beeilte sich, vom Bett wegzukommen und Etna, der noch kein Wort gesprochen hatte, grinste nur leise in sich hinein.

»Gut, wenn Ihr meint.« Angel wollte gerade die Decke von sich werfen, als ihm etwas bewusst wurde. »Verzeiht, aber ich glaube, ich bin nackt.«

»Schade, er hat es bemerkt!«

»Reyna, schäm dich!« Vittorio versuchte ernst zu klingen, doch angesichts des enttäuschten Gesichtes der Frau misslang ihm dies. Er wandte sich zu Etna und dieser zauberte hinter seinem Rücken eine Art leinenen Wickelrock hervor, den er Angel lächelnd reichte. »Hier, das ist bequem und geht schnell.«

Vittorio wandte sich dezent um und drehte auch die leicht widerstrebende Reyna in die andere Richtung. Eilig glitt Angel aus dem Bett und band sich das seltsame Kleidungsstück um die Hüften. »Ich denke, ihr könnt euch wieder umdrehen.«

»Gut, komm mit.« Vittorio führte Angel quer durch den Raum zu einem riesigen Spiegel, der gut verborgen hinter einem roten Samtvorhang lag. »Reyna, Etna, Kerzen bitte, es ist dunkel, noch braucht er Licht.«

Und dann sah Angel im Schein der aufflammenden Kerzen zum allerersten Mal voll ungläubigen Erstaunens sein neues Ich. Wie Vittorio ihm gesagt hatte, verunzierte keine einzige Narbe seinen Körper. Er war immer schon muskulös gewesen, doch nun traten seine Muskelstränge so perfekt hervor, als seien sie von einem Bildhauer modelliert worden. Seine zuvor gebräunte Haut war etwas heller, aber vollkommen makellos, sein langes dunkelbraunes Haar fiel in weichen Locken bis über seine Schultern.

»Wie habt ihr das gemacht? Ich sehe aus, als wäre mir nie etwas zugestoßen. Mein Körper, wie kann so etwas sein?« Angel wandte sich fragend an Vittorio.

»Unser Blut heilt alles, was an Krankheit oder Verfall in dir steckte. So sehen Wesen aus, die gänzlich gesund sind. Du bist jetzt körperlich so gut wie vollkommen. Was du aus deinem Geist machst, das musst du selbst wissen. Ich bin mir sicher, du bringst beides perfekt in Einklang.«

Als Angel daraufhin zaghaft lächelte, erblickte er in seinem Mund die leuchtend weißen Eckzähne, die er zuvor mit ein wenig Furcht bereits bei Reyna gesehen hatte.

»Ich bin also ein Rabe Kastiliens. Ob ich mich daran gewöhnen werde?« Zweifelnd sah er Vittorio an.

»Das hast du schon, glaub mir, das hast du schon. Und nun komm mit uns in den Salon. Ich will dir die Geschichte der Kinder der Dunkelheit, wie wir eigentlich heißen, erzählen. Das ist eine lange Geschichte, dazu würde ich gern sitzen. Für den Augenblick möchte ich einfach nur sagen: Willkommen in deinem neuen Leben!«

Noch einmal sah Angel neugierig in den Spiegel. Der Anblick des großen, vor Kraft strotzenden Mannes hatte sich nicht verändert. Er fühlte sich wohl und er fühlte auch, dass er dieses neue Leben mögen würde. Eines wusste er aber auch mit tödlicher Gewissheit – dass er noch etwas erledigen musste. Oder besser – jemanden!

Die Raben Kastiliens

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