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Die Entkolonialisierung von Sprache

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In den 1990er Jahren arbeitete ich als Redakteur in der Nachrichtenredaktion der Frankfurter Rundschau. Zu meinen thematischen Zuständigkeitsbereichen gehörten die indigenen Völker. Ich legte Wert darauf, dass in der Zeitung durchgehend einige Regeln für den Sprachgebrauch eingehalten werden. Es sollte keine Stämme mehr geben, sondern nur noch Völker, indigene Gemeinden oder Nationen. Ich wollte auch keine Reservate mehr sehen, die der Duden in erster Linie als »Freigehege für gefährdete Tierarten« definiert, sondern allenfalls Reservationen, laut Duden ein »den Indianern vorbehaltenes Gebiet in Nordamerika«. Dass das nicht ganz durchzuhalten ist, lernte ich erst in Kanada, als mir bewusst wurde, dass hier bis heute von »reserve« die Rede ist, in den USA überwiegend von »reservation«. Und ich bat darum, auf Stereotype und Klischees wie Friedenspfeife und Kriegsbeil zu verzichten. Aber wie steht es um die Bezeichnungen für die indigenen Völker? »Begriffe sind ein Minenfeld. Man kann sehr schnell verletzen, wenn man unsensibel mit der Sprache umgeht«, unterstreicht Professor Hartmut Lutz.

Im Herbst 2019 traf ich in der Kleinstadt Osoyoos im Okanagan-Tal von British Columbia Clarence Louie, den Chief der »Osoyoos Indian Band«. Wir trafen uns auf der Terrasse von Nk’mip, des ersten Weinguts in Nordamerika, das im Besitz einer First Nation ist. Chief Louie trug eine schwarze Lederjacke mit mehreren Logos von »Indian Motorcycle« und an seiner linken Hand einen Ring mit dem Schriftzug »Indian«. Ich sprach ihn darauf an und fragte ihn, ob ich ihn »Indian«, also »Indianer« nennen darf. Seine Antwort war klar: »I am an Indian.« Und dann fügte er hinzu: »Ich wurde unter dem Indian Act geboren und lebe unter dem Indian Act. Ich mag die Begriffe indigen oder aboriginal nicht.«

Das für die Ureinwohnervölker zuständige Ministerium hieß bis vor wenigen Jahren »Department of Indian Affairs and Northern Development«, wurde dann zu »Aboriginal Affairs and Northern Development«, bevor es unter Justin Trudeau in »Indigenous and Northern Affairs« umbenannt wurde. Inzwischen wurde das Ministerium geteilt: in das Ministerium »Indigenous Services«, das die Leistungen des Staates für die indigenen Völker und speziell die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zum Mandat hat, und das Ministerium »Crown-Indigenous Relations and Northern Affairs«, das die Beziehungen zwischen dem kanadischen Staat und den indigenen Völkern als Schwerpunkt seiner Arbeit sieht.

Die Änderung der Nomenklatur zeigt, wie sich Sprachgebrauch verändert. Die »Assembly of First Nations« hieß in den 1980er Jahren noch »National Indian Brotherhood«. Ein Grundsatzpapier zur Bildungspolitik aus dem Jahr 1972 hatte den Titel »Indian Control of Indian Education«. Mittlerweile wird der Begriff »Indian« nur noch in Ausnahmefällen verwendet. Gängig ist in Kanada First Nations. Allerdings gibt es weiter Organisationen wie die »Saskatchewan Indian Gaming Authority«, die sich aber meist unter dem Kürzel SIAG präsentiert und auf ihrer Website von First Nations spricht. In den USA führen aber die großen Verbände »National Congress of American Indians« (NCAI) und »American Indian Movement« (AIM) weiterhin »Indian« in ihren Namen.

