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2. Dimensionen und Dialektiken der Säkularisierung
ОглавлениеNun ist gerade dieses Zwischenergebnis mit der kritischen Frage konfrontiert, ob hier nicht übersehen werde, dass die Formulierung – Europa ohne Gott? – eine hoffnungslos vormoderne Fragestellung ist, welche die für die Moderne charakteristische Säkularisierung aus Ignoranz oder Obskurantismus übersehe. Nun hat die Diskussion um die Säkularisierung in den letzten Jahrzehnten ein sehr verändertes Bild unserer Zeit als eines säkularen Zeitalters hervorgebracht. Charakteristisch dafür ist, dass die Differenzierung, die als Differenzierung gesellschaftlicher Funktionen vielleicht der wichtigste Pfeil im Köcher der Säkularisierungstheorien ist, nun auf die Phänomene, die Kontexte der Säkularisierung und die Theorien der Säkularisierung selbst angewandt werden. Das Resultat ist ein pluralistisches Bild der Genealogien der Säkularisierung, das ein ebenso pluralistisches Bild der Phänomene der Säkularisierung eröffnet. Gerade damit verändert sich das Verständnis unserer Zeit als eines säkularen Zeitalters und so auch das Verständnis der Bedeutung von Religionen und Theologien für Europa.
Auch hier erweisen sich zwei Gesprächspartner als besonders hilfreich für die Diagnose unserer Zeit als eines säkularen Zeitalters. Der eine ist Charles Taylor mit seiner großen Genealogie A Secular Age.12 Entscheidend ist, dass Taylor Säkularität weder als die Entlassung der Religion aus einer Sphäre des öffentlichen Lebens nach der anderen (Peter Berger), noch als Verlust der sozialen Bedeutung religiösen Glaubens und religiöser Praxis (Bryan Wilson) interpretiert, sondern statt dessen nach den Bedingungen der Erfahrungen des Spirituellen und der Suche nach dem Spirituellen fragt, die es möglich machen, von unserem Zeitalter als einem »säkularen Zeitalter« zu sprechen.13 Diese Bedingungen liegen nach Taylor keinesfalls außerhalb der christlichen Religion. Sie sind in ihr als die Transformationen des Strebens nach Reform zu identifizieren, die schließlich den religiösen Rahmen sprengen, in dem sie zuerst vorgestellt wurden und uns nun mitsamt der sie konstituierenden Glaubensvorstellungen und -praktiken im »Rahmen der Immanenz« (immanent frame) lokalisieren. Dieser Rahmen erweist sich aber gerade unter den Bedingungen des säkularen Zeitalters erneut offen für Religion in allen ihren Gestalten – nicht zuletzt für Taylors eigenen römisch-katholischen Glauben. Religion ist somit nicht einfach ein auf die Entwicklung der Gesellschaft, der Wissenschaften, der Selbstdeutung der Menschen reagierender Faktor, sondern ein ebenso aktiv initiierender wie passiv reagierender Faktor, stets in realer Interaktion mit den anderen Strömungen der gesellschaftlichen Entwicklung begriffen. Die Bedingungen der Möglichkeit und die Motive der Säkularisierungsprozesse selbst können nur im Christentum klar lokalisiert werden und sind auch in ihren »säkularen« Formen offen für eine christliche Begründung. Verabschiedet ist damit nicht nur die Vorstellung der Säkularisierung als eines alle gesellschaftlichen Interaktionsbereiche umfassenden, unumkehrbaren Prozesses (selbst eine meta-theologische säkularisierte Form christlicher Heilsgeschichte), sondern zugleich auch die notwendige Verknüpfung von Modernisierung und Säkularisierung. Diese mag in Westeuropa geradezu selbstevident erscheinen, lässt sich aber, wie José Casanova betont hat, in anderen Weltgegenden und Gesellschaftskonstellationen nicht in derselben Weise nachweisen.14
Vor dem Hintergrund dieses groß angelegten Narrativs, der selbst den Übergang in die pluralistischen Meistererzählungen thematisiert, zieht Taylor eine Reihe von prägnanten Schlussfolgerungen. Gegenüber dem Modell, den Säkularismus aus dem Gegensatz zur Religion zu bestimmen und damit die Religion als archaische Vorstufe des säkularen Staates zu interpretieren – Taylor spricht von der »Fetischisierung überkommener säkularer Ordnungen«15 – schlägt er erstens vor, Säkularismus aus drei, an die Parole der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« anknüpfende Zielsetzungen zu bestimmen:
»1) die Menschen in ihrer Einstellung zur Welt zu schützen, für die sie sich entschieden haben bzw. mit der sie aufgewachsen sind, gleich, wie diese Einstellung beschaffen sein mag, 2) den Menschen eine von ihrer Einstellung unabhängige Gleichbehandlung angedeihen zu lassen, 3) ihnen allen Gehör zu verschaffen.«16
