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5.6.2 Heterogenität von Entwicklungsprozessen und differenzielle Alternsforschung

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Durch zahlreiche gerontologische Studien ist eindeutig belegt, dass sich alte Menschen sehr unterscheiden und äußerst unterschiedlich altern. Die genetische Ausstattung des Menschen allein ist für eine Erklärung des Alternsprozesses nicht hinreichend. Dieser ist – innerhalb des durch die genetische Ausstattung gesetzten Gestaltungsrahmens – wesentlich durch die physikalische, soziale und kulturelle Umwelt sowie durch im Lebenslauf entwickelte, geübte und erweiterte Fähigkeiten und Fertigkeiten beeinflusst, wobei Unterschiede in den Anlage- und Umweltbedingungen wahrscheinlich eher kumulativ wirken, interindividuelle Unterschiede im Lebenslauf also eher zu- als abnehmen. Dieser Trend wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass die gesellschaftliche Regulation des Lebens im Alter eher nachlässt und pathologische Entwicklungen den Prozess des »normalen Alterns« ( Kap. 5.1) in höheren Lebensaltern stärker überlagern. Für das Verständnis der Unterschiedlichkeit von Alternsprozessen ist es weiterhin wichtig, dass Menschen als Agenten eigener Entwicklung zu betrachten sind. Im individuellen Lebenslauf zu beobachtende Veränderungen spiegeln zu einem guten Teil vom Individuum selbst gesetzte, systematisch (weiter)verfolgte, an veränderte Umstände angepasste, gegebenenfalls auch aufgegebene Ziele wider. Die Entwicklung des Menschen spiegelt nicht lediglich das Zusammenwirken von Person- und Umweltbedingungen wider, Menschen suchen Entwicklungskontexte auch aktiv auf und gestalten diese mit (Heckhausen et al. 2019).

Zahlreiche Längsschnittstudien zeigen nicht nur, dass das Ausmaß an interindividuellen Unterschieden in physiologischen wie psychologischen Variablen mit zunehmendem Alter nicht abnimmt, sondern sie belegen auch die langfristigen und nachhaltigen Einflüsse von sozialer Schichtzugehörigkeit, Schulbildung oder Berufstätigkeit auf den Verlauf von Entwicklungsprozessen ( Kap. 5.6). Vor diesem Hintergrund hat sich in der Alternsforschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass die vorliegenden Befunde über Konstanz und Veränderlichkeit im Erleben und Verhalten nicht durch eine einzige, allgemeine Alternstheorie erklärt werden können, sondern vielmehr nach spezielleren Theorien zu suchen ist, die sich in ihrem Erklärungsanspruch auf spezifische Alternsvorgänge, die zu spezifischen Zeitpunkten bei spezifischen Personengruppen zu beobachten sind, beschränken. Thomae differenziert in diesem Zusammenhang Alternsformen nach den Bedingungen ihres Entstehens in Alternsstile und Altersschicksale:

»Auf der einen Seite erscheinen diese als Ergebnis eines u. U. lebenslangen Stilisierungsprozesses, an dem die Person selbst aktiv teilnimmt, indem sie zwischen Alternativen des Verhaltens oder des ›Lebensstils‹ ›wählt‹, auf der anderen Seite werden die unterschiedlichen Varianten des Alternsvorgangs als Ergebnis sei es einer genetischen Vorprogrammierung, sei es als Folge der Kumulation von kurz- wie langzeitig wirksamen Sozialisationsprozessen gesehen, die mehr oder minder schicksalhaft über das Leben verfügen« (Thomae 1983, S. 48).

In den Sozialwissenschaften finden sich zahlreiche Beschreibungen von Alternsformen, die von den betroffenen Personen nicht gewählt werden können, sondern vielmehr als Altersschicksal hingenommen werden müssen. Hier sind kulturelle und kohortenspezifische Einflussfaktoren ebenso zu nennen wie bildungsspezifische, statusspezifische, geschlechtsspezifische oder ökologische Einflussfaktoren.

