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Reconciliation – Heilen und respektvolles Miteinander

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»Reconciliation«, Versöhnung oder Aussöhnung, ist ein zentraler Begriff in der kanadischen Politik, wenn es um die Beziehungen zwischen der nichtindigenen und der indigenen Bevölkerung geht. Er fehlt in keiner Rede, in keinem Dokument, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Diese Bedeutung hat »Reconciliation« aber erst in den vergangenen Jahren erlangt. Nach der Oka-Krise von 19903 war eine Untersuchungskommission, die »Royal Commission on Aboriginal Peoples«, eingesetzt worden. Als sie 1996 ihren mehrbändigen, 3500 Seiten langen Bericht über die kritische Lage der indigenen Völker Kanadas vorlegte – damals hieß es »aboriginal peoples« –, tauchte der Begriff »Reconciliation« noch nicht auf, weder im Vorwort des zusammenfassenden Bandes noch im Schlusswort, das eine Beschreibung des Wegs in den kommenden 20 Jahren enthielt. Festgehalten wurden aber die Bedingungen für eine »faire und auf gegenseitiger Achtung beruhende Beziehung« zwischen indigener und nichtindigener Bevölkerung, die Beendigung kolonialistischer Politik und die Notwendigkeit, dass Kanada akzeptiert, dass die indigenen Völker »Nationen« sind: dass sie politische und kulturelle Gruppen mit Werten und Lebensstil sind, die sich von denen der anderen Kanadier unterscheiden. Dabei wird »Nation« nicht im Sinne eines Nationalstaates gesehen, der Unabhängigkeit von Kanada sucht, sondern als Einheit mit eigener Geschichte und dem Recht zur Selbstregierung in Partnerschaft mit Kanada.4

Zwei Jahre später, am 7. Januar 1998, legte die kanadische Regierung das Dokument »Gathering Strength – Canada’s Aboriginal Action Plan« mit einem »Statement of Reconciliation« vor.5 Zentraler Punkt der Versöhnungserklärung war das Eingeständnis, dass Kinder der indigenen Völker in den vom Staat errichteten Residential Schools, Internaten fernab der Reservationen, körperlicher Gewalt bis hin zum sexuellen Missbrauch ausgesetzt waren. Die Residential Schools gehören zu den dunkelsten Kapiteln kanadischer Geschichte.

Spätestens seit Veröffentlichung der Versöhnungserklärung ist »Reconciliation« ein Begriff des politischen Diskurses und des politischen Handelns. 2008 sprach der konservative Premierminister Stephen Harper im Parlament für die Regierung und das kanadische Volk eine formelle Entschuldigung aus.6 2009 nahm die »Truth and Reconciliation Commission« unter Vorsitz von Richter Murray Sinclair aus dem Volk der Ojibwe ihre Arbeit auf. Sie hatte das Mandat, »die Kanadier durch die schwierige Entdeckung der Fakten hinter dem System der Residential Schools zu leiten« und zudem die Grundlage für eine dauerhafte Versöhnung in ganz Kanada zu schaffen.7 Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hörte die Überlebenden, die »survivors«, des Residential-School-Systems an und veröffentlichte 2015 ihren Bericht, in dem sie das System und die staatliche Politik gegenüber den indigenen Völkern als »kulturellen Genozid« bezeichnet.

»Die Wahrheit aufzudecken, war schwer. Zur Versöhnung zu kommen, wird schwerer«, stellt die Kommission fest.8 Reconciliation – ich möchte so oft wie möglich diesen englischsprachigen Begriff verwenden und schreibe ihn deshalb ab sofort ohne Anführungszeichen – bedeutet, die Ereignisse der Vergangenheit zu begreifen, sich dieser Vergangenheit bewusst zu werden und eine Beziehung zu schaffen, die von Respekt gekennzeichnet ist. Nach dem Bericht der »Royal Commission on Aboriginal Peoples« von 1996 hat Kanada nach Ansicht der »Truth and Reconciliation Commission« nun eine zweite Chance zur Reconciliation.

Dies bedeutet zunächst, dass den indigenen Gemeinden, den Familien und Einzelpersonen im Heilungsprozess geholfen wird, das Trauma der Residential Schools und der destruktiven Folgen kolonialer Politik zu überwinden. Die kanadische Gesellschaft muss sich verändern, damit beide Seiten in Würde und gegenseitiger Achtung zusammenleben können. Sie müssen ihre jeweilige Geschichte kennen und an den Schulen lehren. Die Beziehungen zwischen den Regierungen des Bundes und der Provinzen zu den indigenen Völkern müssen sich ändern: Der paternalistische, bevormundende Ansatz des kanadischen Staates, der meint, für die Betroffenen handeln zu müssen statt mit ihnen, muss der Vergangenheit angehören. Selbstverwaltung, Selbstregierung und Selbstbestimmung der indigenen Völker müssen gestärkt werden. Dazu gehören Gesetze, die gemeinsam ausgearbeitet werden, wie etwa die im Sommer 2019 beschlossenen Gesetze über den Schutz und die Stärkung der indigenen Sprachen oder die Übernahme der Jugendfürsorge durch indigene Gemeinden und Organisationen. Und dazu gehören Verträge, die die First Nations, die Inuit und Métis mit den Regierungen schließen und die frühere Verträge aktualisieren, ergänzen oder komplett ersetzen und die Selbstbestimmung stärken. Das von Gerichten vielfach anerkannte Recht der indigenen Völker auf Mitbestimmung bei der Nutzung und Ausbeutung ihres traditionellen Siedlungsgebiets, die Anerkennung, dass es das Land der indigenen Völker ist, wenn es nicht durch faire, bindende Verträge übertragen wurde, muss gängige Praxis werden. Der Konflikt um die Erdgaspipeline auf dem Gebiet der Wet’suwet’en im Februar 2020 zeigt, dass es hier noch Defizite gibt.

Vor allem bedeutet Reconciliation, dass das Vertrauen, das über mehr als 150 Jahre hinweg völlig zerstört wurde, wiederhergestellt wird. Vertrauensvolle, respektvolle Beziehungen bedeuten darüber hinaus, dass indigenes Recht und indigene rechtliche Traditionen etwa bei der Entscheidungsfindung und im Justizsystem anerkannt werden. Dies ist ein schweres Unterfangen angesichts der Unterschiede in Entscheidungsprozessen und im Verständnis von Konsultation und Zustimmung. Kompetenzen müssen neu abgesteckt werden. Für den Staat und die Bürokratie ist dies eine Herausforderung. Ultimaten und Drohungen, das zeigte der Wet’suwet’en-Konflikt, helfen nicht.

»Reconciliation bietet einen neuen Weg des Zusammenlebens«, stellt die Wahrheits- und Versöhnungskommission fest. Steven Point, der frühere Grand Chief des »Stó:lō Tribal Council«, eines Stammestribunals, und Lieutenant-Governor9 von British Columbia, sagte in einer Anhörung: »Ich werde weiter über Versöhnung sprechen. Aber es ist ebenso wichtig, den Heilungsprozess in unserem Volk zu fördern, sodass unsere Kinder diese Schmerzen nicht mehr erleiden, dass wir diese Zerstörung vermeiden und am Ende unseren berechtigten Platz in diesem ›unserem Kanada‹ einnehmen.«10 Reconciliation, Versöhnung und Verständigung brauchen Zeit.

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