Читать книгу Indigene Völker in Kanada - Gerd Braune - Страница 11
Die Schildkröte im Weltenmeer Nordamerika, ein indigenes Territorium seit Urzeiten
ОглавлениеSky Woman lebte im Himmel, in der Welt der übernatürlichen Wesen. Sky Woman war schwanger. Eines Tages passte sie nicht auf. Durch ein Loch unter der Wurzel eines Baums stürzte sie nach unten zur Erde. Vögel fingen sie auf und setzten sie vorsichtig auf den Rücken einer Schildkröte, die im Ozean schwamm. Sie dankte den Tieren, die ihr geholfen hatten. Und sie halfen ihr noch mehr. Sie brachten Schlamm vom Meeresboden und setzten ihn an den Panzer der Schildkröte. Dieser wuchs und wurde zu einem neuen Land, auf dem Sky Woman und ihre Nachkommen leben konnten – Turtle Island, die Schildkröteninsel.1
In verschiedenen Märchen der Haudenosaunee, der Six-Nations- oder Irokesenkonföderation, beginnt die Geschichte der Erde auf diese Weise. Es gibt dazu Varianten. In den Legenden der Anishnabe, die auch unter dem Namen Algonquin bekannt sind, und Ojibwe fängt die Geschichte von Turtle Island mit der überfluteten Erde an. Der Schöpfer Kichi Manito hatte die Erde von streitsüchtigen Lebewesen gereinigt und einen Neuanfang gewagt. Es gab nur noch Nanabozo, das übernatürliche Lebewesen – bei den Anishnabe ist es Wisakedják, den Kichi Manito als seinen Sohn ansah –, und einige Tiere, die in einem Kanu die Flut überlebt hatten: Eistaucher, Bisam und Schildkröte. Nanabozo bat die Tiere, ihm bei der Schaffung der neuen Welt zu helfen. Nur dem Bisam gelang es, aus der Tiefe des Ozeans Schlamm zu holen. Nanabozo nahm den Schlamm und klebte ihn an den Panzer der Schildkröte. Die Erde wuchs. Interessante Parallelen zur biblischen Schöpfungsgeschichte und der Erzählung von Noah und seiner Arche sind erkennbar.2
Turtle Island – so nennen zahlreiche indigene Völker Nordamerikas, vor allem indianische Völker, ihren Kontinent. Sie sehen ihn als eine Einheit, die der Schöpfer ihnen gegeben hat. »Wir haben keine Grenzen geschaffen, keine Grenze zwischen den USA und Kanada, keine Grenze zwischen den Provinzen. Für uns ist es Turtle Island«, sagt Perry Bellegarde, National Chief der AFN. Die heutigen Grenzen Amerikas, zwischen Kanada und den USA oder zwischen den Provinzen Kanadas passen nicht zu den traditionellen Siedlungsgebieten der indigenen Völker. Die Grenzziehung zwischen den USA und Kanada entlang des 49. Breitengrads teilt das Gebiet der Blackfoot Confederacy, das sich über die kanadische Provinz Alberta und den US-Staat Montana erstreckt, und beeinträchtigt die »spirituellen, ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen« innerhalb der Konföderation.3 Das Territorium der Mohawk von Akwesasne liegt in den zu Kanada gehörenden östlichen Provinzen Ontario und Québec und im US-Staat New York, das Siedlungsgebiet der Okanagan Nation in British Columbia und im US-Staat Washington.
Als ich 1978 erstmals Nordamerika bereiste und mit indianischen Völkern in Kontakt kam, hörte ich von ihnen die Geschichten von der Schildkröte, und einer meiner Gesprächspartner erzählte mir: »Die Erde ist der Rücken der Schildkröte. Und die Schildkröte trägt die Erde durch das Weltenmeer.« Ich lernte, dass für die indianischen Völker Nordamerikas dieser Kontinent Turtle Island heißt.