Wichtig ist, dass Taylor diese Prinzipien nicht als Grundkonsens voraussetzt, sondern als Zielbestimmungen interpretiert, die im gesellschaftlichen Leben zu realisieren sind. Dass der Konsens hinsichtlich dieser Zielsetzungen durchaus offen für unterschiedliche Begründungen ist – Taylor nennt als Beispiele eine kantianische, eine utilitaristische und eine christliche Begründung – ist entscheidend. So postuliert Taylor: »Der Staat muss diese Ethik verteidigen, darf aber keinem der Beweggründe, aus denen sie sich speist, den Vorzug vor anderen geben.«17 Anstatt Säkularismus als Bollwerk gegen die Religion zu verstehen, schlägt Taylor vor, dass es »tatsächlich um die richtige Antwort des demokratischen Staates auf Vielfalt geht«18. Das hat zur Folge, dass auch die Rolle der »öffentlichen Vernunft« anders bestimmt werden muss. Taylor distanziert sich von den Auffassungen von John Rawls und Jürgen Habermas (von denen diese selbst sich auch in späteren Werkphasen distanziert haben), dass der öffentliche Diskurs auf die nicht-religiöse, »natürliche« Vernunft beschränkt sein müsse. Er betont, dass der demokratische, weltanschaulich-religiös neutrale Staat, in der »Amtssprache«, der Sprache der Gesetze und Verordnungen, »Neutralität zu wahren hat«, obwohl die Gesetze des Staates »die tatsächlichen Überzeugungen seiner Bürger widerspiegeln, Überzeugungen, die christlicher, muslimischer oder sonstiger, der ganzen Palette von Weltsichten in einer modernen Gesellschaft entsprechenden Prägung sind.«19 Allerdings darf diese Restriktion nicht für die Beratungen der Bürger eines Staates gelten. Taylor deutet damit an, dass er den »erkenntnistheoretischen Argwohn gegenüber der Religion nicht teilt«, ja, dass er die Beschränkung des Vernunftgebrauchs auf die »bloße Vernunft« für einen »Mythos der Aufklärung« hält.20 Es gibt nach Taylor keine guten Gründe, religiöse oder weltanschauliche Sprache von der Sprache der öffentlichen Vernunft auszuschließen. Damit ist natürlich noch nicht die Frage beantwortet, wie der öffentliche Vernunftgebrauch sich vollziehen soll.
Der andere Gesprächspartner, den wir zur Beratung über die Ansichten eines säkularen Zeitalters hinzuziehen, ist der britische Soziologe David Martin. Beide, Taylor und Martin, sind typisch für die Annäherung zwischen der soziologischen Säkularisierungsforschung und der philosophischen (und theologischen) Reflexion über Säkularisierung, die sich im letzten Jahrzehnt vollzogen hat. Charles Taylor schreibt David Martin erstens »die hermeneutische Wende«21 in der Diskussion um die Säkularisierung zu, die den kontextuellen Besonderheiten von Säkularisierungsprozessen gerecht zu werden versucht. Zweitens betont er die Ersetzung einer einlinigen Säkularisierungsdynamik mit einer Pluralität von kontextuell verorteten Dynamiken in David Martins Arbeiten. Schon in seiner ersten Publikation zum Thema, dem Aufsatz »Towards Eliminating the Concept of Secularisation«22 stellte Martin die theoretische Leistungsfähigkeit und empirische Belastbarkeit der »klassischen« Säkularisierungsthese für die Soziologie in Frage. Statt seiner kritischen Empfehlung der Eliminierung des Säkularisierungsbegriffs zu folgen, hat Martin in den folgenden Studien, die in seinem Standardwerk A General Theory of Secularization23 kulminierten, den Versuch unternommen, allgemeine soziale Prozesse, v. a. die soziale Differenzierung, auf sogenannte Säkularisierungsprozesse in unterschiedlichen Kontexten anzuwenden. Diese Theorie hat er seitdem global erweitert und immer weiter differenziert und ihre Rezeption kommentiert.24
Schon in seinem ersten Hauptwerk begreift Martin Säkularisierung als ein multi-dimensionales Phänomen, das neben der institutionellen Dimension eine Verhaltensdimension religiöser Praktiken und eine intellektuelle Dimension religiöser Auffassungen umfasst. Versucht man diesen Gedanken weiterzuführen, könnte man von der Religion als einem multi-dimensionalen Ganzen ausgehen, wie es in der Religionswissenschaft von Ninian Smart25 ausgearbeitet wurde, und die Säkularisierungstendenzen in jeder dieser Dimensionen und in ihrem Zusammenhang nachzeichnen. Nur so können die regionalen Differenzierungen erfasst werden, die z. B. Grace Davie für Großbritannien und Skandinavien in dem Slogan »believing without belonging« bzw. »belonging without believing« pointiert formuliert hat. Die Dynamiken der Säkularisierung, die Martin in seinen Werken nachzeichnet, sind dabei stets regional gebunden, weil die religionssoziologisch feststellbaren Tendenzen stets mit der politischen Soziologie, der Soziologie der Macht, korrelieren. Martin kann das faszinierend an der visualisierten Konstellation von religiöser und staatlicher Macht in den Hauptstädten Europas nachweisen, z. B. an der Art, wie in Wien im Ensemble der Stadt der Stephansdom zum Stützpfeiler der kaiserlichen Hofburg wird und die Unterordnung der Kirche unter den Staat in der aufgeklärten Autokratie illustriert.26 Andere Hauptstädte – London, Helsinki, Budapest, Washington, Berlin – zeigen andere Muster.