Dass Chief Clarence Louie kein Problem mit dem Begriff »Indian« hat, ist ein interessanter Aspekt, der mich aber nicht dazu veranlassen kann, ihn durchgehend zu verwenden. Denn ich weiß, dass es viele gibt, die nicht als »Indians« bezeichnet werden wollen. Für den deutschen Sprachgebrauch ist das nicht einfach, da First Nations als Begriff dort nicht verankert und nicht allgemein bekannt ist, während mit »Indianer« jeder etwas anfangen kann. Ihren Ursprung hat die Bezeichnung »Indianer« in der Reise von Christoph Kolumbus, der einen Seeweg nach Indien finden wollte und glaubte, ihn gefunden zu haben. Ich spreche in diesem Buch überwiegend von den First Nations. Schwierig wird es, wenn über einzelne Personen oder Gruppen gesprochen wird: First Nations people, wie es im Englischen oft heißt, lässt sich wohl schwer als First-Nations-Leute oder First-Nations-Menschen übersetzen und in einem Text verwenden. Ein Hilfskonstrukt, wenn auch unbefriedigend, ist die Verwendung »indianische Völker« und »indianische Führungspersonen«. »Ureinwohner« halte ich für akzeptabel, »Eingeborene« aber überhaupt nicht. Die Begriffe »indigene Völker«, »first peoples« oder »erste Völker« umfassen First Nations, Métis und Inuit. Und ich möchte bei »Reservation« oder »reserve« bleiben und auf »Reservat« verzichten.

Gregory Younging von der Opsakwayak-Cree-Nation in Ontario, Schriftsteller und Lehrbeauftragter der University of British Columbia, spricht in seinem Buch Elements of Indigenous Style von der Notwendigkeit der Entkolonialisierung der Sprache.24 Er empfiehlt, den Vorschlägen der indigenen Völker zu folgen und Lesern in einem Vorwort oder in Fußnoten zu erklären, warum man sich für diesen oder jenen Begriff entschieden hat. So sieht er den Begriff »band« für eine First Nation als problematisch an, weil dieses Wort nicht die Strukturen, Geschichte, territorialen Ansprüche und Identität widerspiegele, wie sie der Begriff Nation enthalte. Dennoch sei es manchmal unumgänglich, diesen Begriff zu verwenden, weil er Teil des kolonialistischen »Indian Act« Kanadas sei.

Die Métis sind Métis, nicht »Mestizen« oder »Halbblut«, auch wenn sie ihre Wurzeln in zwei verschiedenen Ethnien haben. Eindeutig ist es auch beim Begriff »Eskimo«. Er ist in Kanada völlig verpönt. Die Menschen der Arktis sind die Inuit. Mit Inuit, was in ihrer Sprache Inuktut Menschen oder Volk heißt, drücken sie ihre Identität und Geschichte aus. Der »Inuit Circumpolar Council«, die Interessenvertretung der rund 160 000 Inuit Grönlands, Kanadas, der USA und der Tschuktschen-Region im äußersten Nordosten Russlands, verabschiedete 2010 eine Resolution, in der Wissenschaft, Forschung und Politik aufgefordert werden, in Publikationen durchgehend den Begriff Inuit zu verwenden, weil »Eskimo« kein Begriff aus der Inuit-Sprache sei.25

Gregory Younging bringt in seinem Werk weitere Beispiele. Er empfiehlt, im Zusammenhang mit Landrechten indigener Völker nicht von »land claim«, also Landanspruch zu sprechen, den man reklamieren muss, sondern von »land title«, einem Landtitel im Sinne eines bestehenden und unumstößlichen Rechtsanspruchs. Auch die AFN spricht durchgängig von »title and rights«, nicht von »claims«. Ich bezeichne die Führungspersonen der First Nations als Chief, nicht als Häuptling, und den Vorsitzenden der AFN als National Chief, denn dies ist sein Titel. Ich nenne die angesehenen, erfahrenen, älteren Gemeindemitglieder »Elders«, die Älteren. Es ist ein Ehrentitel, den ihre Gemeinden ihnen verliehen haben.

Über den Buchtitel haben der Verlag und ich lange nachgedacht. Die erste Idee war Kanada und seine indigenen Völker oder Die indigenen Völker Kanadas. Aber dies klingt besitzergreifend, als »gehörten« diese Völker Kanada. Die First Nations definieren ihr Verhältnis zum kanadischen Staat aber als Beziehung von Nation zu Nation. So entschieden wir uns für Indigene Völker in Kanada. Wir blicken auf die indigenen Völker, die im heutigen Kanada leben, die First Nations, die Métis und die Inuit, auf ihre reiche Geschichte und ihren Beitrag zu Kanada. Ich versuche in diesem Buch dem Anspruch gerecht zu werden, eine korrekte, nicht kolonialistische Sprache zu verwenden. Ich hoffe, das ist mir gelungen.

Indigene Völker in Kanada

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