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5.6.4 Plastizität

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Wissenschaftliche Studien über Altersbilder in verschiedenen Lebensbereichen zeigen, dass implizit häufig angenommen wird, alte Menschen könnten sich körperlich und seelisch-geistig nicht oder kaum mehr entwickeln, sie seien zu großen Veränderungen nicht mehr in der Lage. Das Älterwerden wird dabei oft mit einem Verlust an Lernfähigkeit, Offenheit und Neugierde gleichgesetzt. So hält sich etwa in der Konsumwirtschaft hartnäckig die Vorstellung, alte Menschen seien per se markentreu und würden ihre einmal eingenommenen Konsumgewohnheiten beibehalten. In vielen Unternehmen sind die Personalverantwortlichen, aber auch viele alte Arbeitnehmer selbst der Meinung, dass sich eine berufliche Weiterbildung für sie nicht mehr lohne. Diesen Annahmen liegen unangemessene Altersbilder zugrunde. Die Alternsforschung hat zahlreiche Belege dafür erbracht, dass sich Menschen bis ins höchste Lebensalter verändern und entwickeln können. Dies wird mit dem Begriff der »Plastizität des Alters« beschrieben.

Der Begriff der Plastizität bezieht sich auf die zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht realisierten Entwicklungsmöglichkeiten. In der Interventionsforschung wird der Begriff in der Regel im Sinne der Modifizierbarkeit physischer, sensomotorischer und kognitiver Funktionen bezeichnet ( Kap. 5.4). Als ein Beleg für die Plastizität von Entwicklungsprozessen ist aber auch zu werten, wenn durch systematische Interventionen – auf der Person wie auf Ebene der räumlichen, sozialen und infrastrukturellen Umwelt – das Auftreten altersgebundener Verluste verhindert oder verzögert wird, oder die Aufrechterhaltung kompetenten Verhaltens trotz altersbedingter Verluste ermöglicht wird (Staudinger und Greve 2001). In diesem Zusammenhang sind etwa Befunde zu den Leistungen alter Menschen im Beruf, zum alltäglichen Problemlösen sowie zum Umgang mit grundlegenden und existenziellen Fragen des Lebens anzusehen, die zeigen, dass Verluste im Bereich der kognitiven Mechanik durch die kognitive Pragmatik ausgeglichen oder kompensiert werden können. Die positiven Effekte körperlicher und kognitiver Trainings ( Kap. 5.5, Kap. 5.11 und Kap. 56) auf die kognitive Leistungsfähigkeit (Lindenberger 2014) und die protektive Wirkung kontrollerhöhender Interventionen durch Maßnahmen der Umweltgestaltung inklusive der Nutzung assistierender Technologie sind durch zahlreiche Untersuchungen belegt (Staudinger 2015).

Während die Fähigkeit alter Menschen, Neues zu lernen und sich erfolgreich an veränderte Aufgaben und Anforderungen anzupassen, schon allgemein unterschätzt wird, werden Hinweise auf die Plastizität bei Menschen mit Beeinträchtigungen – im kognitiven wie im sozioemotionalen und alltagspraktischen Bereich – infolge von Wissensdefiziten und unzutreffenden Stereotypen noch häufiger übersehen. Bildungs-, Interventions- und Rehabilitationsangebote finden sich nach wie vor zu selten, bestehende Angebote sind nach wie vor häufig nicht ausreichend fundiert. Gleichzeitig gewinnen bei alten Menschen mit Beeinträchtigungen die Gestaltung der räumlichen Umwelt und Maßnahmen zur Förderung von Inklusion und Teilhabe ( Kap. 5.8 und Kap. 23) besonderes Gewicht.

In Arbeiten zur Entstehung von Verhaltensabhängigkeit in stationären Einrichtungen wurde im Arbeitskreis von Margret Baltes (1995) nachgewiesen, dass diese häufig gerade nicht Folge irreversibler biologischer Veränderungen ist, sondern vielmehr auf Erwartungen des Pflegepersonals und Verhaltensskripts zurückgeht, die selbstständiges Verhalten ignorieren und unselbstständigkeitsorientiertes Verhalten systematisch verstärken. Auf der Grundlage dieser Arbeiten wurde ein Trainingsprogramm entwickelt, das insbesondere auf die Vermittlung von Kenntnissen im Bereich der Verhaltensmodifikation und die Veränderung von Altersstereotypen zielt und in zahlreichen stationären Einrichtungen mit Erfolg eingesetzt wurde.

Praxishandbuch Altersmedizin

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