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5.6.6 Der evolutionäre Kontext sozialer und emotionaler Entwicklung im Alter

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Bis heute findet sich in vielen gerontologischen Darstellungen des Kontextes der sozialen und emotionalen Entwicklung die Annahme, Prozesse evolutionärer Selektion hätten sich nicht wesentlich auf Entwicklungsprozesse im hohen Alter auswirken können, da das Alter 1. evolutionär betrachtet ein »junges« Phänomen sei, und 2. der evolutionäre Selektionsdruck keine Auswirkungen auf die postreproduktiven Lebensjahre hat. So sind etwa nach Paul Baltes (1999) drei Prinzipien für die Unvollendetheit der Humanontogenese konstitutiv: Der genetische Evolutionsvorteil wird im Lebensverlauf geringer, der Bedarf an Kultur nimmt zu, die Effektivität von Kultur nimmt ab. Angesichts des Fehlens evolutionärer Mechanismen, die sich nachhaltig auf die postreproduktive Lebensphase auswirken könnten, wird ein Abbau im Alter als unvermeidlich angesehen. Im Prozess des Alterns stelle sich entsprechend die Aufgabe, mehr und mehr Ressourcen in den Erhalt von Fähigkeiten und die Kompensation von Verlusten zu investieren, was sich auch in einem entsprechenden Lebensspannenskript der Allokation von Ressourcen widerspiegle. Im Alternsprozess auftretende Verluste haben nicht selten irreversiblen Charakter. Aus diesem Grunde stünden bei der Lebensgestaltung im Alter andere Mechanismen im Vordergrund als in früheren Lebensjahren. Im SOK- Modell von Baltes und Baltes (1990) werden etwa Selektion und Kompensation, im Zwei-Prozess-Modell der Bewältigung von Brandtstädter akkomodative Prozesse, in der Lebenslauftheorie kontrollbezogenen Verhaltens von Heckhausen und Schulz sekundäre Kontrollprozesse wichtiger. Da 1. Entwicklungsverluste mit zunehmendem Alter häufiger, Entwicklungsgewinne hingegen seltener werden und sich Menschen unabhängig vom eigenen Lebensalter dieser Tatsache bewusst sind, 2. das subjektive Wohlbefinden alter Menschen gleichzeitig aber mit dem jüngerer Menschen vergleichbar – in einigen Untersuchungen sogar besser – ist, liegt es aus der Perspektive der genannten Theorien nahe, im Management von Verlusten einen Bereich zu sehen, in dem sich in besonderem Maße kreative Potenziale des Alters widerspiegeln ( Kap. 5.7).

Zahlreiche empirische Untersuchungen im Umfeld der von Laura Carstensen vorgeschlagenen Theorie der sozioemotionalen Selektivität (English und Carstensen 2017) sprechen dafür, dass im Kontext einer kontinuierlichen Veränderung der Zeitperspektive im Erwachsenenalter (die Zukunft wird mit fortschreitendem Alter zunehmend als begrenzt erfahren) emotionale Ziele gegenüber instrumentellen Zielen an Bedeutung gewinnen. Wenn die verbleibende Lebenszeit in stärkerem Maße als begrenzt erfahren wird, werden unmittelbare Bedürfnisse (wie emotionales Wohlbefinden) wichtiger. Wenn dagegen die Zukunftsperspektive – wie in frühen Lebensabschnitten – als nahezu unbegrenzt erscheint, kommt langfristigen Zielen größere Bedeutung zu. Entsprechend sind alte Menschen in geringerem Maße als jüngere an emotional bedeutungslosen, in anderer Hinsicht (z. B. hinsichtlich der Gewinnung neuer Information) aber unter Umständen bedeutungshaltigen Kontakten interessiert und in ihren sozialen Kontakten stärker durch die gedankliche Vorwegnahme von emotionaler Befindlichkeit motiviert. Des Weiteren verändert sich im Laufe des Erwachsenenalters die Verarbeitung emotional relevanter Informationen (Carstensen und DeLiema 2018). Emotionale Inhalte werden von alten Menschen stärker beachtet, höher gewichtet, effektiver verarbeitet und besser erinnert als nicht emotionale Inhalte, während sich bei jüngeren Menschen kein vergleichbarer Effekt findet.

In diesen sozioemotionalen Gewinnen spiegeln sich der Theorie zufolge nicht lediglich Mechanismen der Verlustbewältigung wider. Die sozioemotionale Entwicklung im Alter wird vielmehr im Kontext der Evolution interpretiert. Wenn man berücksichtigt, dass – anders als von evolutionsbiologisch interessierten Gerontologen häufig angenommen – bereits in der Vor- und Frühzeit ein erheblicher Teil der Erwachsenenbevölkerung eine ausgedehnte postreproduktive Lebenserwartung hatte und die Großeltern aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei den Vorfahren des heutigen Menschen eine wesentliche Rolle bei der Erziehung kleiner Kinder hatten, dann scheint es naheliegend, dass sich die evolutionäre Selektion sehr wohl auf das Alter ausgewirkt hat. Allerdings dürfte der Bereich der kognitiven Leistungsfähigkeit, der immer wieder als Beleg für die Unvollendetheit der Humanontogenese angeführt wird, hier weniger bedeutsam gewesen sein, da in der Frühzeit des Menschen die Kapazität, auch im fünften oder sechsten Lebensjahrzehnt noch schnell und effizient Neues lernen zu können, wohl keinen oder nur einen geringen Überlebensgewinn (für die gesamte Verwandtschaftssippe) mit sich brachte. Im Gegensatz dazu könnte die evolutionäre Selektion aber durchaus die Fähigkeit alter Menschen begünstigt haben, anderen kompetent zu helfen und eigene Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben.

Mit der allgemein stärkeren Beachtung und Gewichtung emotionaler Inhalte gewinnt in dieser Sichtweise auch das Bedürfnis an Bedeutung, sich für das Wohlergehen anderer Personen einzusetzen, persönliche Erfahrungen weiterzugeben und Bleibendes zu schaffen. Gleichzeitig sind alte Menschen infolge ihrer höheren Sensibilität für emotionale Inhalte zum Teil besser als Jüngere in der Lage, Welt- und Beziehungswissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben und zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln.

Praxishandbuch Altersmedizin

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