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5.5 Kognitive Reserve Christine Hildesheim, Pablo Toro und Johannes Schröder 5.5.1 Einleitung
ОглавлениеKognitive Reserve bezeichnet das Potenzial des Gehirns, Schädigungen, wie sie etwa bei chronischen Hirnerkrankungen (z. B. Alzheimer-Demenz, Kap. 14) auftreten, bis zu einem gewissen Grad kompensieren zu können. Konkret wird angenommen, dass derartige Veränderungen bei Personen mit höherer kognitiver Reserve länger kompensiert werden können. Sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Praxis hat das Reservekonzept in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Im Rahmen der klinischen Demenzdiagnostik wird deshalb vielfach ein besonderes Augenmerk auf die bestehenden Ressourcen und die kognitive Reservekapazität des Patienten gelegt, wobei neben dem Bildungsweg insbesondere Aktivitätsvariablen von Interesse sind. Dieses Kapitel nähert sich dem Thema »kognitive Reserve« mit einem Überblick über die aktuelle Forschungsdiskussion hinsichtlich primärpräventiver Maßnahmen für die Alzheimer-Demenz, da potenzielle Schutzfaktoren in der Literatur zunehmend vor dem Hintergrund des Reservekonzepts diskutiert werden. Im Folgenden wird zunächst die Theorie der kognitiven Reserve erläutert, um im Anschluss aktuelle Forschungsergebnisse aus der Epidemiologie vorzustellen, die sich auf dieses Konzept beziehen.
Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung und des demografischen Wandels wird in den kommenden Jahren ein deutlicher Anstieg der Prävalenz altersassoziierter Erkrankungen – u. a. der Alzheimer-Demenz – prognostiziert. Schätzungen gehen davon aus, dass die weltweite Prävalenz der Demenzfälle von 50 Millionen im Jahr 2018 auf 152 Millionen im Jahr 2050 ansteigen wird (Alzheimer’s Disease International 2018), sofern entscheidende Durchbrüche hinsichtlich der Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten ausbleiben. Neuere Forschungsbefunde geben allerdings interessante Hinweise darauf, dass die Demenzprävalenz nicht direkt mit der verlängerten Lebenszeit assoziiert ist, sondern dass diesbezüglich erhebliche Kohorteneffekte bestehen. In einer Studie von Skoog et al. (2017) wurden zwei Geburtskohorten, die zwischen 1901–1902 bzw. 1923–1924 geboren wurden, hinsichtlich ihrer Demenzprävalenz im Alter von jeweils 85 Jahren miteinander verglichen. Die Autoren konnten für die jüngere Kohorte eine Demenzprävalenz von 21,7 % feststellen, wohingegen die Prävalenz für die ältere Kohorte 29,8 % betrug. Dieser Effekt wurde für den deutschsprachigen Raum anhand der Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) bestätigt, in der Angehörige aus den Geburtsjahrgängen 1930–1932 und 1950–1952 jeweils im Alter von etwa 65 Jahren verglichen wurden. Dabei war die jüngere Geburtskohorte durch bessere neurokognitive Leistungen und ein erheblich geringeres Risiko gegenüber der leichten kognitiven Beeinträchtigung ausgewiesen (Schröder 2018). Diese Effekte konnten statistisch zu einem großen Teil durch ein signifikant höheres Bildungsniveau in den jüngeren Kohorten erklärt werden – ein Befund, der für die Möglichkeit einer signifikanten Beeinflussung des Demenzrisikos durch Bildung und damit vergesellschaftete Merkmale spricht.
Tatsächlich konnten bereits zahlreiche epidemiologische Studien einen signifikanten Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Demenzrisiko feststellen (Fratiglioni und Wang 2007). In den entsprechenden Studien fällt das Demenzrisiko für Probanden mit einem höheren Bildungsniveau signifikant geringer aus. Neben dem Bildungsgrad werden zahlreiche weitere potenzielle Einflussfaktoren diskutiert, die das Demenzrisiko im Alter signifikant beeinflussen sollen. Hierzu zählen neben nicht beeinflussbaren Faktoren – wie genetische Polymorphismen – vor allem individuell gestaltbare Faktoren, die dem eigenen Verhalten zugänglich und hierdurch modifizierbar sind. In diesem Zusammenhang wird u. a. der potenzielle Einfluss der individuellen Freizeitgestaltung, des sozioökonomischen Status, aber auch kognitiver Anforderungen im Beruf und Mehrsprachigkeit (Kowoll et al. 2015, 2016) sowie des Gesundheits- und Ernährungsverhaltens diskutiert (Schröder und Pantel 2011). Als theoretischer Rahmen wird hierbei zunehmend das Konzept der kognitiven Reserve für die Präventionsdiskussion ( Kap. 56) herangezogen, das im Folgenden vorgestellt wird.