Für das Verständnis der Religionen Europas in einem säkularen Zeitalter ist vor allem Martins Unterscheidung der unterschiedlichen Typen der Aufklärung von höchster Relevanz, die die Konstellationen von Religion und Säkularität in höchst unterschiedlicher Weise prägen: der britisch-niederländische Strang der Aufklärung mit dem Symboljahr 1689, der in vielerlei Weise mit der amerikanischen Aufklärungsgenealogie von 1776 verbunden ist, der französische Strang der Aufklärung mit dem Symboljahr von 1789 und der russischen »Aufklärung« von 1917. Das Raster der Einflussbereiche der unterschiedlichen Typen der Aufklärung überlagert die Muster der Konfessionalisierung aus dem 16. und 17. Jahrhundert und führt zu einer durch die politische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts teilweise neu strukturierten Kartographie religiös-säkularer Konstellationen. Martin unterscheidet in Europa:
• einen ethisch engagierten Reform-Katholizismus im Norden von einem »eingebetteten« Volks-Katholizismus im Süden;
• die Ethno-Religionen des europäischen Ostens;
• zwei Typen des Protestantismus im europäischen Norden, der eine angelsächsisch-niederländisch, der andere skandinavisch-deutsch geprägt;
• eine religiöse Situation erfolgreicher staatlicher säkularistischer Indoktrinierung in Frankreich, Tschechien, Ostdeutschland und Estland, die Martin als Gegenpol zum religiösen Nationalismus versteht;
• die Formen freiflottierender Spiritualitäten, ob in der Form eines neuen ökologisch orientierten Puritanismus, oder in neuen Formen von selbstzentrierten Spiritualitäten.
Man könnte anhand von Martins analytischen Differenzierungen der Konstellationen von Christentum und Säkularisierung noch viele weitere Feinabstimmungen einführen. Besonders wichtig wäre es zu versuchen, dabei den Status der muslimischen Bevölkerungen in Europa, ob als Mehrheit wie in Bosnien oder als Minderheit wie in den meisten anderen Ländern, zu den bestehenden Konstellationen zu bestimmen. Die Rolle des Judentums, vor allem der neu nach Europa zuwandernden jüdischen Menschen, wäre noch einmal gesondert ins Auge zu fassen. Im Zusammenhang der Migrationsbewegungen wäre das Verhältnis von Integration und religiöser Identität in unterschiedlichen religiös-säkularen Konstellationen neu zu untersuchen. Die über Europa verbreiteten populistischen Bewegungen, mit ihren Versuchen der Instrumentalisierung von Religion oder Religionskritik zur Stärkung einer nationalen Identität – oftmals auf der Basis einer erfundenen Tradition zur Stärkung imaginierter Gemeinschaften –27 wären ebenso in das Bild einzutragen. In Martins höchst differenziertem Panorama der Kartographie der Konstellationen von Säkularisierungseffekten und Religion wäre – ganz in der Tradition Max Webers – der wirtschaftlichen Dimension noch mehr Rechnung zu tragen, die schon immer ein Koeffizient der religiös-säkularen Konstellationen in Europa gewesen ist, vielleicht in besonders drastischer Weise seit der Monopolstellung des marktwirtschaftlichen Paradigmas in allen Gesellschaftsbereichen, die zur Transformation der Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft und schließlich in einen Marktstaat geführt hat.28 Was bedeutet es für Europa, wenn Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten im Wettbewerb stehen?