Die Bedeutung einer differenzierten Betrachtung von Formen des Alterns lässt sich auch am Beispiel des von Baltes und Baltes (1990) vorgeschlagenen Modells der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell) verdeutlichen. Dieses Modell zeichnet sich dadurch aus, dass es erfolgreiches Altern nicht durch normative Kriterien, sondern durch das Zusammenspiel von drei grundlegenden Prozessen bestimmt. Der Prozess der Selektion bezieht sich auf die Auswahl von Funktions- und Verhaltensbereichen und die damit verbundene Bündelung von (noch) vorhandenen Potenzialen und Ressourcen. In Übereinstimmung mit der jeweils gegebenen Konstellation von persönlichen Motiven, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Umweltanforderungen werden subjektiv weniger wichtige Ziele und Funktionsbereiche zugunsten persönlich wichtigerer Ziele und Funktionsbereiche aufgegeben. Der Prozess der Optimierung bezieht sich auf die Wahrung oder Verbesserung von Kompetenzen in spezifischen – im Falle einer selektiven Optimierung mit Kompensation zuvor ausgewählten – Funktionsbereichen. Der Prozess der Kompensation bezieht sich auf den Ausgleich verminderter Potenziale und Ressourcen. Durch die Selektion von Funktions- und Verhaltensbereichen und die gezielte Aufrechterhaltung oder Verbesserung der in diesen Bereichen bestehenden Ressourcen wird es dem Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation zufolge möglich, die Auswirkungen initialer Defizite durch die Nutzung von zuvor nicht eingesetzten (teilweise auch zuvor nicht vorhandenen) Ressourcen zu mindern. Folgt man dem Modell, kann sogar der Verzicht auf Aktivität in spezifischen Funktions- und Verhaltensbereichen dazu beitragen, dass sich altersgebundene Verluste in persönlich wichtigeren Funktions- und Verhaltensbereichen nicht auswirken.

Seit Mitte der 1990er Jahre – vor allem unter dem Einfluss der Ergebnisse der Berliner Altersstudie – hat sich in der Gerontologie die Differenzierung zwischen einem »dritten Lebensalter« und einem »vierten Lebensalter« etabliert: Während im dritten Lebensalter (Zeitspanne: ca. 60 bis 80/85 Jahre) die körperliche und seelisch-geistige Kompetenz weitgehend erhalten ist, die Menschen entsprechend im Allgemeinen zu einer an den eigenen Bedürfnissen und Zielen orientierten aktiven und produktiven Lebensführung in der Lage sind, nimmt im vierten Lebensalter (Zeitspanne: ab 80/85 Jahren) vor allem die körperliche, aber auch die psychische Verletzlichkeit des Menschen deutlich zu. Multimorbidität, chronisch-degenerative Erkrankungen, neurodegenerative und vaskuläre Demenzen werden häufiger und die Prävalenzraten für Pflegebedürftigkeit steigen mit zunehmendem Alter exponentiell an ( Kap. 5.3 und Kap. 14). Anders als im dritten Lebensalter deuten Indikatoren der psychischen Befindlichkeit darauf hin, dass es den Menschen immer weniger gelingt, die zunehmenden körperlichen, geistigen und sozialen Verluste zu kompensieren.

Die heuristisch ohne Frage wertvolle Differenzierung zwischen einem dritten und vierten Lebensalter wird vor dem Hintergrund der Analyse von Mittelwertunterschieden in aufeinanderfolgenden Altersgruppen (zum Teil) eindrucksvoll bestätigt. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass sich Menschen in allen Altersgruppen auf allen Entwicklungsdimensionen nicht nur im Hinblick auf das aktuell bestehende Entwicklungsniveau, sondern auch mit Blick auf die in Veränderungen zum Ausdruck kommenden Entwicklungstrends erheblich voneinander unterscheiden (Kruse und Schmitt 2004). So ist etwa aus Analysen zu individuellen Unterschieden in der Entwicklung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter bekannt, dass die für kognitives Altern auf der Ebene von Mittelwertbetrachtungen charakteristischen Veränderungen in Primärfaktoren der Intelligenz darauf zurückgehen, dass sich bei einem Teil der Personen akzentuierte Rückgänge, bei einem vergleichsweise großen Teil Stabilität und bei einigen Personen Zugewinne zeigen (Schaie 2005).

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