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3.1.5 Transfer rationaler Strukturen

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Aufpassen muss man nur, damit nicht das für Gruppen typische Konvergenzverhalten falsche Ergebnisse als richtig vorspiegelt. Wenn politische Streitigkeiten geschlichtet werden, führt dieses Verhalten gerne zur Befriedung, weil Extrempositionen abgeschwächt und mittlere Positionen gestärkt werden. In der Gruppe, die man sich an der Universität zum Lernen sucht, kann sich Konvergenz unterhalb der Schwelle rationaler Urteilskraft einschleichen und nicht Zutreffendes als wahr gelten lassen. Wenn man kann, schätzt man die Lernbereitschaft der anderen vorher ab oder spricht offen darüber. Sind alle stärker als man selbst, oder sind alle sehr viel schwächer, sollte man sich darüber Gedanken machen. Wer in der Gruppe hängen bleibt bei einem bestimmten Problem, braucht sie nicht über Gebühr aufzuhalten und kann sich bei einem Kommilitonen oder bei einem Assistenten informieren. Wenn der schrecklich wenig Zeit hat, fragt man ihn, wann er Zeit hat oder ob man gleich seinen Chef sprechen könnte. Notfalls sucht man sich ein sogenanntes (süddeutsches) Käpsele, einen, der einfach immer alles weiß. Meistens hat der natürlich auch schrecklich wenig Zeit, dann winkt man mit positiven Sanktionen. Man kann ja mit Mon Chéri, Economy Size, anfangen und wenn das nicht so klappt, weiß man, warum die Italiener für jeden Käse die Tangente neu erfunden haben. Eine Pizza Margerita könnte man schon riskieren, wenn die Pizzeria gut ist und das zu lösende Problem schwierig. Außerdem muss man wissen, dass lange Literaturlisten nicht den Zweck verfolgen, abgearbeitet zu werden. Sie sollten vom Lehrstuhl kommentiert werden und lediglich Hinweise geben. Hängt man bei der Lektüre eines Fachbuchs fest, fragt man ebenfalls den Assistenten, ob er einen Text weiß, der einfacher ist und zu dem Niveau hinführt, auf dem man steckengeblieben ist. Schließlich sind Texte deswegen schwierig, nicht, weil man zu dumm ist, sondern weil man nicht auf sie vorbereitet ist. Dann stimmt eben der persönliche Lernanstieg, die Lernkurve nicht. Das gilt sogar für solche auf der ersten Seite mancher Tageszeitung, wo einem sachliche Überforderung schon einmal vorkommen kann. Und sogar fürs Kursbuch der deutschen Bundesbahn braucht man eine Einweisung. Wo es steil ist, baut man sich eben Treppen. Man muss lernen abzuschätzen, ob eine Passage, ein Kapitel, ein Buch wichtig ist. Wichtig für den roten Faden, für die Prüfung, für einen selbst. Die Zeitökonomie ist häufig ein strengeres Diktat als der Wunsch, alles über den Homo oeconomicus in der VWL oder bei Adorno zu erfahren oder über die Relativität der Zeit im Studium und im Universum. Es kann manchmal richtig weh tun, eine Frage nicht aus zeitlichen Gründen weiterverfolgen zu können.

"Rational" bedeutet immer nicht nur "kaltes" Rechnen, sondern auch "ernsthaft und objektiv". Hier gibt es nichts zu lachen, die emotionale Linie liegt bei null. Rationalität ist eine Kulturleistung, von der gemütvolle Menschen sagen, eine überflüssige. Da wir ihr aber verdanken, dass das Auto, das wir kaufen, erschwinglich ist und auch tatsächlich funktioniert, kommen wir nicht darum herum, zu begreifen, wie sie ein Teil unserer Kultur ist. Wer das weiss, ist einem großen Teil seiner Wissenschaft und ihrer Probleme gewachsen. Denn nicht nur die Produktion von Autos wird rational in allen Details, bis auf jede Schraube und die Plakatkosten an der Litfaßsäule kalkuliert, auch Forschung und Entwicklung, die Mittelvergabe für die Archäologen und die Konzeption von Curricula, nun ja, werden rational organisiert, so steht zu hoffen. Der Stahl ist kalt, wer ihn stößt, könnte erhitzt sein. "Rational" ist ein Wort aus der Kit-Box, über die immer noch verfügt werden muss. Diese Beobachtung zum obigen Begriff, der spätestens bei Horkheimer und Adorno zum Prügelknaben geworden ist, wird später noch einmal aufgenommen. Am Konstrukt der Rationalität kann man eine Analyse-Haltung trainieren, die sich im Transfer auf Fachwissenschaften überprüfen lässt. Im Konstrukt eines Computers wie Turing ihn konzipiert hat, können extreme Bedingungen eines Rechners durchgespielt werden.

Nicht unüblich ist der Gebrauch von "Struktur", die man in einem Problemfeld zu erkennen versucht, um sich dann an ihr abzuarbeiten. Sie ist geronnene Rationalität, in der nichts redundant und nichts zu wenig ist. Man sucht nach Ableitungen und Analogien, um differenziert mit ihr umzugehen. So wird zum Beispiel eine Finanzstruktur über ihre durchschaute Struktur zu einem veränderbaren Gegenstand, etwa für die EZB, deren Ziel die Stabilität des Euros ist.

Das Kriterium "rational" muss man einzusetzen wissen. Es schafft aus einem Gegenstand eine Welt, von der man wissen muss, ob man sie sich wünscht. Das Gegenteil ist nicht gleich "irrational", sondern etwa "literarisch", "poetisch". Das schließt nicht aus, dass in derartigen Texten nicht auch ein Kerngehalt enthalten ist, der völlig "rational" strukturiert ist. Die Psychologie der Märchen ist in diesem Sinne als rational interpretiert worden, zum Beispiel psycho-analytisch. Wenn die Satire von rosa Schweinchen berichtet, die Revolution machen, ist die ganze Bissigkeit des Textes und der Textinhalt selbst eine rationale Aussage. Selbst ein Traum, so behauptet die Psychologie, müsste einen rationalen Kern liefern.

Die Sexbrumme, der französische Käse und der Rotwein: Um einen geschäftlichen rationalen Kern herum gibt es bisweilen eine abstruse Satellitenwelt. Käse und Stubenfliegen, die ihn umkreisen, sind da surreal und haben trotzdem einen realen Kern.

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