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Versöhnung am Scheideweg Eine Zerreißprobe für die Politik des Ausgleichs
ОглавлениеBrennende Autoreifen, Holzpaletten, die in Flammen aufgehen, blockierte Eisenbahnlinien und Straßen: Im Februar 2020 beobachten die Kanadier mit Verwunderung, Überraschung, Entsetzen und Enttäuschung, dass die von Premierminister Justin Trudeau und seiner liberalen Regierung seit 2015 geförderte Versöhnung zwischen Kanadas nichtindigener und indigener Bevölkerung noch lange nicht erreicht ist. Der Konflikt um den Bau einer Erdgaspipeline auf dem Territorium des Volks der Wet’suwet’en in der westlichen Provinz British Columbia und die dadurch ausgelösten landesweiten Protestaktionen setzen eine Politik, die auf Ausgleich, Verständigung und respektvollen Umgang miteinander baut, einer Zerreißprobe aus. Als zwischen Toronto und Kingston die Polizei auf dem Territorium Tyendinaga der Mohawk die Blockade einer der wichtigsten Eisenbahnlinien des Landes räumt und einige Demonstranten vorübergehend festnimmt, sind Plakate zu sehen, die postulieren: »Reconciliation is dead!« – Die Versöhnung ist tot. In Kanadas Hauptstadt Ottawa ziehen Demonstranten mit Mohawk-Flaggen, Trommeln und Gesang vor das Parlament. Sie fordern, dass sich die Polizei aus dem Territorium der First Nations zurückziehen müsse.
Den Bemühungen, Vertrauen zwischen dem kanadischen Staat und den indigenen Völkern aufzubauen, droht in den ersten Monaten des Jahres 2020 ein erheblicher Rückschlag, trotz der ebenfalls zu hörenden Parolen »Reconciliation is alive« – Die Versöhnung lebt weiter. Nach Jahren des feierlich beschworenen Wegs zur Aussöhnung und vielen kleinen und größeren Erfolgen auf diesem Pfad – der langsamen Verbesserung der Lebensverhältnisse in Reservationen und abgelegenen Gemeinden der indigenen Völker und der Anerkennung ihrer Rechte – muss die kanadische Mehrheitsgesellschaft erleben, dass eine gleichberechtigte und respektvolle Koexistenz mit den indianischen Völkern, den First Nations, und den Inuit und Métis offenbar noch in weiter Ferne liegt. Wird es gelingen, die Politik der Versöhnung fortzusetzen? Das Wort der »Truth and Reconciliation Commission« vom Herbst 2015, die Versöhnung stehe am Scheideweg – »Reconciliation at the crossroads«1 –, gewinnt unerwartete Aktualität.
Über mehrere Wochen zieht sich die Krise hin. Die Trudeau-Regierung widersetzt sich unverantwortlichen Forderungen unter anderem des konservativen Parteivorsitzenden Andrew Scheer, hart durchzugreifen. Trudeau will den Dialog: »Dies ist ein kritischer Moment für unser Land und unsere Zukunft. Es gibt keine Beziehung, die für mich und Kanada wichtiger ist als die Beziehungen zu den indigenen Völkern.« Perry Bellegarde, der National Chief und Vorsitzende des Dachverbands »Assembly of First Nations« (AFN), konstatiert: »Wir werden Versöhnung niemals durch Gewalt erreichen.«2
Ende Februar setzen sich die Hereditary Chiefs der Wet’suwet’en und die Bundes- und Provinzregierung schließlich an einen Tisch und handeln eine Vereinbarung aus, die den Weg für eine Beendigung der Blockaden und eine friedliche Beilegung des Konflikts freimachen soll. Sie verständigen sich auf zügige Gespräche über die Rechte der Wet’suwet’en auf ihrem traditionellen Territorium, finden aber zunächst keine Lösung im Konflikt um die Pipeline, die offensichtlich von der Mehrheit der Wet’suwet’en abgelehnt wird, aber auch Unterstützer hat, selbst unter den Chiefs. Ein für Mitte März geplantes Treffen aller Chiefs der Wet’suwet’en zur Beilegung der Krise muss dann aber wegen einer anderen Krise, der Coronaviruspandemie, verschoben werden.
Als das Konzept für dieses Buch ausgearbeitet wurde, war die dramatische Entwicklung vom Januar und Februar 2020 nicht zu erwarten, aber sie rückte die fragilen Beziehungen zwischen beiden Seiten wieder in das Augenmerk nicht nur der Kanadier, sondern fand auch international Aufmerksamkeit. Das Buch soll einen Überblick über die indigenen Völker Kanadas geben, die First Nations, die Inuit und die Métis, ihre Geschichte und ihre Rolle und Position im heutigen Kanada. Vor allem geht es in diesem Buch um »Reconciliation«, um Versöhnung und Verständigung, die Auseinandersetzung mit dunklen Seiten kanadischer Geschichte und den Versuch, respektvolle Beziehungen aufzubauen. Ich möchte die Leser zu einigen Schauplätzen führen, anhand derer ich die »Geschichte« erzählen will. Viele dieser Schauplätze habe ich bei zwei Kanada-Reisen 1978 und 1982 und im Zuge meiner Korrespondententätigkeit in Kanada seit 1997 besucht und dabei viele interessante indigene und nichtindigene Gesprächspartner getroffen. Ich stütze mich auf aktuelle Recherchen und Quellen, aber auch auf nachrichtliche Texte, Features und Reportagen, die ich in den vergangenen 23 Jahren geschrieben habe. Ich werde meine Gesprächspartner ausführlich zu Wort kommen lassen, nicht nur in Fußnoten.