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3.2.2 Tanten beim Tee und dasselbe Bildungsbuch

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Während die Wissens- und Bildungsdaten sich unserem Aktualbewusstsein bei wachen Sinnen aufdrängen, sollten wir mit einer gewissen Achtsamkeit sehen, was wir wissen und behalten sollten als geistig-emotionaler Schatz ganz persönlicher Prägung. Wo ein gesellschaftlich verbindlicher Bildungskanon jedem sagt, wer Shakespeare ist und was er zwischen 1600 und 1601 getrieben hat, erzeugt er im Idealfall, dass in einer Gesprächsrunde alle vier Damen wissen, was 1600 war und nicht, was 1603 sich zutrug. Eine solche ideale Teerunde, deren Teilnehmer alle dasselbe Bildungsbuch gelesen haben, ist äußerst harmonisch. Je präziser das kanonische Drehbuch eingehalten wird von jedermann und je zuverlässiger, um so surrealer wird die Situation. Die Endstufe erreicht sie, wenn nur noch, wie bei den nummerierten Witzen, die Zahlen in den Raum geworfen werden müssen. Mit anderen Worten, ein Kanon hat leicht die Tendenz zum Sterilen, er blockiert die Freude an der persönlichen Interpretation. Bildung ist fruchtbar, erlaubt Nuancierung nach Geschmack, Situation und Laune. Eben auch schon bei der Wahl dessen, was man an sich herankommen lassen will.

Wer den Kanon als brauchbar empfand, die antike Rhetorik, verfolgte das Ziel, dem Redestil eines jeden angehenden Redners eine relativ einheitliche Form zu geben, weil unerwünschte Stilauswüchse oder Richtungen wie der Asianismus Konkurrenz machten, aber nicht dem akzeptierten oder gewollten Geschmack entsprachen. – Heute scheint es mehr zu bringen, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen, ohne jeden Leistungsdruck, das "unnütze" Wissen zusammenzutragen, das auch den persönlichen Stil beeinflusst. Wenn die Dinge dieser Welt auch noch ihre Möglichkeiten, Kontingenzen, beinhalten, kann uns nichts daran hindern, ihnen "Narrative", wie die Germanisten solche inhaltlich variabel kreisenden Geschichten nennen, die einfach nur möglich sind, zu unterlegen. An dem Stil, wie wir sie gestalten, kann man das erkennen, was eine Person ausmacht. Wenn wir einen Film sehen, in dem die Unterhaltungskünstlerin Lady Gaga in jedem Bild in einer anderen phantastischen Kostümierung auftritt, so sind das unendliche Kontingenzen im surrealistischen Bereich. Kontingenzen können also auch Phantasie pur oder an die Realität gebunden sein. Goethes Bemerkung, der Tod sei „gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird“, thematisiert das bekannte Phänomen, dass der Mensch von Möglichkeiten weiß, die ihn betreffen, sie aber erfolgreich verdrängt. Nur so meint er zu klaren Entscheidungen zu kommen, ungestört, ohne Interferenzen ausfiltern zu müssen.

Aufmerksam schaut man, was man haben will, stellt Beziehungen her, erinnert sich hin und wieder. Wie soll jemand, der sein ewiges Leben hingeben würde für einen indonesischen Schrumpfkopf eines Kannibalen aus der Hand eines Kopfjägers und alles dazu weiß, sich einreden lassen, er sei ungebildet, weil er nicht den "Tigersprung nach Agadir" kennt. Beides ist fast gleich abwegig, aber was ist interessanter? Was ist da wohl interessanter, sogar abendfüllender. Eine geschlossene Gesellschaft findet nicht statt, in der Wissenslücken so blamabel sind, dass sie nicht ausgeglichen werden könnten. Wer einen einohrigen Maler nicht kennt, weiß vielleicht besser als andere, wieso der Begriff Neoliberalismus heute historisch falsch verwendet wird, sagte der Philosoph Feyerabend. Sogar die Chansonnière Juliette Greco hielt in einem im Fernsehen übertragenen Konzert in ihren älteren Jahren schon mal das Mikrofon in beiden Händen mit schmutzigen-schwarzen Rändern ihrer Fingernägel. Geht doch. Das "Il n'y a pas d'après" klingt umso authentischer mit dem Trauerrand verflossener Zeiten freier Studentenromantik, ist eine andere Möglichkeit als das bürgerliche gute Benehmen. Wir lassen Kontingenzen und das, was die Phantasie aus ihnen macht, sehr gerne gelten, weil sie, man kann sich fragen warum, das Faktische in interessanter Weise übersteigen.

Allgemeinbildung in der Akademischen Welt

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