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5.9.2.2 Resilienz als Dynamik von Vulnerabilität und protektiven Mechanismen
ОглавлениеRutter (2012) sieht die Quelle der Resilienz-Forschung vor allem in vier Befunden: (1) Es finden sich in Hoch-Risiko-Populationen stark ausgeprägte Unterschiede in den Entwicklungsresultaten. (2) Die spezifische Persönlichkeit – die nicht nur im Sinne von stabilen Eigenschaften, sondern auch im Sinne von Veränderungsprozessen zu verstehen ist – beeinflusst die Reaktion des Individuums auf eine Stresssituation, und dies bedeutet, dass es weniger um die Frage geht, welche Risikofaktoren überhaupt Wirkung entfalten, sondern vielmehr um die Frage, wie diese Risikofaktoren in einem Individuum wirken. (3) Die spezifischen Person-Umwelt-Interaktionen – speziell im zeitlichen Umfeld von Wendepunkten im Lebenslauf – besitzen große Bedeutung dafür, inwieweit Entwicklungsanforderungen bewältigt werden oder nicht. (4) Überhaupt ist die Bewältigungsforschung wichtig für ein erweitertes Verständnis von psychischer Widerstandsfähigkeit (Rutter 2012). Rutter hebt weiter hervor – und dies ist für das Verständnis von Vulnerabilität wichtig –, dass die Suche nach einzelnen Risikofaktoren, die direkten Einfluss auf die psychische Situation eines Individuums ausüben, wertlos ist. Vielmehr muss es darum gehen, die Wechselwirkung zwischen einzelnen Risikofaktoren einerseits sowie psychischen und sozialen Ressourcen des Individuums andererseits zu erfassen: Erst die Abbildung dieses Interaktionsprozesses lässt uns nämlich verstehen, warum die eine Person in einer Risikosituation psychische Auffälligkeiten zeigt, die andere Person hingegen nicht. Das Konstrukt der Resilienz wird von Rutter (1990) als ein sehr weites verstanden, das – wenn empirische Forschung betrieben werden soll – durch deutlich spezifischere und enger definierte Konstrukte ergänzt werden muss; hier schlägt er die Konstrukte »Vulnerabilität« und »protektive (schützende) Mechanismen« vor. Vulnerabilität wie auch protektive Mechanismen modifizieren die Antwort eines Menschen auf eine Risikosituation. Sie können die Antwort auf diese Situation noch einmal intensivieren (dies ist bei der Vulnerabilität der Fall) oder aber deutlich lindern (dies ist bei den protektiven Mechanismen der Fall). Das heißt: Vulnerabilitäts- oder Schutzeffekte sind keine direkten, sondern eher indirekte Effekte. Und weiter: Ob der Verarbeitungs- und Bewältigungsprozess zur Verstärkung oder Abschwächung einer Risikosituation führt, hängt nicht notwendigerweise davon ab, ob die auf diesen Verarbeitungs- und Bewältigungsprozess einwirkenden Merkmale (zum Beispiel Einstellungen und Überzeugungen des Individuums) allgemein positiv oder negativ eingeschätzt werden, ob diese mit Wohlbefinden einhergehen oder nicht. In den Worten von Michael Rutter: »Schutz ist nicht eine Frage angenehmer Erlebnisse oder sozial erwünschter Qualitäten des Individuums. Wir suchen hier nicht nach Faktoren, die mit Wohlbefinden einhergehen, sondern vielmehr nach Prozessen, die uns vor Einflüssen von Risikomechanismen schützen« (Rutter 1990, S. 186). Es geht also in der Vulnerabilitäts- und Resilienzforschung nicht um die Identifikation einzelner Faktoren, die die Verarbeitung und Bewältigung einer Situation erschweren oder fördern. Vielmehr steht der gesamte Prozess der Verarbeitung und Bewältigung im Zentrum des wissenschaftlichen (und praktischen) Interesses, die Dynamik der Persönlichkeit (Thomae 1966), im Zentrum des wissenschaftlichen (und praktischen) Interesses.
