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Als Kolumbus kam

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Wie groß die indianische Bevölkerung Nordamerikas – und wir beschränken uns jetzt auf die heutigen USA und Kanada – zur Zeit der Ankunft der Europäer Ende des 15. Jahrhunderts war, lässt sich nur schwer ermitteln. Die Schätzungen gehen weit auseinander. Sie reichen von rund einer Million bis zu 18 Millionen. Die erste eingehendere Untersuchung nahm 1910 der Anthropologe James Mooney vor, der Berichte über die einzelnen Kulturräume, ihre mögliche Bevölkerungsdichte und ihre Subsistenzwirtschaft analysierte und auf eine Bevölkerung von etwa 1,115 Millionen Menschen kam. Eine noch niedrigere Zahl errechnete Alfred Louis Kroeber, ein weiterer einflussreicher US-Anthropologe: Er überprüfte Mooneys Ansatz und befand, dass damals etwa 900 000 Menschen in Nordamerika lebten.21

Aufsehen erregte dann der Ethnohistoriker Henry Dobyns, als er 1966 die Bevölkerung nördlich des Rio Grande, des Grenzflusses zwischen den USA und Mexiko, auf 9,8 Millionen bis 12,2 Millionen Menschen schätzte. 1983 korrigierte er diese Zahl sogar nach oben: Bis zu 18 Millionen Menschen lebten nach seinen Berechnungen Ende des 15. Jahrhunderts in Nordamerika. Diese hohen Zahlen beruhen auf einem völlig anderen Ansatz als dem von Mooney und Kroeber. Dobyns gehörte zu den ersten Wissenschaftlern, die die Auswirkungen von Epidemien auf die Bevölkerungsentwicklung indigener Völker untersuchten. Er studierte die Folgen von Epidemien wie Pocken und Lungenentzündung im 19. Jahrhundert mit Mortalitätsraten bis zu 95 Prozent und nutzte seine darauf beruhenden Erkentnnisse, um frühere Bevölkerungsdichten zu ermitteln.22

Falls Dobyns Berechnungen stimmen sollten, dann lebten in der westlichen Hemisphäre vor dem Eintreffen der Europäer zwischen 90 Millionen und 112 Millionen Menschen. Das würde bedeuten, wie Charles Mann in einem 2002 erschienenen Aufsatz in der Zeitschrift The Atlantic darlegt, dass damals mehr Menschen in den Amerikas als in Europa lebten. Dobyns Zahlen führten zu einem bis heute anhaltenden Streit unter Wissenschaftlern. Für den Historiker David Henige sind sie Hirngespinste.23 Er vertritt die Ansicht, dass die Datenbasis, auf der die hohen Bevölkerungszahlen beruhen, dünn und oft nachweisbar falsch sei. Es sei unmöglich, heute verlässliche Schätzungen über die indianische Bevölkerung zum Zeitpunkt des Kontakts mit den Europäern zu machen. Über Dobyns Arbeit urteilt Henige, dass sie schon 1966 suspekt gewesen und heute nicht weniger sei.24

Sind Dobyns Ideen tatsächlich politisch motiviert, um Anti-Amerikanismus zu fördern und die Zahl der Opfer imperialistischen Verhaltens der Eroberer des Kontinents hochzutreiben, wie manche Kritiker behaupten? Oder sind sie nicht doch eine korrekte Einschätzung, die Zeugnis davon ablegt, dass in den Amerikas einschließlich der heutigen Staaten USA und Kanada starke Völker lebten, die dadurch Rechte an diesem Land besaßen und bis heute besitzen? Eine Sichtweise, die »terra nullius« und die »Doktrin der Entdeckung« noch absurder machen würde, als sie ohnehin schon sind? Der Streit mag akademisch sein, aber er hat weitreichende politische Implikationen bis in die Gegenwart.

Indigene Völker in Kanada

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