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1. Was ist europäisch?

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»Europa besteht aus Kaffeehäusern«, so leitet der als Sohn österreichischer jüdischer Eltern in Paris geborene George Steiner seinen Essay The Idea of Europe ein und beginnt so eine Phänomenologie des Europäischen, die das Unterscheidende und das Verbindende Europas zum Thema hat. Das Kaffeehaus unterscheidet sich – ontologisch, so sagt Steiner – vom englischen Pub und der irischen und mehr noch der amerikanischen Bar darin, dass es der Fokus der Debatten über die Kultur in ihrer Vieldimensionalität ist. So lässt sich in Wien während der Zwischenkriegsjahre des 20. Jahrhunderts der intellektuelle Diskurs über Ästhetik und politische Ökonomie, Psychoanalyse und Philosophie in genau drei Kaffeehäusern verorten. Europa, so fährt Steiner fort, wird zu Fuß erlaufen, seine Kartographie ist durch die Reichweiten menschlicher Füße geschrieben. Die europäische Landschaft ist eine, in der die langen Märsche, die Pilgerfahrten und die Wanderungen ihren Platz haben, eine Landschaft der kommunikativen Beziehungen leiblich überbrückbarer Distanzen. Dann ist Europa drittens, wenn wir Steiner weiter auf seinem Gang durch die Landmarken Europas begleiten, eine Gedächtnislandschaft, in der Straßen und Plätze an die Größen und an die Schrecknisse der Vergangenheit erinnern – jede Stadt eine steinerne Versammlung des Clubs der toten Dichter und Denker. Europa ist aber auch der Ort, an dem die versuchten Versöhnungen von Athen und Jerusalem unternommen wurden – und dies ausgerechnet von dem zu unaussprechlicher Grausamkeit und Egoismus neigenden Zweifüßler, der sich Mensch nennt. Drei Spiele, ja Formen der Sucht sind es, die der europäische Mensch Athen verdankt, die Musik, die Mathematik und das spekulative Denken, die in ihrer letzten Einheit auch bei Steiner nur theologisch erfasst werden können: »As certain mystics and logicians such as Leibniz have intuited, when God speaks to himself He sings algebra.«1 Dieses Erbe begegnet in Europa dem Erbe Jerusalems, das nach Steiner so sehr zur Textur europäischer Existenz gehört, dass es jeden tangiert, Agnostiker genauso wie Theisten. Wiederum hat auch dieses Erbe letztendlich theologischen Charakter:

»The monotheistic challenge, the definition of our humanity as in dialogue with the transcendent, the concept of a supreme Book, the notion of law as inextricable from moral commandments, our very sense of history as purposeful time, have their origin in the enigmatic singularity and dispersal of Israel.«2

Steiner bleibt skeptisch gegenüber der Möglichkeit der Verschmelzung der beiden Herkunftsorte europäischer Identität, die in seinem Verständnis gewissermaßen das theologische Programm des Christentums ist. Unter Berufung auf Leo Strauss hält Steiner fest, dass die Idee Europas schließlich doch wie der Titel von Charles Dickens’ Klassiker von 1859, A Tale of Two Cities, eine Geschichte aus zwei Städten ist. Die verwehrte Versöhnung – das gilt nach Steiner noch mehr für sein letztes Kriterium des Europäischen, das er als einzigartiges Charakteristikum im europäischen Bewusstsein versteht, nämlich das gleichsam eschatologische Bewusstsein, dass Europa ein Ende haben wird, das Gefühl in der Abenddämmerung zu leben, die Ahnung der Letzten Tage der Menschheit3, vielleicht typisch für eine Zivilisation, in der der Garten Goethes fast an Buchenwald angrenzt und das Haus Corneilles an den Marktplatz, auf dem Jeanne d’Arc zu Tode gebracht wurde. Steiner formuliert das Bewusstsein des Endes in der Frage: »Mit welchem Recht sollten wir unsere selbstmörderische Unmenschlichkeit überleben?«4

Die theologische Dimension ist in Steiners phänomenologischer Beschreibung nie fern, auch wenn sie nur an den zitierten Stellen explizit thematisiert wird. Jedoch – über was wird in den Kaffeehäusern denn debattiert, wenn nicht über »Gott und die Welt«, das Verhältnis des Letztgültigen zum Vorläufigen? Welche Orte sind es, die zu Fuß verbunden werden, und welche Kirchen und Kapellen, aber auch Synagogen und Moscheen säumen den Weg, bis man an einer Zwischenstation ankommt, die europäisch immer eine Konstellation von Rathaus, Kirche und Marktplatz ist? Was wären die Namen der Straßen und Plätze ohne den indirekten Verweis auf die theologischen Fragen, die mit der Erinnerung an die großen Frauen und Männer und ebenso durch das Gedenken an die Opfer wachgerufen werden? Worum geht es in der Geschichte der beiden Städte Jerusalem und Athen, wenn nicht um die Fragen von Sein und Gott, von Vernunft und Geschichte? Und wie ist ein Ende der Geschichte denkbar, wenn die Geschichte nicht das Merkmal der Endlichkeit in sich trägt, das als Signum alles Geschaffenen auf einen unendlichen Ursprung und ein unendliches Ziel hindeutet, die beide dem Geschichtsprozess transzendent sind?

