Читать книгу Moorhammers Fest - Günter Neuwirth - Страница 6
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ОглавлениеElvira Altmann griff zum Autoschlüssel und startete den Motor. Kurz blickte sie über die Schulter.
„Seid ihr angeschnallt?“
„Na klar.“
Elvira stieg auf das Gaspedal und reihte sich in den Verkehr auf der Gersthofer Straße. Sie hatte immer in diesem Teil von Wien gelebt und konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass sich das irgendwann ändern würde. Warum auch? Man brauchte Ankerplätze in einem bewegten Leben, anderenfalls würden einen die Wogen der Zeit allzu leicht in fremde und vielleicht gefährliche Gewässer spülen, würden einen im äußersten Fall gegen die schroffen Klippen des Lebens werfen. Sie war im Bezirk Währing aufgewachsen, hatte in ihrer Studienzeit in einer kleinen Bude in Gürtelnähe gewohnt, die sie selbst während der vier Jahre in Paris nicht aufgegeben hatte. Und danach, als sie wieder nach Wien zurückgekommen war und in ihrer Heimatstadt beruflich schnell beachtliche Erfolge erzielt hatte, hatte sie sich eine sehr geräumige und helle Dachgeschosswohnung im Bezirksteil Gersthof gekauft. Mit Blick ins Grüne. Natürlich hatte ihr Vater beim Ankauf der Wohnung eines seiner Sparbücher aufgelöst. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, besuchte sie ihn, kochte für ihn, schaute nach dem Rechten. Sie liebte ihren achtzigjährigen Vater über alles, auch wenn er schon sehr vergesslich war und manchmal die beiden Töchter Elvira und Franziska miteinander verwechselte. Nach dem Tod seiner Ehefrau hatte er sich aufopfernd um seine halbwüchsigen Mädchen gekümmert, hatte ihnen auf seine ruhige und bedachte Weise all ihre Wünsche zu erfüllen versucht. Zuneigung, Gerechtigkeit und Fleiß, das hatte er seinen Töchtern beigebracht, mit dem Ergebnis, dass er jetzt im Winter seines Lebens auf deren Hilfe und Beistand bauen konnte. Elvira kümmerte sich um die Heimhilfe und die Putzfrau, während Franziska alle medizinischen Belange ihres alten Vaters im Auge behielt. Natürlich, Elviras um zwei Jahre jüngere Schwester war Ärztin. So konnte der alte Mann nach wie vor in seiner Wohnung leben.
„Wie lang dauert die Fahrt?“
Elvira tauchte aus ihren Gedanken hoch und schaute in den Rückspiegel zu ihrer Tochter Jasmina.
„Mindestens zwei Stunden. Wahrscheinlich sogar zweieinhalb.“
„Wir werden unterwegs mal eine Pause einlegen müssen.“
„Musst du schon wieder aufs Klo?“
„Jetzt noch nicht, aber bald.“
„Schauen wir, dass wir erst einmal auf die Autobahn kommen.“ Elvira lenkte ihren VW Passat Kombi routiniert durch den lebhaften Stadtverkehr in Richtung Westautobahn. Berufsbedingt war sie viel mit dem Auto unterwegs, immer wieder fuhr sie auch längere Strecken und führte viel Ausrüstung mit, daher hatte sie einen gut motorisierten, komfortablen Wagen mit geräumigem Kofferraum gekauft. Auch jetzt hatte sie einiges an Ausrüstung dabei, sie hatte ein paar Tage konzentrierter Arbeit vor sich. Vorausgesetzt natürlich, sie würde sich konzentrieren können. Zusätzlich befanden sich auch ihr Gepäck und das ihrer zwei Fahrgäste im Wagen. Jasmina war wie in letzter Zeit stets in schwarze Kleidung gehüllt und ihren Freund Clemens hatte Elvira noch nie anders als in Schwarz gesehen.
Manchmal machte sich Elvira um ihre achtzehnjährige Tochter Sorgen, manchmal wirkte sie ein bisschen weltfremd, allzu verträumt und einzelgängerisch, und Clemens war auch nicht unbedingt die Art von Mann, die sie sich als Mutter für ihre Tochter wünschte, dann aber wieder musste sich Elvira eingestehen, dass sie sich zu viele Sorgen machte. Jasmina hatte in der letzten Woche die Matura mit Auszeichnung abgelegt und sie schien sich bei den Vorbereitungen zur großen Abschlussprüfung ihrer Schullaufbahn gar nicht besonders verausgabt zu haben. Ja, sie war immer eine gute Schülerin gewesen, in Deutsch, Englisch und Französisch hatte sie nie eine andere Note als sehr gut gehabt, aber in manchen Dingen des Lebens schien Jasmina sehr dünnhäutig zu sein. Immerhin, und das hatte Elvira stets als beruhigend empfunden, hatte Jasmina keinerlei künstlerische Ambitionen entwickelt, weder mit dem Zeichenstift noch an der Klaviertastatur oder sonst wie. Sie las ausgesprochen viel, aber sie schien nie den Gedanken erwogen zu haben, selbst zu schreiben. Das fand Elvira erleichternd. Nicht auszudenken, sie hätte die künstlerische Ader ihres Vaters geerbt. Der blanke Irrsinn!
Sie hatten lange darüber debattiert, was die augenfällig lernfreudige Tochter studieren sollte. Ein Sprachenstudium lag bei Jasminas Talenten wirklich nahe und Elvira war es gelungen, ihr ein derartiges Studium schmackhaft zu machen. Sie würde im Oktober an der Uni Wien mit Germanistik und Romanistik beginnen.
„Ich habe für Papa ein Geburtstagsgeschenk besorgt. Also, eigentlich haben Clemens und ich das Geschenk gemeinsam besorgt.“
Elvira Altmann zog ihre Augenbrauen hoch und schaute wieder durch den Rückspiegel zu den beiden jungen Leuten nach hinten.
„Und was ist es?“
„Ein Buch.“
„Schön.“
„Ein altes Buch.“
„Welches Buch?“
„Ein Exemplar der ersten Ausgabe von Maxim Gorkis Roman Das Werk der Artamanows.“
„Der deutschen Übersetzung oder des russischen Originals?“
„Des russischen Originals.“
„Oho, eine echte Rarität also.“
„Clemens hat es im Internet gekauft. War gar nicht so billig. Du weißt schon, Papa steht ja auf revolutionäre Künstler.“
„Er wird sich bestimmt freuen. Auch wenn er Russisch nicht lesen kann.“
„Ist für seine Sammlung gedacht. Er hat ja auch japanische Bücher.“
„Schon klar. Gute Wahl.“
Kaum auf der Autobahn, betätigte Elvira Altmann den Blinker und fuhr zügig an einem schwer beladenen Lieferwagen vorbei. Wirklich eilig hatten sie es nicht, sie würden zu dritt ein paar Tage, maximal eine Woche, in Hinterstoder bleiben und Gottfrieds Geburtstagsfest war für Freitagabend angesetzt, aber am Beginn einer längeren Autofahrt drückte Elvira immer einmal auf die Tube. Später würden sie in einer Raststätte eine Kaffeepause einlegen und danach gemütlicher unterwegs sein.