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3.2.4 Praktische Orientierung

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Kindergarten, i-Männchen, Aufnahme in die Religionsgemeinschaft, Aufnahme in die höhere Schule, Hochschulreife: Zäsuren im sozialen Leben, die markiert werden. Das soziale und geistige Leben gleitet nicht homogen im Fluss der Jahre immer weiter plätschernd dahin, sondern erfährt Richtungswechsel, Schübe in neue Dimensionen und Anforderungen. Jeder Eintritt in eine noch so kleine Welt ist eine Herausforderung, die sich in Situationen zeigt, in den seelischen wie in den geistigen. Sie müssen bewältigt werden, wobei vorausgesetzt wird, dass die Neuorientierung nicht zu schwierig ist und mit einem aufmunternden Beistand auch glückt.

Wünsche und Bedenken, man weiß, wie sie sich anfühlen. Um die Realität eines "hochgezüchteten Forschungs- und Dienstleistungsbetriebes" sprich Universität, als Herausforderung oder als Objekt der Begierde wahrzunehmen, muss man sich auf einen dynamischen Prozess einlassen, den man sich in jedem Fall durchsichtiger wünscht als er sein kann. In der Schule lernen wir, wie der Lateiner sagt, für das Leben. Damit ist nicht gemeint, dass wir nie vergessen werden, was ein Gerundium Gerundivum (lat. Grammatikform), eines der Entzücken geliebter Lateinstunden, so zu leisten vermag. Damit ist auch nicht gemeint, an der Universität müsse es nur Stoffe geben, die sich einmal im Berufsleben als nützlich erweisen werden. Umgekehrt, es gibt Vortragsreihen im Rahmen eines Studium generale, die wertlos für jede Prüfung sind, aber zur geistigen Reifung beitragen. In diesem humanistischen Sinn muss pro vita discimus ja auch interpretiert werden.

Um die leichten Dinge doch noch schwierig zu machen: Es gibt Prüfungsstoffe, deren Nützlichkeit keinesfalls einleuchtet. Gescheite Vertreter des Faches Linguistik zum Beispiel, die von dem Fach immerhin leben, behaupten bisweilen, ihnen sei nicht im geringsten dessen Relevanz klar. Ein Philologe könne, wenn er eine Fremdsprache am Gymnasium unterrichtet, mit einem so schönen Begriff wie porte-manteau-Morphem und den meisten anderen gar nichts anfangen. Er behauptet schlicht, dass er gar nicht die Sprache erforschen will, das könne ein entsprechendes Institut viel besser. Ihm ergehe es wie demjenigen, der sich in sein Auto setzt und sich kein Gewissen daraus macht, was im Dunkeln rätselhafter Technik liegt, was zum Beispiel ein Verteilerfinger ist, was er tut und was er leistet. Was aber zählt, ist das Vertrauen, in einem nicht kalkulierbaren Terrain, den Sprachäußerungen, nicht den Weg zu verlieren, nicht verloren zu gehen, wenn man über die Funktionsfähigkeit eines Systems ausreichend verfügen will. Es ist anscheinend verführerisch, auch an der Universität, Stoffe, die es erlauben, mit reduzierter Komplexität effizient gelehrt zu werden, doch noch ein wenig beschwerlich aufzupeppen. Shakespeare ja, natürlich. Dialektgrenzen, Isoglossen, wo liegt die aufregende Beziehung zu Hamlet, Othello und selbst zu Shylock, der Englisch mit jiddischem Akzent spricht, einer nicht geographischen, sondern kulturspezifischen „Isoglosse“, die im Innern einer handelnden Person verankert ist und tatsächlich relevant ist. Die Vermutung ist nicht einmal boshaft zu nennen, auch an der Universität würde schon mal Arbeitsbeschaffung praktiziert, aus der dann leicht Arbeitstherapie für scharf fokussierte Begabungen wird. Aber auch in einer verunglimpften Lernmaschinerie scheint es sich zu ergeben, dass sich das Selbstvertrauen einstellt, das Leben "zu lernen indem man es tut", innerhalb schützender Hüllen, weiter unten genannt "Zwiebelschalen". Unser Leben hat ständig die Qualität, uns auf das weitere vorzubereiten. Auch, indem es Informationen vorenthält und schon deswegen das Extrapolieren einfordert. Man kann daraus ableiten, dass "Heiterkeit des Seins" nicht unmöglich ist; denn es gibt immer auch Sicherheiten, die dazu beitragen. Das präfigurative Element (das Leben entwickelt sich aus Bekanntem weiter) strukturiert aus der vergangen Zeit heraus das jeweils Neue. Ein Topos, den die Literatur immer wieder aufgegriffen hat. So, wie es den Schrecken des Nichts gibt, den horror vacui, so gibt es gewiss den Schrecken, wenn im Gehirn das Messie herrscht. Man muss lernen, das Neue so zu sortieren, dass einem eine klare Denkfähigkeit erhalten bleibt. Das ist eine ökonomische und eine psychologische Aufgabe, somit nur schwer zu leisten, da man dem Gedächtnis nicht sagen kann, das sollst du vergessen. Aber Ordnen durch Nachdenken müsste gehen.