Diese Beziehung Europas auf die Theologie hat der andere große essayistische Analytiker des Europäischen, Rémi Brague, sehr direkt mit dem Christentum verbunden. Seiner Auffassung nach ist das Christentum als Religion der Ermöglichungsgrund Europas, insofern die Zusammenführung der Bürger des Römischen Reiches und der einwandernden Barbaren »durch die Teilhabe an einem einzigen Glauben«5 erfolgte. Wäre nach Brague diese Leistung durchaus auch von einer anderen Religion zu erbringen gewesen, so setzt das Christentum als bestimmte Religion doch zwei Bewegungen in Gang, die für Europa konstitutiv sind. Weil im Zentrum des Christentums nicht die Offenbarung einer Botschaft oder eines Buches steht, sondern eine Person, kann die Botschaft, wie sie in der Bibel bezeugt ist, in viele Sprachen übersetzt werden, und kann jede Kultur »gleiche Dignität« erhalten: »Jedes Volk steht unmittelbar zu Gott.«6 Dies wiederum ermöglicht nach Brague die »Entflechtung des Nationalen und des Religiösen«7, die – so muss man gleich hinzufügen – im Christentum zu einer Vielfalt von neuen Konstellationen von Nationalem und Religiösem geführt hat, die allerdings auch bei den größten Annäherungen stets die Nicht-Identität von Nation und Religion voraussetzen. Die zweite Dynamik, die mit dem Christentum als einer bestimmten Religion verbunden ist, ist nach Brague, dass entgegen der kulturgeschichtlich dominanten Modelle der »Einverleibung« und »Verdauung« das Christentum das Gedankengut der Antike »als Fremdes bewahrt« und so – nach Bragues Analyse – »das Modell seines Verhältnisses zum früheren Judentum auch auf den Bereich der profanen Kultur angewandt«8 hat. Damit ist allerdings für Brague noch nicht das Spezifische des Beitrags des Christentums zur Entstehung Europas benannt. Auf die Frage »Wozu dient das Christentum?« formuliert er:

»Das Christentum beansprucht nicht, der Kultur neue Inhalte zu geben. Es liefert eine neue Perspektive. Die christliche Revolution ist sozusagen eine phänomenologische. Sie besteht darin, das bisher Unsichtbare sichtbar werden zu lassen […] Das Ganze tritt in die Sichtbarkeit.«9

Die eigentliche Pointe ist aber erst zu erfassen, wie Brague unter Aufnahme von Erich Auerbachs Hauptwerk Mimesis zeigt, wenn man sich klar macht, dass das Charakteristische und zugleich Anstößige der Art, wie das Christentum das Ganze sichtbar macht, darin besteht, dass das Erhabene, der Gegenstand des sermo gravis vel sublimis, im Niedrigen porträtiert wird, im sermo remissus vel humilis.10 Der gekreuzigte Christus ist so die Darstellung des Wesens des erhabenen Gottes und zugleich das Modell des Menschlichen. Die Menschenwürde am Ort ihrer äußersten Verletzung wahrzunehmen, das ist für Brague der Kern der Phänomenologie des Christentums: »Menschliches zu sehen auch dort, wo die Anderen nur Biologisches, Wirtschaftliches oder was auch immer vernehmen.«11 Diese Sicht des Menschlichen ist allerdings von der bestimmten Sicht des Wesens Gottes abhängig, die der christliche Glaube bekennt.

Diese beiden Skizzen zur Charakterisierung des Europäischen sind sicherlich in mehrfacher Hinsicht zu ergänzen. Es ist im Sinne konstruktiver Erweiterung zu betonen, dass Europa nicht aus seinen christlichen Wurzeln allein zu bestimmen ist. Die religiösen Wurzeln des Christentums liegen außerhalb Europas. Genauer müsste man von einem Wurzelgestrüpp sprechen, in dem von Anfang an christliche Elemente mit denen anderer Religionen verwoben sind. Zu einer europäischen Religion wird es durch eine Reihe von »kulturellen Kompromissen«, in denen stets Elemente der Bejahung und Elemente der Verneinung, der Anlehnung und der Abstoßung verbunden sind. Die Geschichte dieser kulturellen Kompromisse ist die Kulturgeschichte Europas. Andererseits ist hervorzuheben, dass sich diese Geschichte nicht auf das Christentum beschränkt. Die Kulturgeschichte des Christentums ist von Anfang an, in jeder ihrer Epochen, die Geschichte der kritischen Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem Islam. Diesen, die Geschichte Europas begleitenden, ja geradezu konstituierenden Dialog, der oftmals im Kontext gewaltsamer Auseinandersetzungen abläuft, kritisch zu rekonstruieren ist die Aufgabe, der sich die christliche Theologie ebenso wie die jüdische und islamische Theologie heute im interreligiösen und interdisziplinären Gespräch stellen müssen. Dabei ist von allergrößter Bedeutung, dass sich die Religionen nicht über sich selbst zu verständigen suchen, sondern ihren, für sie konstitutiven referentiellen Charakter ernst nehmen. Ihrem jeweiligen Selbstverständnis nach können alle drei monotheistischen Religionen für sich keine Absolutheit beanspruchen, sondern sind höchst relative Größen, die von der Offenbarung Gottes abhängig sind und in dieser ihren Grund und ihre Grenze anerkennen. Der Streit um die Absolutheit des Christentums ist darum ein Streit um eine falsch gestellte Frage. Aus der Perspektive der Religionen ist allein Gott absolut, und die Absolutsetzung der eigenen Religion Götzendienst. Aus der Perspektive der Religionen und der in ihnen kultivierten Theologien ist das Thema nicht primär das Christentum, das Judentum oder der Islam und Europa, sondern Europa und Gott. Erst sekundär, wiederum auf Grund des für sie konstitutiven Selbstverständnisses ihrer externen Konstitution, kommen dann wieder die Religionen in den Blick.

Christentum und Europa

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