Diese Dynamik wird vor allem im zeitlichen Umfeld von Wendepunkten offenbar: Denn gerade in solchen Übergängen bestimmen Schutz- oder Vulnerabilitätskonstellationen mit, in welche Richtung der Entwicklungspfad weist. Wenn ein Entwicklungspfad, der zunächst in hohem Maße »risikobehaftet« erschien, in einer Übergangsphase (Beispiele: Auszug eines Jugendlichen aus dem Elternhaus, Eintritt einer älteren Mitarbeiterin oder eines älteren Mitarbeiters in die Rente, Beendigung eines Pflegeverhältnisses aufgrund des Umzugs der pflegebedürftigen Person in ein Heim) in eine positive Richtung weist und nach und nach günstige Entwicklungsergebnisse hervorbringt, dann haben wir es mit einer Schutzkonstellation zu tun: Gerade in einer subjektiv bedeutsamen Lebenssituation – zu denen Wendepunkte oder Übergänge zu zählen sind – können schützende Mechanismen greifen, die der Entwicklung des Individuums eine veränderte (in diesem Falle: positive) Richtung geben. Dafür ist, um bei den oben genannten Beispielen zu bleiben, zum einen die Fähigkeit zur inneren Ablösung von einer Lebensphase, einer vertrauten Form der Alltagsgestaltung, einem vertrauten sozialen Umfeld verantwortlich zu machen. Zum anderen ist die rechtzeitig begonnene, auf gedanklicher und emotionaler Ebene geleistete Vorbereitung auf einen solchen Übergang wichtig. Schließlich ist ein soziales Netzwerk hilfreich, das Anregungen, aber auch instrumentelle oder emotionale Unterstützung bietet. Doch genügt die Identifikation einzelner Faktoren, die sich positiv auf die Verarbeitung und Bewältigung auswirken, nicht. Vielmehr ist auch die Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren in einem Prozess der Neuorientierung zu erfassen. Mit Blick auf die Vulnerabilitätskonstellation und ihrer Wirkung auf den weiteren Entwicklungspfad stellt Michael Rutter fest: »Der Prozess ist als Vulnerabilitätsprozess zu bezeichnen, wenn ein ursprünglich adaptiver Entwicklungspfad in einen negativen Pfad umschlägt » (Rutter 1990, S. 187). Es ist durchaus möglich, dass ein Individuum optimistisch in einen Übergang eintritt, dass es aber allmählich erkennen muss, innerlich und äußerlich auf diesen nicht ausreichend vorbereitet zu sein, das heißt, nicht die inneren und äußeren Bedingungen geschaffen zu haben oder vorzufinden, die für eine produktive Anpassung notwendig gewesen wären. Bisweilen schätzen Menschen ihre inneren und äußeren Ressourcen zum produktiven Umgang mit einer Situation falsch ein und erkennen nicht, dass bei ihnen aktuell eine besondere Vulnerabilitätskonstellation gegeben ist. Wenn diese die Handlungskapazitäten (im Sinne der Verarbeitung und Bewältigung der Situation) des Individuums übersteigt, dann können sich mittel- oder langfristig negative Entwicklungsresultate einstellen, so zum Beispiel gesundheitliche oder psychische Störungen, Probleme in den Beziehungen zu anderen Menschen, Rückgänge in der Leistungsfähigkeit und Kreativität.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Resilienz auch dazu beitragen kann, dass gerade kein Wendepunkt eintritt: Die kontinuierlich geleistete, produktive Anpassung kann die Stabilität der inneren und äußeren Lebensbedingungen soweit fördern, dass bestimmte Wendepunkte, die mit besonderen Risiken für die weitere Entwicklung verbunden sind, ausbleiben (Brandtstädter 2007a).
Welche Mechanismen sind als »vermittelnde« Schutzmechanismen näher ins Auge zu fassen? In seiner eigenen Forschung hat Rutter vor allem vier Mechanismen identifiziert, denen große Bedeutung im Sinne von potenziellen Schutzmechanismen beizumessen ist:
(1) Kontinuierliche Verringerung des Risikoeinflusses:
In der Auseinandersetzung mit der Belastung können Menschen erfolgreich sein und psychisch »wachsen«; in diesem Falle wird der Risikoeinfluss allmählich reduziert. (Hier zeigt sich übrigens wieder die Sinnhaftigkeit der Integration von Vulnerabilitäts- und Potenzialperspektive.) Zudem kann ein als bedrohlich erlebtes Ereignis von einem positiven Ereignis begleitet werden, oder das positive Ereignis folgt unmittelbar auf das als bedrohlich erlebte Ereignis. Damit kann eine »neutralisierende« Wirkung einhergehen, da das positive Ereignis das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen stützt.
(2) Verringerung negativer Kettenreaktionen:
Jene Menschen, bei denen eine Vulnerabilitätskonstellation vorliegt, neigen dazu, Reaktionen anderer Menschen negativ zu beeinflussen, so zum Beispiel in Richtung auf eine pessimistische Deutung des Ausgangs einer Situation. Diese pessimistische Deutung wiederum wirkt auf das in einer spezifischen Situation vulnerable Individuum zurück. Eine wichtige Strategie besteht darin, sich solche Kettenreaktionen bewusst zu machen und diese ausdrücklich zu vermeiden, indem man selbst keine unangemessen pessimistischen Informationen gibt. Zudem können andere Menschen dadurch helfen, dass sie auf die negativen Informationen mit einer eher optimistischen Deutung antworten, wenn diese denn gerechtfertigt ist.
(3) Förderung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit:
Diese kann man durch emotional sichere und unterstützende persönliche Beziehungen ausbilden oder wiedergewinnen, wie auch durch die erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen, Anforderungen und Belastungen, in der man positive Erfahrungen gewinnt. Gerade hier zeigt sich – und dies wird von Rutter (2008) besonders hervorgehoben –, dass Belastungen nicht per se negative Konsequenzen haben müssen und somit nicht grundsätzlich negativ konnotiert sein sollten.
(4) Gelegenheitsstrukturen:
Damit sind Wendepunkte angesprochen, die ihrerseits positive Erfahrungen vermitteln und positive Entwicklungen anstoßen können (siehe die oben genannten Beispiele).