Egal, ob kritische Verkehrssituation, Studentenkeller mit tobender Tanzfläche oder eine 6- seitige Speisekarte: Es ist der schnelle Überblick, der den Durchblick schafft und der besonders wertvoll ist, wenn er eine Orientierung in schwieriger Lage ermöglicht, und auch dann noch, wenn er nicht einmal genau ist. Über die Detailinformationen wird der Überblick ganzheitlich aufgebaut. Einmal aufgebaut, erlaubt er das Zurückstellen der Detail-Wahrnehmungen, eine enorme Entlastung, und bringt den Gewinn, sinnvoll handeln zu können. Dieses Schema gilt für das Studium und seine Planung. Für die Orientierung vor Ergreifen eines Berufs und im Beruf. Es ist das praktische Wissen, das im Handumdrehen zur Verfügung steht. Daher wird schon hier ausführlich darauf hingewiesen. Lebendig bleibt aber auch die kritische Haltung. Es ist die Frage, die man nie vergessen sollte: "Was soll das Ganze? Und was sagen mir die Einzelheiten" Wir haben einmal Motive, die wir kennen und wir haben Motive, die uns nicht bewusst sind aber später bewusst werden können. Wir sind froh, wenn wir sie begründen können; denn Sinnzusammenhänge können uns beflügeln, einfach alles klüger zu machen. Dann gibt es Fragen, die schon die ganze Menschheit liegen ließ, weil sie nicht zu beantworten sind. Aber je umfangreicher, je gehaltvoller Fragen nach einer Gesamtorientierung sind, umso weniger sind Antworten zu haben.

Wer später hier über Lucy liest, wird begreifen, dass unser Wahrnehmen im Detail und im Ganzen ein Lernprogramm war, das eine der ersten Erfindungen des Menschen auf dem Weg seiner geistigen Entwicklung notgedrungen sein musste und auch war. Von der ersten lichtempfindlichen Zelle als punktuelle Errungenschaft, die den Gesamtorganismus günstig steuert, zum Hominiden, der über Blickwendungen und die Wahrnehmung des Weißen in den Augen der Artgenossen das Bündeln von Aufmerksamkeit in seiner Horde erreicht, wenn diese Hypothese des Psychologen Michael Tomasello denn so stimmt, sind immer Kontexte angesprochen, in denen Detail und Überblick eine entscheidende Rolle spielen. Per Transfer werden sie zum Universalschlüssel, der das detailliert bewusste Beobachten mit den Fähigkeiten des sogenannten ratiomorphen Apparates verbindet. Er steuert über festgelegte Automatismen Reaktionen und unsere Wahrnehmung selbst, die nicht unserem Willen unterliegt. Wer 20 Minuten braucht, um die Cafeteria zu finden, lernt zwei Kollegiengebäude und den Grad durchschnittlicher Höflichkeit von Hausmeistern und Kommilitonen kennen. Er macht aber auch aus einem Labyrinth die bekannte Westentasche, in der er sich zukünftig zurecht findet. Viel Überblickswissen muss man sich gerade in der ersten Zeit schlicht erlaufen, Schritt für Schritt, wozu Lucy, unser begabter Vorfahr, tausende von Jahren brauchte, um die Technik, auch für uns, zu erwerben.

