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2.1.11 Bildung hat ein persönliches Profil

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Bildung ist ein fruchtbares Wissen dann, wenn es multiple Verweisungen erlaubt, die zum Nachdenken anregen und nicht nur "nützlich“ sind. Wobei Bewertungen eine Rolle spielen, die eine Kultur mit ihrer Tradition sich gegeben hat und denen gegenüber man Stellung beziehen kann. Das Tor gegen England in letzter Minute kann das nicht. Das ist einfach eine andre Art von Erleben. Der Abiturient hat ein Niveau von Allgemeinbildung erreicht, das es ihm erlaubt, einen sehr großen Teil der verabreichten Informationen wieder zu vergessen, als einer, der sich nicht geniert, wenn er sagt, das weiß ich nicht und ich will das auch nicht wissen. Schon das Baby-Gehirn praktiziert eben diese Strategie plastischen Abbaus unnötiger Synapsen und der Einrichtung neuer.

Informationen werden häufig mit Bildung in Beziehung gebracht, auch bei Adorno. Der Begriff Information, "Informiert sein ist alles", bezeichnet heute aber das, was man einem Computer über die Oberflächensprache bis in die Maschinensprache einfüttern kann. Mit dem Nürnberger Trichter gelingt sogar das serielle Upgrading. Es ist die Einheit "Bit", auf die man eine in der realen Welt plastische, lebendige Gestalt reduziert hat, wenn man letztlich bei ihrer binären Schrumpfversion landet. Mit einem grundsätzlichen Hunger nach Informationen für zu lösende Algorithmen hat Bildung, auch als Bildungshunger, wenig zu tun. Eher mit einer "Vorratsspeicherung" von Daten, falls dieser Begriff im uneigentlichen Sinn es hergibt, dass hier Vergangenes hoch eingeschätzt wird und abrufbereit sein soll. Sie ist eher und im Gegenteil ein ganzheitlich ausgerichtetes Verhalten, bei dem gerade Informationslücken nicht die Rolle spielen wie bei einem Ratequiz im Fernsehen. In den Naturwissenschaften kann man es sich nicht leisten, ein aufschlussreiches Experiment am anderen Ende der Welt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es zählt immer die Gegenwart, der aktuelle Stand der Dinge. Man jagt sich und man kann überholt werden. Im Wasser eines Brunnens gibt es keine Lücken, keine Unterschiede im Stufenniveau. Für die Bildung ist alles, woran man sich erinnert, aktuell, auch ein Liebesgedicht von vor 2000 Jahren. Sie ist nicht genau wie eine Struktur genau ist, sonst könnte man Bildung ja auswendig lernen. Insofern ist sie auch ein Wagnis. Aus Begeisterung und Fleiß weiß er alles über Troja 1 bis 9, über Homer also auch alles, über Vergil und die Aeneis aber schon recht wenig. Bei entspanntem Blick auf die soziale Wirklichkeit könnte man von einer Pluralisierung der Bildung sprechen. Unter Bienenzüchtern ist es dann ganz unmöglich, nicht einen Schwänzeltanz zu interpretieren. Wissen hat hier die Funktion von Bildung, erlaubt das Austapezieren einer gemeinsamen Welt und liefert den Vorwand für den Austausch all dessen, was noch zu ihnen gehört. Möglich wäre dann schon, zu ignorieren, ob Goethe, der Naturforscher, etwas über Bienen oder ein Gretchen geschrieben hat. Halbbildung, Bildungsprofil, Pluralisierung der Bildung sind Begriffe, die dem Inhalt von "Bildung" zu widersprechen scheinen. Wasser existiert in vier Aggregatzuständen, wird aber immer noch als Wasser gehandelt. Die genannten Begriffe drücken lediglich die Bereitschaft aus, das Element der Bildung, das auch in nicht ganzheitlichen Formen enthalten ist, ernst zu nehmen.

Man muss ja nicht wissen, was die Methode wirklich besagt, mit der der italienische Arzt und Kunsthistoriker Giovanni Morelli (gest. 1891) dafür eintrat, auch scheinbar Nebensächliches zum Gegenstand der Feinanalyse zu machen, etwa die Form der Ohren, der Fingernägel auf einem Bild. Sicherlich ist diese Erkenntnis eine Errungenschaft, die die Augen zu öffnen vermag. Aber was es heißt, Nuancen zu sehen und zu interpretieren, die ein Ganzes ausmachen, in der Kunst wie im Gesicht eines Gegenüber, in der politischen Rede wie im Beruf, hat viel mit Intuition und Bildung zu tun. Es gibt eben auch die Herzensbildung, die Bildung ohne Bücherwissen, die Bildung aus Gespräch und Beobachtung. Vieles davon ist der intuitiven Wahrnehmungsinterpretation zugänglich.

Dabei steht es schon in den Tageszeitungen, es gibt Qualitäten, die jeder braucht, der die Frage stellt "Was will ich eigentlich werden?" Vorbereitet wird sie ja immer in nächster Betroffenheit, ihre Konturen erhält sie durch distanzierte Betrachtung.

Abiturienten und ihre Eltern sollten sich nicht sorgen, ob der Arbeitsmarkt wartet, sondern fragen, was er erwartet. Womöglich nicht nur Tugenden wie Tempo, Fleiß und Disziplin, sondern auch die Fähigkeit, die Welt und die eigene Rolle darin aus anderen Perspektiven zu sehen, als nur der des Studierzimmers.

(Stefan Hupka, Der Sprint zur Uni ist nicht alles, BZ 18. Oktober 2012).

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