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Wider die »Doktrin der Entdeckung«

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Tatsächlich kann die Landkarte von Nordamerika – mit einigen künstlerischen Freiheiten – leicht als Schildkröte gezeichnet werden. Auf Turtle Island leben die indigenen Völker »since time immemorial«, seit Urzeiten, wie die indianischen Völker Kanadas und der USA, aber auch die Inuit erklären.4 Für die im ausgehenden 15. Jahrhundert und im 16. Jahrhundert in Amerika ankommenden Europäer aber war es ein leeres Land, das in Besitz genommen werden konnte. Die europäischen Monarchien hatten die »Doctrine of Discovery« als ein Rechtsinstrument entwickelt, das die Kolonialisierung von »nicht christlichem« Land außerhalb Europas rechtfertigte. Die Doktrin wurde 1493 etabliert und bedeutete, dass Land, das als »leer« und nicht bewohnt galt, nun als »entdeckt« bezeichnet und dem Herrschaftsbereich des jeweiligen Monarchen zugeschlagen werden konnte. Es war die Vorstellung einer »terra nullius«, und indigene Völker galten, weil sie nicht christlich waren, nicht als menschliche Bewohner des Gebiets. Doktrinen des Beherrschens und Eroberns bildeten die Grundlage für Landraub und Missachtung indigener Rechte und Kulturen.

Bewusst wurde mir die aus Sicht der Ureinwohnervölker verheerende Wirkung dieser Discovery- und Terra-nullius-Doktrin in einer Diskussion auf der »Special Chiefs Assembly« der AFN im Dezember 2019 in Ottawa. Dort wurde über die »United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples« (UNDRIP) und das bahnbrechende Gesetz der kanadischen Provinz British Columbia diskutiert, mit dem diese Provinz die UN-Deklaration in ihr Recht überführte und dadurch sicherstellen will, dass bei allen Gesetzgebungsvorhaben diese UN-Deklaration berücksichtigt wird. Die UN-Deklaration und das Gesetz von British Columbia erklären Doktrinen und Politiken, die auf einer vermeintlichen Überlegenheit einer Rasse oder Religion basieren, für »rassistisch, wissenschaftlich falsch, rechtlich ungültig, moralisch verwerflich und sozial ungerecht«.5

Angesichts dieser Doktrinen ist es nicht verwunderlich, dass die europäisch geprägte Geschichtsschreibung Nordamerikas meist mit der sogenannten Entdeckung durch Christoph Kolumbus beginnt, manchmal auch mit der Besiedlung Grönlands und Neufundlands durch die Wikinger im 10. Jahrhundert. Die Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas in der Zeit vor den Kontakten mit den Europäern – die »pre-contact era« oder präkolumbische Ära – blieb weitgehend unbeachtet. Nordamerika schien aus dieser Perspektive ein geschichtsloser Kontinent zu sein.6 Es existieren aus der vorkolumbischen Zeit aus den Gebieten der heutigen Staaten Kanada und USA keine traditionellen schriftlichen Zeugnisse, aber Felsmalereien und Felsgravierungen. Die Anerkennung mündlicher Überlieferungen als historisch wertvolle und sichere Zeugnisse vollzog sich erst in der jüngsten Vergangenheit.

So konnte es zu absurden Spekulationen über die Herkunft der indigenen Völker kommen. 1978 stieß ich auf der »Regina Fair«, einer Messe in Saskatchewans Hauptstadt Regina, an einem Bücherstand auf ein Buch, das auf dem Deckblatt einen Indianer in Federschmuck zeigte. Ich kam mit den Verkäufern ins Gespräch, und diese erklärten mir, dass »die Indianer« von einem der verlorenen Stämme Israels abstammten. Das genügte mir, höflich dankte ich für das Gespräch und zog weiter. In manchen Narrativen waren die ersten Bewohner Nordamerikas Flüchtlinge aus der untergegangenen Stadt Atlantis. Diese »abwegigen und offenkundig rassistischen« Ansichten wurden oft benutzt, um die Zerstörung oder Vertreibung der indigenen Amerikaner zu begründen, heißt es in der Encyclopedia Britannica.7 Auf die Idee, dass »die Indianer« ihren Ursprung vielleicht gar nicht in Europa oder Asien haben, sondern sich wie in anderen Regionen der Welt in Amerika ein Homo sapiens entwickelt haben könnte, dass sie vielleicht nicht aus der »Alten Welt« kommen, sondern umgekehrt Europa besiedelt hatten, stand außerhalb jeder Überlegung. Oder wie der deutsche Schriftsteller C. W. Ceram offenbar sarkastisch anmerkt: »Um solch hanebüchenen Gedanken zu fassen, war jedoch die Arroganz der Europäer viel zu groß.«8 Bis heute lehnen viele Indigene die Beringstraßentheorie als letztlich eurozentrisch ab, da auch sie davon ausgeht, Menschen seien in die Amerikas eingewandert – wie später die europäischen Siedler. Der Lakota Protestsänger Floyd Westerman sagte schon 1978 bei Auftritten in Deutschland: »Die Archäologen sagen, wir sind über die Beringstraße nach Amerika eingewandert, und sie finden unsere Fußspuren in Alaska, und ihre Funde werden älter und älter. Eines Tages werden sie zugeben müssen, dass wir über die Beringstraße rückwärts gegangen sind!« Der Historiker Robert Marks hat die eurozentrische Geschichtsschreibung so zusammengefasst: »Die eurozentrische Weltsicht betrachtet Europa als den einzig aktiven Gestalter der Weltgeschichte, gewissermaßen als ihren ›Urquell‹. Europa handelt, während der Rest der Welt gehorcht. Europa hat gestaltende Kraft, der Rest der Welt ist passiv. Europa macht Geschichte, der Rest der Welt besitzt keine, bis er mit Europa in Kontakt tritt.«9

Heute bilden Kenntnisse über den Ablauf von Eiszeiten, archäologische Funde, Gravierungen in Felsen, sogenannte Petroglyphen, Felsmalereien sowie DNA-Analysen die Grundlage unseres Wissens über die Besiedlung des Nordens des amerikanischen Doppelkontinents. Dieser war die letzte große Landmasse, die von Menschen besiedelt wurde. Über die Landbrücke Beringia, das Gebiet der heutigen Beringstraße zwischen Asien und Amerika, wanderten Menschen aus Eurasien kommend nach Amerika ein.10 Dies geschah vor 16 000 bis 12 000 Jahren. Immer wieder werden wir gezwungen, unsere Geschichtsschreibung zu ändern, wenn neue Entdeckungen neues Licht auf diese vergangenen Zeiten werfen – wie etwa Funde auf Calvert Island in British Columbia.

Indigene Völker in Kanada

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