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5.6.3 Multidimensionalität von Entwicklungsprozessen

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Einfache Defizitmodelle, die von einem allgemeinen, altersbedingten Abbau der Person, ihrer physischen wie kognitiven Leistungsfähigkeit sowie ihrer Anpassungsunfähigkeit an neuartige Situationen ausgehen, können heute als eindeutig widerlegt gelten. Wie in jedem Lebensabschnitt ist auch im Alter Entwicklung sowohl mit Gewinnen und Stärken als auch mit spezifischen Verlusten und Defiziten verbunden. Altern kann nicht als eindimensionaler, unidirektionaler Prozess beschrieben werden, vielmehr sind unterschiedliche Entwicklungsdimensionen konzeptuell zu trennen, auf denen sich Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedene Richtungen verändern. Diese Multidimensionalität von Entwicklung im Lebenslauf spiegelt sich im Alter in verschiedenartigen, zum Teil sehr stark voneinander abweichenden Entwicklungsprozessen in der körperlichen, der seelisch-geistigen und der sozialen Dimension wider.

Aus gerontologischer Perspektive ist Altern sowohl im Sinne von Stärke und Gewinn als auch im Sinne von Schwäche und Verlust zu interpretieren. Schwächen oder Verluste finden sich vor allem in jenen Funktionen, in denen sich Alternsprozesse des Zentralnervensystems widerspiegeln: Präzision und Geschwindigkeit der Ausführung sensomotorischer Abläufe gehen zurück, die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung nimmt ab, das Lernen wird – infolge einer allgemein reduzierten Fähigkeit, irrelevante Informationen zu hemmen, wie infolge negativer Transfers (Umlernen ist schwieriger als neu lernen) – störanfälliger. Diese Veränderungen sind allerdings nicht erst im höheren Alter, sondern bereits im dritten Lebensjahrzehnt zu beobachten (Salthouse 2019). Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass das Ausmaß an kognitiver und körperlicher Aktivität in früheren Lebensaltern und im Alter Einfluss auf den Ausprägungsgrad dieser Verluste hat (Liu und Lachmann 2019).

Die durch zahlreiche Untersuchungen bestätigte Verkleinerung sozialer Netzwerke wurde lange (und wird zum Teil bis heute) im Sinne von Verlusten auf der sozialen Dimension, insbesondere auf das Fehlen geeigneter Altersrollen zurückgeführt ( Kap. 5.8 und Kap. 23). Neuere Untersuchungen belegen aber, dass sich in dieser kontinuierlichen Entwicklung, die ebenfalls nicht erst im höheren Alter einsetzt, nicht lediglich Verluste, sondern zu einem guten Teil auch Optimierungsprozesse widerspiegeln, Menschen nicht einfach Bezugspersonen verlieren, sondern sich vor allem auf persönlich wichtige Beziehungen konzentrieren (Sims et al. 2015).

Stärken oder Gewinne des Alters zeigen sich vor allem in jenen kognitiven und psychischen Funktionen, in denen sich in besonderer Weise Erfahrungen widerspiegeln, die Menschen im Lebenslauf gewonnen haben. Die kontinuierlichen Rückgänge in der Geschwindigkeit und Präzision basaler Prozesse der Informationsverarbeitung sind nicht gleichbedeutend damit, dass im Alter keine differenzierten Wissenssysteme mehr bestünden. Menschen sind vielmehr bis in das hohe Lebensalter in der Lage, hoch organisierte Wissenssysteme – zum Beispiel im Hinblick auf grundlegende Fragen des Lebens – aufzubauen, wobei die bewusste Auseinandersetzung mit Grenzsituationen für die Weiterentwicklung solcher Wissenssysteme von zentraler Bedeutung ist (Kruse 2017). Des Weiteren kann die Verletzlichkeit des Menschen im vierten Lebensalter Prozesse der seelisch-geistigen Verarbeitung anstoßen, die sich aus ethischer Sicht auch im Sinne eines »Werdens zu sich selbst« (Rentsch 1995) deuten lassen.

Ob und inwieweit bestehende Potenziale des Alters erkannt und genutzt werden – zum Nutzen des Individuums, wie auch zum Nutzen für die Gesellschaft – ist in starkem Maße durch die Wahrnehmung von Alter, Altern und alten Menschen – den Altersbildern–, beeinflusst. Auf der Grundlage von Altersbildern können Erwartungen und Verhaltensspielräume entstehen, die im günstigen Fall Möglichkeiten von Teilhabe und Engagement eröffnen und deutlich machen, die Menschen zu einer selbstständigen, selbst- und mitverantwortlichen Lebensführung und bewussten Annahme unvermeidlicher Abhängigkeiten motivieren, im ungünstigen Fall dagegen nicht nur die Nichtnutzung, sondern langfristig auch den Verlust von Kompetenzen zur Folge haben (Kruse und Schmitt 2011). Der sechste Altenbericht der Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft nach wie vor Altersbilder erkennbar sind, die den Kompetenzen alter Menschen nicht gerecht werden und der Bewältigung von individuellen wie auch gesellschaftlichen Herausforderungen des Alterns entgegenstehen.

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