Drum sei ihr hier eine kurze Abschweifung gewidmet. Da immer wieder eine neue Kandidatin gefunden wird, die unsere Urahnin genannt werden muss, muss auch mit weiteren Merkmalen gerechnet werden, die ihr zukommen. Die 30jährige Mama Sediba (2010 im Südafrika gefunden) lebte vor 2 Millionen Jahren und bereitete schon das Sprachzentrum vor. Sie konnte aufrecht gehen, in den Bäumen schwingen und selbst gefertigtes Werkzeug benutzen: ein Lebewesen an der Schwelle zwischen Mensch und Affe.

(Johannes Dieterich, Lebewesen zwischen Affen und Mensch, BZ 9. 9. 2011).

Lucys Oma? Die Zeitspanne beträgt zwischen den letzten Australopithecinen (Südaffen, 2 bis 4 Millionen Jahre) und den ersten Exemplaren der Gattung Homo mit 1,9 Millionen Jahre so viele Jahre an Generationen, dass noch mancher Fund der Anthropologen hineinpasst.

Nicht in jedem Fall, aber in der Welt der Überraschungen, wie sie die akademische bereit hält, gibt es den naiven Approach und den altklugen. Wer die Cafeteria, die Seminarbibliothek sucht ohne zu fragen, wer die Tücken des Zentralkatalogs in eigenwilliger Hartnäckigkeit knackt, darf einen hohen Ertrag an Entdeckerfreuden für sich verbuchen. Aber die Suchkosten sind dagegen abzuwägen. Hier liegt eine der frühen Gelegenheiten, etwas über persönliches Zeitmanagement zu lernen, das per Transfer vielseitig im Studium verwendbar ist. Wer es freilich fertig bringt, erst am Ende seines Studiums herauszufinden, wo der Eingang zur Universitätsbibliothek ist, wird sicher nicht Professor, aber ein Meister der Improvisation ist er schon.

Der altkluge Approach folgt dem Prinzip der guten Vorbereitung. Der Studierende weiß Bescheid, noch bevor er sie in Anspruch nimmt, welche Anlaufstellen am Lehrstuhl welches geistige Profil aufweisen. Welche Personen und Themen für ihn besonders relevant sein könnten. Er macht sich Notizen über Uhrzeiten von Sprechstunden, von mündlichen Tipps, die ihm behaltenswert erscheinen. Niemand will eine Gebrauchsanleitung für sein Leben selbst. Es soll ja Menschen geben, die vor dem ersten Kuss das Kamasutra studieren und dann, wenn es so weit ist, im falschen Kapitel landen. Eine persönlich entwickelte Mischung von Spontaneität und Klugheit macht Freude, wenn alles unauffällig "läuft".

Wer sein Studium als Kunstwerk auffassen möchte, pointillistisch oder expressiv, nur nicht Stillleben, sollte sich um den rechten Musenkuss bemühen. Wenn der Geist blitzen soll, muss er eine sinnvolle Basis haben: Rechtschreibung und Kommaregeln sollte man nicht verachten. Selbständig abgefasste Arbeiten setzen sie voraus. Wer sich im letzten Augenblick um sie kümmert, gerät leicht in Zeitnot.

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